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Dieser
Text ist die überarbeitete Version eines Textes aus:
Marcus Stiglegger (Hrsg.): Splitter im Gewebe.
Filmemacher zwischen Autorenfilm und Mainstreamkino,
Bender Verlag: Mainz 2001
Marcus Stiglegger
Ein Auge für die Weisheit:
Die filmischen Demonstrationen von
Oliver Stone
„Ich denke in Begriffen von
Leidenschaft und Emotion. Man sollte mich nicht nur als politisch definieren,
denn das ist nur Teil meines Werkes. Es geht um die Wahrheit und die Suche
nach der Wahrheit. Und die Leidenschaft, die sie erweckt.“
(Oliver Stone)
1. WAHRHEIT UND ERKENNTNIS
Oliver Stone als politisches Phänomen ist eine vertrackte
Sache, da seine Position sich klaren Definitionen entzieht - sich angesichts
der Ambivalenz seiner Themen vermutlich auch entziehen muß. Stone
fühlt sich nicht wohl mit jenen, die in ihm einen „liberalen
Linken“ sehen wollen: Im Gespräch mit dem Historiker Harry
Kreisler 1997 äußerte er sich sehr konkret dazu: „Ich
denke, die Erfahrung lehrt einen die Kombination aus Liberalismus und
Konservativismus. Wir müssen progressiv sein und gleichzeitig die
bestehenden Werte achten. Wie müssen die Vergangenheit bewahren wie
wir die Zukunft entdecken müssen. Das ist eine schwierige Balance.
Die Natur der Existenz. Ich glaube nicht an rechts oder links. Ich glaube
nicht an liberal und konservativ. Ich glaube an beides.“
Oliver Stone versucht, durch seine Filme Verantwortung zu übernehmen,
die nicht nur die USA verfehlten, ihren Kindern weiter zu geben. Er will
ebenso auf die Verfehlungen amerikanischer Politik in Vietnam, Amerika,
im Zweiten Weltkrieg aufmerksam machen, wie er das für nötig
hält bezüglich der politischen Verbrechen des Nationalsozialismus',
Stalinismus’ und des Vichy-Regimes. Sein 'Patriotismus' ist kein
konservativer, bewahrender, es ist vielmehr ein utopischer Ausgangspunkt,
der erst jenseits eines möglichen Neubeginns liegen kann - und zugleich
der ebenso kritische wie mythenbewußte Chronismus der Lieder des
archaischen Schamanen. Doch vor einem möglichen Neubeginn liegt die
Reflexion der 'Schuld'. Der Effekt eines Films auf den Zustand eines sozialen
Systems ist gering, das weiss Stone, und dennoch gelang es ihm, mit seinem
sehr direkt politisch agitierenden Werk J.F.K., einen bewußtseinserweiternden
Effekt zu erzielen: Im Zuge der Diskussionen sah sich die Regierung genötigt,
einen Teil der bis dahin unter Verschluss gehaltenen Dokumente an die
Öffentlichkeit frei zu geben... „Ich inszeniere Dramen, die
aufregend sind und unterhaltsam, ein bisschen erzieherisch. Wenn ich die
Welt ändern wollte, würde ich das nicht mit Filmen versuchen,
das ist nur ein indirekter Weg. Ich würde es direkter versuchen und
für ein Amt kandidieren, in die Politik gehen oder Wissenschaftler
werden,“ sagte Stone 1988.
