Georg Seeßlen
Die MATRIX entschlüsselt Bertz Verlag, Berlin, ISBN: 3-86505-151-0, 352 Seiten, 85 Abbildungen (alle schwarz-weiß) Im letzten Jahr des alten Jahrtausends kam mit THE MATRIX ein Film in die Kinos, der wie kaum ein anderer vor ihm Maßstäbe setzte. Durch den visuell atemberaubenden Stil, der mittels innovativer Techniken – wie der „bullet time“ (Bewegungsstudie in Extremzeitlupe) – ermöglicht wurde und durch die narrative Vielschichtigkeit, war THE MATRIX nicht nur für das Popcorn-Publikum des Blockbusterkinos, sondern auch für Arthaus-Liebhaber und sogar Wissenschaftler diverser Fachrichtungen interessant. Der Film beschäftigte Menschen auf den unterschiedlichsten Ebenen und so wurden Fan-Foren im Internet eröffnet, Neos Bewegungen in Kampfsportschulen imitiert, wissenschaftliche Symposien abgehalten und an Universitäten unter verschiedensten Gesichtspunkten über die Matrix diskutiert. Im Jahr 2003 starteten dann die beiden Fortsetzungen (MATRIX RELOADED und MATRIX REVOLUTIONS) der von Anfang an als Trilogie geplanten Matrix-Serie. Äußerst zeitnah zu diesen Kinostarts bringt der Berliner Bertz-Verlag nun ein Paperback von Georg Seeßlen auf den Markt, das den sehr ambitionierten Titel „Die Matrix entschlüsselt“ trägt. Seeßlen, von dem im Jahr 2002 im Schüren Verlag ein opulentes, zweibändiges Science Fiction-Lexikon erschienen ist, bezieht dabei bereits alle Teile der Matrix-Trilogie in seine Untersuchungen mit ein. Rein äußerlich erscheint das Buch in den Farben der Matrix (schwarz, weiß und grün). Ein Zahlenvorhang durchzieht jede Seite von oben nach unten – ähnlich den vielen Schriftzeichen, die in den Filmen über die Leinwand flimmern. Seeßlen lässt den Leser also sehen, dass er die Matrix geistig durchdringen möchte. Die Abbildungen sind allesamt schwarz-weiß und eher spärlich, was das Buch ganz im Gegensatz zu den Filmen nicht gerade zur Augenweide werden lässt. Inhaltlich dagegen besticht es durch eine Fülle von Untersuchungen. Der Klappentext beinhaltet einen Ausschnitt, der aus dem zweiten Kapitel stammt und exemplarisch sowohl für die Rezeption der Filme, als auch für den Inhalt des Buches steht: „Der Spielplatz MATRIX ist für alle offen: für Philosophen und Computerfreaks, für Martial-Arts-Fans, Entschlüsselungsfetischisten und Liebhaber von Sonnenbrillen. Aber ein offenes System ist noch lange kein System der Beliebigkeit. Deshalb besetzen die MATRIX-Filme auch, bei aller Verspieltheit, einen sehr konkreten Punkt in unserer Geschichte von Technologie und Politik, Kultur und Wahrnehmung.“ Der Autor macht hier deutlich, dass das Matrix-Phänomen auf vielen Ebenen rezipiert und erforscht werden kann. Und genau an diese Prämisse hält sich Seeßlen: er präsentiert dem Leser ein breit gefächertes Spektrum an Themen. Nach einer kurzen Einleitung wird der Stand des SF-Kinos im Cyberspace-Alter fokussiert. Der Einsatz und die Wahrnehmung von High-Tech und Low-Tech in der Bevölkerung und im Kino wird ebenso durchleuchtet wie die Beschaffenheit künstlicher Welten. Aus dem nächsten Buch-Abschnitt stammt der oben zitierte Teil des Klappentextes. Hier stehen literarische und filmische Vorlagen, das Leben der Brüder Larry und Andy Wachowski (die Regisseure der Matrix-Trilogie), sowie ästhetische Aspekte im Vordergrund. Die ersten beiden Teile der Trilogie werden anschließend nacheinander in ausführlicher Form behandelt. Einflüsse auf die Filme (beispielsweise Cyberpunk, Grunge, Comics, Animes, etc.) werden hier thematisiert. Im Mittelpunkt dieser Kapitel stehen aber jeweils äußerst gelungene Plot-Summaries, die sich nicht auf das reine Nacherzählen der Handlungen beschränken, sondern weiterführende Interpretationen und Denkanstöße liefern. Mit den Untersuchungen zu ANIMTARIX, einer Sammlung von neun kürzeren Animationsfilmen, die den Matrix-Kosmos erweiterten, zeigt sich, dass nicht nur die Film-Trilogie, sondern auch die „Side-Projects“ ihre Beachtung in Seeßlens Buch finden. Beweis hierfür ist auch die Besprechung des Computerspiels