Michael Braun / Werner Kamp (Hrsg.) Kontext Film 2006, 219 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 14,4 x
21 cm, kartoniert Seit Jahrzehnten beschäftigt man sich nicht nur im Rahmen der vergleichsweise jüngeren Filmwissenschaft mit dem Medium Film, sondern auch in der Literaturwissenschaft. Vor allem Beiträge zum Medienwechsel zwischen Literatur und Film, zur Literaturverfilmung, prägten die Beschäftigung dieser Disziplin mit dem audiovisuellen Medium. Die grundsätzliche Eigenständigkeit des Films, der mit völlig unterschiedlichen Mitteln als die Literatur arbeitet, war jedoch eher selten Thema in diesem Kontext. Der nun vorliegende Sammelband "Kontext Film" versucht, sich dem Medium Film interdisziplinär und "methodischer eher undogmatisch", "pragmatisch" zu nähern (S. 9). Man strebe keinen Vergleich der Medien an (S.7), sondern das Ziel sei es, "jenseits der Werktreue-Debatten, die immer noch und immer wieder mit stupender Polemik von beiden Seiten geführt werden, das Verhältnis von Film und Literatur zu kategorisieren und zu katalogisieren. Es geht um das ästhetische Potential, das sich für 'Film' und 'Literatur' aus der wechselseitigen Reibung ergeben kann" (S.8). Nun, vorweg sei gesagt, dass dieser Band weder eine "Kategorisierung" noch eine "Katalogisierung" dieses Verhältnisses leistet. Man müsste sich auch fragen, was man damit anfangen könnte. Vielmehr bietet er unterschiedlichen Ansätzen im Umgang mit Film ein Forum: der Genreperspektive, dem komparatistischen Ansatz, dem soziologischen Blick auf Film usw. Und wie in den meisten Bänden dieser Art finden sich hier einige erstaunliche und spannende Entdeckungen, aber auch zahlreiche überflüssige und sogar etwas rückständige Perspektiven. Erstaunlich ist zunächst der bereits in der Einleitung deutlich werdende unvollständige Überblick, der den Überlegungen zugrunde liegt: So wird von den jüngsten "Kanonisierungsversuchen" (S.9) bezüglich des Films gesprochen: "zwischen Orientierungshilfe (Bundeszentrale für politische Bildung), Empfehlung (Universität Marburg) und persönlichen Vorlieben (Filmbibliothek der Süddeutschen Zeitung)." Dazu ist zu sagen, dass es vor all dem einen großen Ansatz der Kanonisierung gibt: die von Thomas Koebner initiierte mehrbändige Reihe "Filmgenres" im Reclam-Verlag, und natürlich der ebenfalls von Koebner herausgegebene Bestseller "Filmklassiker" (inzwischen 5 Bände). Dagegen wird der in Fachkreisen äußerst umstrittenen "Filmkanon"-Auswahl für die Schulen eine unreflektierte Bedeutung beigemessen. Wenn der vorliegende Band sich vor allem an "Erfordernissen des Umgangs mit Film an Schulen und Hochschulen" orientiert, muss man erst recht fragen, warum den Lehrern und Schülern gerade der Hinweis auf die naheliegendste und zugänglichste wissenschaftliche Literatur verwehrt wird. Dieser Vorbehalt gilt nicht den einzelnen Beiträgen, die durchaus eigene Wege suchen. Werner Kamp untersucht auf pragmatische aber einleuchtende Weise die Dramaturgie von Stanley Kubricks EYES WIDE SHUT. Interessant ist dabei seine Idee von Kippbild-Inszenierungen. Michael Braun untersucht einige Kafka-Adaptionen, wobei er durchaus die oft unterschätzte Qualität von Orson Welles LE PROCÉS (1962) würdigt, und Soderberghs KAFKA deutlich mehr abgewinnen kann als dem "konventionelleren" THE TRIAL 1993) von David Hugh Jones. Es ist sehr schade, dass gerade Michael Hanekes radikalere Version von DAS SCHLOSS unerwähnt bleibt, ebenso wie der konsequent visionäre Kurzfilm ZOETROPE (1999) von Charlie Deaux, einer Adaption von "In der Strafkolonie". So bleibt auch diese vergleichende Betrachtung wenig überraschend. Lothar von Laak untersucht "Die Episierung des Romans durch den Film" am Beispiel von Margarethe von Trottas JAHRESTAGE. Hier wird erneut deutlich, wie sehr der reduzierte filmische Stil von von Trotta (und auch Volker Schlöndorffs) der komparatistischen Perspektive des Literaturwissenschaftlers entgegenarbeitet. Die Abwägung der Medien gerät hier unversehens wieder ins Zentrum der Betrachtung. Matthias