„Wenn ich eine Geschichte
zu Papier bringe, setzte ich voraus, daß sie gelesen wird. Es nimmt
eine gewisse Zeit in Anspruch, sie zu lesen, eine vorgegebene Zeit, nahezu
Realzeit. Bei Filmen hingegen gibt es etwas, das mich fasziniert: Ihr
Transzendenz der Zeit. In einer Sekunde, in einem Bild kann man etwas
sehen, daß man als göttlich oder genial wahrnimmt.“
(Oliver Stone, Berekley 1997)
2. LEIDENSCHAFT UND ERWACHEN
In NATURAL BORN KILLERS erläutert Mickey (Woody Harrelson)
dem Fernsehreporter Wayne Gayle (Robert Downey Jr.) gegenüber seine
Weltsicht: Die gesamte Welt sei Illusion. Der Moment des Erwachsens aus
diesem illusionären „Schlaf“ liege im Töten, den
„Murder is pure.“ In allen Menschen existierten Dämonen,
die sich von deren negativen Energien ernähren, und nur Liebe kann
den Dämon besiegen: „Only love kills the demon!“ - Oliver
Stones Charaktere sind Wanderer auf dieser Grenze zwischen der Illusion
und dem Erwachen. Sie pendeln zwischen der Leidenschaft der Liebe und
den Verlockungen des inneren Dämonen, vereinigen - wie Mickeys Yin/Yang-Tattoo
- Licht und Schatten in ihrem Herzen. Blut wird dabei sowohl zum Symbol
von Verbundenheit und Hingabe wie auch zum brutalen Opfer an den inneren
Moloch, die latente Destruktivität. Wieder und wieder wendet Stone
diese Motive an, dreht und wendet sie im komplexen Geflecht seiner Montage,
als könne nur so mühevoll die verborgene Wahrheit des Sujets
hermeneutisch ans Licht gebracht werden.
Oliver Stones Montagestil, seine Konfrontationsästhetik und die Suche
nach kraftvollen Symbolismen, hat didaktischen Charakter, will den Zuschauer
durchaus manipulieren, leiten und in seiner Meinungsbildung beeinflussen.
Er handelte sich somit häufig die Kritik ein, ein schulmeisterlichen
Regisseur zu sein, der stets die vereinfachende Deutlichkeit der subtilen
Vieldeutigkeit vorzieht. Diese didaktische Ebene seiner Filme, die mit
PLATOON ihren Anfang nimmt, wird jedoch mühelos unterwandert oder
durchbrochen von ebenso komplexen wie ambivalenten Kontrapunkten, die
die meisten seiner Regiearbeiten durchziehen. Ausgeprägter als viele
andere zeitgenössische Hollywoodregisseure reichert er seine Filme
durch die Mehrfachcodierung seiner zunächst scheinbar durchschaubaren,
einfachen Fabeln an, um so eine Rezeption auf unterschiedlichsten Ebenen
zu ermöglichen. THE DOORS, NIXON und HEAVEN AND EARTH funktionieren
ebenso als kraftvolle individuelle Dramen wie auch als sozialpsychologische
oder existenzialphilosophische Reflexionen. Lediglich die brachiale Konfrontation
und Doppelung der jeweiligen Ebenen in der Montage scheint den analytische
Blick zu irritieren. Was unbestreitbar bleibt, ist eine in der Tat ‘bilderstürmerische’
Geste, die ebenso leidenschaftlich wie verzweifelte Suche nach dem stärksten,
dem effektivsten Bild; die Sehnsucht nach einer wahrhaftigen ‘Filmsprache’
also.
„Die „Bestie“
ist ein System, und das kreiert den Mechanismus, durch den die Opposition
ausradiert werden kann. Die Bestie wächst und gedeiht durch Geld.