ENTER THE MATRIX. Sehr interessant ist das anschließende Kapitel über die Ästhetik der Matrix. Hier zeigen sich neben „visuellen“ Beobachtungen zu Architektur, Psychotektur oder dem Gottesblick der Kamera, auch Argumente für eine subjektive Zeit, die u. a. durch die Effekte der „bullet time“ nicht mehr klassische Erzählzeit sein kann. Die nun folgenden Kapitel bilden das Herzstück von „Die Matrix entschlüsselt“. In ungefähr gleich langen Abschnitten entblättert Georg Seeßlen die Politik, die Philosophie und die Religion der Matrix. Im politischen Bereich zieht er Parallelen zwischen den an Nabelschnüren gefangenen Menschen in der Matrix, die in ihren Kokons mit aus Toten gewonnen Nährlösungen gefüttert werden, und der Gefangenschaft der Menschen in der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Die Matrix als Simulation ist für den Autor ebenfalls Abbild unserer Gesellschaft; Soap-Operas und Big Brother-Sendungen spiegeln beispielsweise den vorhandenen Wunsch der Menschen nach einer Simulation des „Alltags“ wider. Besonders ausgiebig wird die Philosophie der Matrix behandelt. Ob Leibniz, Hume, Kant oder Nietzsche, von jedem dieser Philosophen wird ausgiebig Lehre und Verbindung zur Matrix-Trilogie untersucht. Seeßlen geht sogar soweit, dass für ihn bestimmte Figuren aus der Matrix die Geisteshaltung von Philosophen verkörpern und sie dadurch auch als Alter-Ego fungieren (Morpheus=Leibniz, Trinity=Hume...). Weitere wichtige Themen innerhalb der philosophischen Untersuchungen sind die unterschiedlichen Formen der Wahrheit, die Manipulation in diversen Bereichen, das „Selbstbewusstsein“ und die Unterschiede von Urbild, Abbild und Trugbild. Auch im religiösen Interpretationsrahmen bewegt sich der Autor von „Die Matrix entschlüsselt“ auf verschiedenen Pfaden. Er sieht in der Zerstörung der ersten (perfekten) Matrix die Vertreibung aus dem Paradies im biblischen Sinn, die aber von den Bewohnern selbst gewollt war. Weiterhin zieht er Parallelen zur gnostischen Lehre, wodurch Morpheus als Verführer zur Wahrheit fungiert und der „Architekt“ als böser Schöpfergott „Demiurg“ interpretiert werden kann. Neben abendländischen Religionen bezieht der Autor auch fernöstliche Glaubensrichtungen mit ein und findet sowohl im Taoismus als auch im Buddhismus zahlreiche wichtige Relationen zur Matrix-Trilogie. Die religionskritischen Schriften Nietzsches stellen eine weitere Quelle für die Analyse dar. Erst im vorletzten Kapitel widmet sich Georg Seeßlen ausgiebig dem dritten Matrix-Teil: MATRIX REVOLUTIONS. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Film beinahe zeitgleich mit Erscheinen von „Die Matrix entschlüsselt“ in die Kinos kam und deshalb vermutlich nicht allzu viel Zeit für eine textliche Einbettung blieb. Dennoch wird auch hier auf eine stupide Nacherzählung der Handlung verzichtet und, ähnlich wie bei den anderen beiden Plot-Zusammenfassungen, Verbindungen zu Religion und Philosophie geknüpft. Abschließend stellt der Autor die wichtige Frage: „Was also ist die Matrix?“ Und in diesen letzten Seiten finden sich nochmals hochinteressante Interpretationsmöglichkeiten und Statements zum Projekt MATRIX. „Die Matrix entschlüsselt“ ist durch die Fülle der Informationen und durch den Tiefgang der Analysen ein äußerst gelungenes Buch. Georg Seeßlen versteht es, sowohl mit nackten Daten und Fakten als auch mit fundierten wissenschaftlich-analytischen Gedanken die Matrix-Trilogie und deren „Ableger“ zu erfassen. Dabei steigern sich beständig Anspruch und Entschlüsselungsgrad. Morpheus sagt im ersten Trilogie-Teil zu Neo: „You take the red pill... and I show you how deep the rabbit hole goes.” Seeßlen legt uns diese rote Pille („...der Griff nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis“ – wie er schreibt) portionsweise in den Mund. Am Ende des Buches erlaubt er dem Leser, den Kopf in den Nacken zu legen und die Erkenntnis genüsslich in sich aufzunehmen. Christian Seifert |
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