Knopp dagegen beleuchtet einen völlig anderen Aspekt an Fatih Akins Beziehungsdrama GEGEN DIE WAND: Hier werden die "Identitäten zwischen den Kulturen" deutlich, und der Text schafft es sehr nachvollziehbar, die Identitäskonstruktionen der Inszenierung deutlich zu machen. Oliver Jahraus dagegen untersucht die "Totalität und Transzendenz" vor allem in amerikanischen Mainstreamfilm: PULP FICTION, NATURAL BORN KILLERS und THE MATRIX dienen ihm als Beispiele, doch auch ein Michael Jackson-Videoclip taucht hier auf. Die Suche nach religiösen Subtexen ist nicht neu, und auch die Beispiele wurden bereits ausufernd diskutiert. Während hier ein Gutteil der MATRIX-Literatur Erwähnung findet (wenn auch gerade die spannende Untersuchung über SF und Religion "Wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist" ausgespart wird), bleiben gerade die prägnanten Positionen der deutschen Filmwissenschaft zu Oliver Stone völlig unerwähnt. Hier hätte man weiter gehen können - und vermutlich müssen. Manfred Rüsel wagt sich in "Identitätskonstruktionen im neusten deutschen Film" weniger weit vor, es gelingt ihm aber nachdrücklich, sein Thema an Filmen zwischen 2003 und 2004 zu verdeutlichen. Hier wird eine ganz spezifische Qualität des deutschen Kinos deutlich, die leider nicht garantiert, dass die besagten Filme auch öffentlich gewürdigt werden. Aber das ist ein anderes Problem. Mit Achim Korres Text "Napoleon - filmische Konstruktion einer historischen Figur" geht man dann konsequent in der Filmgeschichte zurück. Was jüngst an der medialen Reflexion Hitlers unternommen wurde, wird hier an NAPOLEONS filmischen Gesichtern ausgeführt. Eine kurze, aber nachvollziehbare Analyse. Spätestens hier wird die waghalsige Themenauswahl des Bandes deutlich: Sabine Franke untersucht nun in "Die Mobilmachung des kolossalen Kindes" die filmischen Adaptionen von EMIL UND DIE DETEKTIVE und kann den Wertewandel über die Jahrzehnte hinweg verdeutlichen, bevor sich Jörg von Brincken der "Präsentation des Bösen im modernen Horrorfilm" zuwendet. Dieser vergleichsweise umfangreiche Text (S. 147-171) beweist eine große Kennerschaft und ein hohes Reflexionsniveau im Umgang mit der ebenfalls bereits stark bearbeiteten Materie. In seiner argumentativen Dichte ist der Text ein auffälliger Höhepunkt des Bandes und in jedem Fall einen Blick wert. Vor allem auch, weil hier gerade eine 'Wertediskussion' ausbleibt und das Horrorgenre ungeachtet seiner ursprünglichen literarischen Quellen als filmischer Kontext ernst genommen wird. Statt dessen werden philosophische Akzente hinzugezogen und ein sehr genauer Blick auf filmische Inszenierung geworfen, der nicht den pragmatischen Rückgriff auf eine protokollartige Darstellung nötig hat. Möglicherweise vor von Brincken hätte man den folgenden Beitrag "Vampir und Voyeur" zur "selbstreflexiven Inszenierung von Angst- und Schaulust" anordnen können, denn hier wird wiederum eher an den Ursprüngen gearbeitet, was angesichts eines transmedial vielschichtigen Werkes wie SHADOW OF A VAMPIRE (2000) jedoch auch notwenig ist. Des weiteren stehen Coppolas und Jordans Vampir-Etüden im Zentrum - für die Thematik ist der Text also zugleich resümierend und fruchtbar. Zum Abschluss widmet sich Volker Wehdeking dem unvermeidlichen Volker Schlöndorff zu, der mit seinen zahlreichen Literaturadaptionen weiterhin dem Ruf gerecht wird, er drehe seine Filme direkt für den Deutschunterricht. Auch hier ist die selektive Literaturauswahl nicht immer einleuchtend, zumal sich Schlöndorff mit DER UNHOLD und speziell DER NEUTE TAG im Kontext des Holocaust-Kinos bewegt, das eine eingehende Diskussion erfahren hat. Abschließend bleibt zu sagen, dass "Kontext Film" ein erstaunlich unentschlossener und nicht immer einleuchtend konzipierter Band ist, der ebenso spannende wie auch durchschnittliche Ansätze unter einem Dach vereint - eine akademische Wundertüte, die gelegentlich hinter dem postulierten Anspruch zurückbleibt. Dazu fehlt - leider - der didaktische und methodische Zug. Marcus Stiglegger
|
|