Das ist die Basis unseres Landes.“
(Oliver Stone, 1997 in Berkeley)
3. VERSCHWÖRUNG
Nie wurde das von seinen Gegnern so benannte ‘Paranoia-Kino’
Oliver Stones offensichtlicher als in J.F.K., seiner filmischen Aufarbeitung
des Kennedy-Attentats. Die hier offengelegten Strukturen und Zusammenhänge
bilden jedoch tatsächlich die Basis seines Weltbildes: Machtgier
und Profitsucht sind der Nährboden für eine Reihe kriegerischer
Konflikte, die eine Gesellschaft in ständiger äußerer
Spannung halten und letztlich von ihren Binnenproblemen ablenken. Laut
Stone und dem Attentatsermittler Jim Garrison, der später von Kevin
Costner durchaus idealisiert verkörpert werden sollte, hätten
sich Vertreter von Kriegswirtschaft, Hochfinanz, Geheimdienst und Politik
gegen den friedlich motivierten Präsidenten Kennedy verworen, um
durch seinen Tod letztlich den Vietnamkrieg, jenen antikommunistsischen
Stellvertreterkrieg, möglich zu machen. Aus diesem Grund hat auch
Kennedys Ermordung nicht nur für Stone symbolischen Charakter: Mit
diesem Präsidenten hat Amerika seine Unschuld, die es im Zweiten
Weltkrieg noch verteidigen durfte, endgültig verloren. Mit dem verheerenden
Einsatz in Vietnam wurden auch amerikanische Soldaten nachweislich und
aktenkundig zu Vergewaltigern und Babymördern. Stones Auseinandersetzung
mit diesem „Fall from Grace“ beginnt in seinem frühen
Roman „A Child’s Night Dream“, den er mit neunzehn Jahren
basierend auf seiner ersten Vietnamreise verfasst hatte. Bereits in den
siebziger Jahren interessierte ihn die Geschichte Ron Kovics, eines gelähmten
Vietnamveteranen, in dessen enttäuschtem Patriotismus sich Stone
wiedererkannte. Erst 1989 sollte ihm die Verfilmung von dessen Schicksal
gelingen, nachdem William Friedkin - dessen Weltsicht Stone durchaus nahesteht,
der aber vergleichsweise subversiver zu Werke geht -daran gescheitert
war.
Mit beständiger Programmatik entwickelte Stone die Perspektive des
resignierten Idealisten und patriotischen Amerikaners fort: Immer wieder
reflektierte er Schuldgefühle bezüglich des Schicksals der Indianer
in Amerika in seinen Filmen, kritisierte den Krieg in Lateinamerika, immer
wieder den Vietnamkrieg, bis er sich schließlich der amerikanischen
Binnestruktur annahm und seine Idee der kriegstreiberisch-kapitalistischen
Verschwörung daran abarbeitete: Die Wallstreet und das Footballstadion
wurden zum obsessiven Kriegsschauplatz, das Scheitern des Watergate-Präsidenten
Nixon geriet bei ihm zum Königsdrama Shakespearschen Ausmaßes.
Als er Leben und Tod eines umstrittenen Radiomoderators in TALK RADIO
verfilmte, erinnerte das Attentat am Ende nicht von Ungefähr an die
tödlichen Schüsse auf den Fernsehquerulanten (Peter Finch) in
Siney Lumets NETWORK (1977): Dort wurden politische Fanatiker von dessen
Vorgesetzten engagiert, um seinem Treiben vor laufenden Kameras ein Ende
zu setzen.
Kulminationspunkt der Stoneschen Paranoia bleibt also J.F.K., da dort
die Keimzelle zur Vergiftung einer ganzen ‘Nation’ zu liegen
scheint. An Ende jeder Bemühung setze man sich doch immer mit der
eigenen Geschichte auseinander, meint Stone. Und seine Geschichte scheint
sich in seinem Idealbild des tollkühnen Ermittlers zu spiegeln, der
ein ganzes politisches System zur Anklagebank führt: „It’s
up to you!“ wird er Garrison mit den Augen in die Kamera sagen lassen.
Sein gesamtes Oeuvre seit SALVADOR hat diesen die Grenze der cinematografischen
Distanz durchbrechenden Blick: Seine Filme sind selbstbewusst-manipulative
Provokationsmaschinerien, die keinen Affekt ungenutzt lassen, den Zuschauer
an den Schultern zu packen und mit all den vergessenen Wunden zu konfrontieren,
die ihn ständig peinigen müßten. Was jedoch in Amerika
als ‘Wake-Up-Cinema’ ernst genommen wird, setzt sich international
durchaus ironischer Skepsis aus. Aber Oliver Stone ist als gebildeter
Modernist stets in der Lage, seinen ‘Lehrfilmen’ einen zweiten,
dritten und vierten Subtext zu unterlegen. Und somit bietet er mit J.F.K.,
NATURAL BORN KILLERS und NIXON einen breit angelegten Affront gegen ein
Hollywood-Kino der eindeutigen und klaren Positionen. In einer Sequenz
aus NIXON wird schließlich deutlich, dass die von Stones diagnostizierte
Verschwörung nichts weiter ist ein inhumanes, machtgieriges Komplott
des Großkapitals gewesen sein könnte: Nixon (Anthony Hopkins)
wird kurz vor dem Kennedy-Mord von texanischen Industriellen bedrängt,
sich wiederum zum Wahl zu stellen. Er würde Kennedy unterliegen,
wendet er ein, doch aus der bedrohlichen Reaktion der zutiefst rassistischen
‘Geschäftspartner’ (u.a. Larry Hagman und Dan Hedaya)
lässt sich bereits das von ihnen mit geplante Attentat ablesen. Nixon
ist verunsichert und geht auf Abstand zu diesen Ultrarechten, deren Jargon
er sich doch immer wieder bedienen wird. - Später wird er in einer
nahezu unheimlichen Szene nachts das Abraham-Lincoln-Memorial besuchen,
wo er sich mit einem Mal von demonstrierenden Studenten umlagert sieht.
Eine junge Frau fagt ihn herausfordernd, warum er nicht endlich den Vietnamkriege
beende, wie er es lange angekündigt habe. Der Präsident zögert.
„Weil Sie es nicht können,“ schließt die Studentin.
„Das System ist die Bestie...“ Übereilt wird Nixon von
seinem Vertrauten (James Woods) zum Auto gebracht, wo er ihm fassungslos
erzählt, eine Neunzehnjährige habe ihn mit dem Schluss konfrontiert,
zu dem er zwanzig Jahre Politik gebraucht hätte; seine Macht ist
letztlich illusionäre und kalt lügt dieses System: „Ich,
der Staat, bin das Volk.“ (Friedrich Nietzsche)
Die vermutliche letzte Utopie einer funktionierenden Gemeinschaft, in
der jedes Individuum mit seinem spezifischen Begabungen und Interessen
seinen Platz finden kann, beschwor Stone 1999 in Form des ‘Teamgeistes’
im Sport - in ANY GIVEN SUNDAY. Diese bis in die letzte Sequenz durchformulierte
Utopie mutet jedoch erwartungsgemäß naiv an, vor allem angesichts
der vorangehenden nahezu resignativen Schwanengesänge auf den Individualismus.
„Ich fürchte mich vor
etwas in mir...“
(Jonathan Frid in SEIZURE)
4. SEIZURE
Der heute weitgehend vergessene eigentliche Debütfilm
Oliver Stones ist das kanadisch produzierte Horrordrama SEIZURE (1974),
das in Deutschland als „Herrscherin des Bösen“ auf Video
erschienen ist. Der sehr billig produzierte Film behandelt inszenatorisch
eher schwerfällig und in seiner oft unfreiwillig komischen Bildsprache
das Trauma des Horrorschriftstellers Edmund Blackstone (Jonathan Frid),
dessen eigene Figuren inkarnieren und ihn heimsuchen: Martin Beswick als
die Herrscherin des Bösen, Herve Villechaize als bösartiger
Zwerg und Henry Baker als sadistischer Riese. Der Autor wird letztlich
das Opfer seiner eigenen Alpträume, als diese Charaktere bei einem
gemeinsamen Abend mit seinen Freunden auftauchen, die Gemeinschaft gegen
einander aufbringen und nacheinander in einem grausamen Spiel ermorden.
Man kann dem Film seinen Willen anrechnen, dem haarsträubenden Geschehen
eine philosophische Reflexion über den Zusammenhang zwischen dem
fiktiven Bösen und den realen Effekten, die es beschwört, abzugewinnen
(der „Faust“-Effekt), doch Stones Suche nach möglichst
eindringlichen Bildern verkommt hier zu einem oft peinlichen Spiel mit
Archetypen und Märchenstereotypen, die in einem derart unironischen
Horrorstoff merkwürdig deplaziert wirken. Wie in seinem zweiten Film,
der um eine ähnliche Thematik kreist, spielt er auch hier mit den
Realitätsebenen: Angedeutet durch eine Radionachricht könnte
es sich bei den Eindringlingen auch um entflohene Psychopathen, die in
Form einer bizarren Sekte zusammengefunden haben; die Visionen des Autors
jedoch suggerieren die Erfüllung seiner Alpträume. Formal verlässt
sich Stone hier vor allem auf die Kreation einer Gothic-Atmosphäre
mit Lowkey-Ausleuchtung und auf grellen Effekt hin komponierter Musik,
die jedoch teilweise ironisiert wird, etwa wenn sie den Wettspiel-Charakter
des finalen Todesspiels mit einfachen Drumbeats betont. Auch die involvierende
Handkamera wird hier eingesetzt. In der temporeich fragmentierenden Montage
kompensiert Stone zudem die niedrigen Produktionswerte. SEIZURE bleibt
als ebenso merkwürdiger wie unbeholfener Einstieg eines drastischen
Ouvres, dessen Wurzeln hier vage durchscheinen. Stones selbst scheint
diesen Film, den er mit 27 Jahren inszenierte, eher als Fingerübung
in Ererinnung zu halten.
„Ich empfinde keinen meiner
Filme als abgestanden außer THE HAND, weil ich da von zwei Seiten
Druck bekam. Die eine wollte einen Horrorfilm, die andere einen psychologischen
Thriller.“
(Oliver Stone)
5. THE HAND
Verglichen mit seinem Hauptwerk ist das Major-Company-Debüt
Oliver Stones für Orion Pictures eine bizarre Enttäuschung:
THE HAND (Die Hand, 1981) ist ein mit mittlerem Budget produzierter Horrorfilm,
der bereits durch seine alberne Grundidee verloren hat. Erzählt wird
nach dem Roman „A Lizard’s Tail“ von Marc Brandel die
Geschichte des Comiczeichners Jon Lansdale (Michael Caine), der bei einem
Autounfall die rechte Hand verliert und sich somit seines Berufs beraubt
sieht. Ursprünglich sollte der Film ebenfalls den weit interessanteren
Titel des Romans teilen, doch das Studio wollte einen reinen Genrefilm.
Immerhin ist die Sequenz, in der Lansdales Tochter einen scheinbar lebenden
Eidechsenschwanz findet, noch enthalten.
Lansdale ist - und das verbindet ihn mit den typischen Stone-Helden -
ein Mann in existenzieller Krise: seine Ehe befindet sich am Totpunkt,
zu seiner Tochter findet er keinen rechten Bezug, die Ausübung seines
Berufes wird unmöglich. Seine Frau sieht sich nach einem Liebhaber
um und seine Comicfigur wird von dem Nachfolger wesentlich verändert.
Mit seiner Hand scheint er seine Begabung und seine Potenz verloren zu
haben. Der Weg ins soziale Abseits ist scheinbar vorprogrammiert. Die
Chance des Films hätte nun darin gelegen, die autonom weiter lebende
Hand von Lansdale als dessen „dunkle Seite“ zu etablieren,
ohne sich in peinlicher Deutlichkeit zu erschöpfen. Wie die rudimentär
entwickelten Kinder in THE BROOD (1978) von David Cronenberg wird das
abgetrennte Körperteil zum Werkzeug der destruktiven Wünsche
und Phantasien des Protagonisten: Sie sabotiert die Arbeit seines Nachfolgers
und attackiert alle Personen, die seinem persönlichem Glück
im Weg stehen. In einer amüsanten, eventuell irrealen Schwarzweißsequenz
springt die Hand Oliver Stone, der einen betrunkenen Obdachlosen spielt,
an den Hals und erwürgt ihn. Als würde er der Wirkung seiner
Bilder hier mißtrauen, wird das Bild in der letzten Einstellung
unscharf. Stone mußte bewußt gewesen sein, wie lächerlich
ein wild gestikulierender Schauspieler mit einer Gummihand am Hals aussieht.
Er beläßt die Sequenz somit ebenso im Irrealen wie die teilweise
recht eindrucksvollen Visionen Lansdales, z.B. als dessen Duschgriff sich
in eine krampfende Metallhand verwandelt. So unähnlich ist dieser
Film dem Körperhorror David Cronenbergs also nicht, doch wo dessen
VIDEODROME (1983) bewußt in die Satire umschlägt, mußte
Oliver Stones Film „ernst“ bleiben: „Der Ärger
war, daß das Studio mehr Hand wollte,“ sagt Stone in Norman
Kagans Monografie (1995, S. 41). Der Film wird somit immer dort peinlich,
wo er das Eigenleben der Hand in konkrete Effektbilder bannt, d.h., wo
sich die möglicherweise eingebildete Neurose des „kastrierten“
Künstlers im phantastischen Horrorelement erschöpft und das
Spannungsverhältnis zwischen Realität und Vision zerstört.
Ähnlich ging es Ira Levin, als er in seinem Roman „Rosemary’s
Baby“ auf den letzten Seiten die knospenden Teufelshörner des
Kindes beschreibt. Roman Polanski wurde in seiner Verfilmung (1968) weit
weniger deutlich, womit es ihm gelang, diese eigentliche Spannung des
Stoffes über das Ende hinaus zu bewahren. Im Falle von THE HAND verhält
es sich umgekehrt: Brandels Roman materialisiert die Hand nie konkret,
läßt sie zu einer Art Alibi Lonsdales vor sich selbst werden.
Im Film dagegen sind nicht alle Hand-Sequenzen monochrom stilisiert: Er
legt also das Eigenleben der Hand teilweise nah. Dem Zuschauer von Stones
Film fällt eine Distanzierung leicht. Die Blackouts von Lonsdale
werden stattdessen zunächst zur falschen Spur verklärt.
Michael Caines Spiel ist auf den ersten Blick von einer ruhigen Melancholie
durchzogen, hinter der jedoch eine fiebrige Wut lauert. Besonders deutlich
wird das in der Sequenz, in der er mit einer Zeichenschülerin schläft:
Sie lutscht an seiner Protese und fordert ihn auf, „härter“
zu sein. Er ist ein repressiver Mann, voller Hemmungen und Selbstbetrug,
in diesem Film weit intensiver dargestellt als in Brian de Palmas DRESSED
TO KILL (1980), wo Caine plakativer einen schizophrenen Psychiater spielt.
Auf der formalen Ebene leistet sich Stone nur in den Visionen einen Hauch
von visueller Exzentrik, dort zieht er die gängigen Register des
Horrorgenres: verzerrte Point-of-View-Einstellungen, Streichercrescendo,
expressive Lichtstimmungen. Bemerkenswert ist noch die Szene, wo Lonsdales
Geliebte von der Hand angegriffen wird und sich Lonsdale nach einem harten
Schnitt im Rückspiegel seines Autos betrachtet und das Lied „Union
City Blue“ von Blondie im Radio hört. An solchen Stellen schimmert
eventuell die ursprüngliche Absicht des Regisseurs durch. Außerdem
verbindet er hier erstmals den Film durch zeitgenössische Musik mit
dem Puls seiner Gegenwart.
„Sicherlich haben Regisseure
eine Verantwortung gegenüber dem Publikum, gerade eine politische
Verantwortung. Aber ich mache mir keine Illusionen über den Effekt,
den wir erreichen können. Es ist wichtiger, ein Dramatiker zu sein.“
(Oliver Stone 1988)
6. SALVADOR
Der harte, oft als semidokumenatrisches Simulakrum inszenierte
Politthriller SALVADOR ist die erste filmische Inkarnation von Oliver
Stones vision du monde. Zugleich läutet er eine spezielle Arbeitsmethode
ein, der der Filmemacher seine ganze Karriere hindurch weitgehend treu
bleiben wird: Stone widmet seine Recherche zunächst dem Schicksal
einer realen Person und beginnt kontinuierlich, das biographische Material
mit weiteren historischen Ereignissen dramatisch verknüpfen, bis
er eine spielfilmtaugliche Essenz gewonnen hat. So war er bereits bei
seiner Arbeit an Michael Ciminos 1985 entstandenem Polizeifilm YEAR OF
THE DRAGON (Im Jahr des Drachen) vorgegangen, der einerseits auf dem semidokumenatrischen
Roman eines Expolizisten, John Daley, basierte, der aber - daher der abweichende
Name des Protagonisten im Film - zahlreiche Erfahrungen des realen Detectives
Stanley White aus Los Angeles als belebendes Beiwerk benutzte. Im Falle
des Mittelamerika-Thrillers SALVADOR tat sich Stone mit dem Reporter Richard
Boyle zusammen, dessen biografische Details die von James Woods verkörperte
Filmfigur überzeugender gestalten sollten. Boyle hatte in den frühen
achtziger Jahren tatsächlich einige Zeit in El Salvador verbracht,
zahlreiche der im Film vorkommenden historischen Ereignisse hatte er jedoch
nicht persönlich erlebt. Stone dehnte bereits hier - wie später
in J.F.K., THE DOORS und NIXON - den Begriff der Semidokumentation bis
an die Grenzen eines frei assoziierten, bildhaften Historiendramas, wie
es mit Shakespeares klassischen Schauspielen verbunden wird.
Mit dem draufgängerischen und charakterlich zerrissenen Richard Boyle
fand Stone auch eine erste filmische Entsprechung zu seinem eigenen Charakter.
Durch eine berufliche und private Krise am absoluten Tiefpunkt tut er
sich eines Tages spontan mit dem etwas exzentrischen arbeitslosen Diskjockey
Dr. Rock (Jim Belushi) zusammen und fährt mit ihm nach El Salvador,
um dort über die Kriegsunruhen zu berichten. Stones Sperrfeuer-Dramaturgie
will es, dass sie bereits beim Grenzübertritt nur knapp einer Exekution
entgehen, da sie von den willkürlich agierenden Regierungstruppen
für Regimegegner gehalten werden. Stone schafft es hier mit Hilfe
entfesselter Handkamera, natürlicher Beleuchtung und schnellen Schnitten
eine Atmosphäre des Terrors und der Auslieferung zu beschwören,
die in dieser Szene dazu dient, den Zuschauer mit den Protagonisten zusammen
in eine fremde, bedrohliche Welt, ein totalitäres Terrorsystem, einzuführen.
Die gegenerischen Fronten innerhalb dieses Systems bleiben dabei lange
undurchschaubar, der Film wahrt auch hier den subjektiven Blick des Journalisten,
der sich langsam in das System einarbeiten muss. Während sich Dr.
Rock den Drogen und Frauen widmet, erlebt Boyle, wie die Militärdiktatur
mit Unterstützung der amerikanischen Rechten und Ronald Reagans immer
offener ihre Brutalität an der Bevölkerung auslässt. Der
Film visualisiert in beispielhaften Sequenzen zahlreiche Aspekte dieser
Terrorherrschaft: die Todesschwadrone, die Leichenberge am Rand der Stadt;
Boyle selbst ist bei der Ermordung des liberalen Bischofs Romero anwesend,
der während einer Messe erschossen wird; der Bruder seiner Freundin
Maria (Elpidia Carillo) überlebt die Folter im Gefängnis nicht;
auf einem Höhepunkt skrupellosen Terrors wird eine Entwicklungshelferin
zusammen mit den sie begleitenden Nonnen überfallen und vergewaltigt.
Natürlich findet Boyle heraus, dass sich das Regime nur durch die
Unterstützung des CIA halten kann, doch die offiziellen Vertreter
der USA schweigen, während die Presse nur zynische oder verharmlosende
Kommentare nach aussen dringen lässt. In einem ersten Kreuzzug für
die Gerechtigkeit, der viele weitere Stone-Filme kennzeichnen wird, beschließt
Boyle, die Wahrheit der Ausschreitungen zu dokumentieren und begibt sich
mit dem passionierten Fotoreporter Cassidy (John Savage) nach Santa Ana,
wo sie mit dem Inferno des Krieges konfrontiert werden. Auch der Kontakt
mit der spärlich ausgerüsteten Berfreiungsarmee lässt Boyle
ernüchtern.
Der Tod des Fotografen Cassidy wird schließlich zum Wendepunkt,
zu einem zu diesem Zeitpunkt noch möglichen Rückzug ins Private.
Cassidy wird bei dem Versuch, angreifende Tiefflieger zu fotografieren
von diesen erschossen. Stone zelebriert dieses ‘Opfer für die
Wahrheit’ auf ähnliche Weise wie später den Christustod
des Sergeanten Elias in PLATOON. Nur dass Boyle im Gegensatz zu den späteren
Kreuzrittern Stones nun sein ganzes Engagement der Freundin Maria und
ihrem kleinen Sohn widmet. Er versucht, die beiden mit illegalen Mitteln
über die Grenze zu bringen, wo sie jedoch von den amerikanischen
Grenzbeamten mangels gültiger Papiere wieder zurückgeschickt
werden - in den sicheren Tod.
Oliver Stones Position ist nicht die der prokommunistischen Position,
das hat er selbst mehrfach betont, vielmehr geht es ihm um die Wahrung
der Menschenrecht, die in El Salvador unter Mitwirkung der amerikanischen
Regierung zusammengebombt werden. Auch die zweifelhafte Einwandererpolitik
der USA wird hier hinterfragt. SALVADOR wurde oft kritisiert für
seine vage politische Position, doch Stone wehrte sich: Sein Filme sei
keine Film gegen Amerika, SALVADOR sei ein Film für die Humanität
und für die Gerechtigkeit. Wie später im größeren
Rahmen erlaubt er sich dabei nicht nur Brüche mit historischen Dokumenten,
sondern zielt mit seiner Inszenierung letztlich immer auf den größtmöglichen
emotionalen Effekt. Das klassische, ‘kathartische’ Drama bleibt
ihm der einzige Weg, ein so unfassbares Phänomen wie die Leiden eines
Volkes unter der militärischen Willkürherrschaft zu zu vermitteln.
Und - klug berechnet - bleibt bei SALVADOR die Katharsis, die ‘Erlösung
von dem Bösen’, noch aus: Boyles Sieg ist ein bescheidener,
von verheerenden Opfern getrübt. Was er letztlich retten kann ist
der Fotofilm, für den Cassidy sein Leben gelassen hat. Ändern
wird sich jedoch nichts.
„Ich meine, jeder, der sein
Leben gelebt hat, endet dabei, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen.
Und manchmal trifft diese persönliche Geschichte mit großen
Ereignissen zusammen. [...] Als ich zur Infantrie ging, sah ich das Leben
förmlich zerfetzt vor meinen Augen.“
(Oliver Stone, Berekely 1997)
7. PLATOON
Zum ersten Mal hatte sich Oliver Stone in seinem Roman „A
Chield’s Night Dream“ mit einer Vietnam-Erfahrung auseinander
gesetzt. Er war als Neunzehnjähriger gerade aus Vietnam zurückgekehrt,
wo er als freiwilliger Helfer unterrichtet hatte. In diesem Roman jedoch,
der erst 1998 veröffentlicht wurde, fließen fiktive und autobiografische
Elemente ineinander. Der Junge in dem Buch trägt mit „William“
und „Oliver“ beide Vornamen des Autors und hat seine Collegeausbildung
abgebrochen, um als Soldat nach Vietnam zu gehen. Dort erlebt er das Töten
des Feindes in einer Art Rauschzustand, besucht Bordelle und kehrt als
Matrose nach Amerika zurück. Seine zweite Reise führt ihn nach
Mexiko, wo er seine Erlebnisse aufzuschreiben beginnt. Tatsächlich
war Stone bei seiner ersten Vietnamreise also kein Soldat, dieser Teil
des Buches ist weitgehend fiktiv. Das Buch entstand jedoch tatsächlich
in einem „billigen Hotel in Mexiko.“ Danach kehrte er zum
wiederholten Mal nach Vietnam zurück und erlebt die Ereignisse, die
zuvor nur in seiner Fantasie stattgefunden hatten: „Dass ich später
wirklich an die Front gegangen bin, verwundet wurde und Vietcongs getötet
habe, macht die Sache komplizierter.“ Den Akt des Tötens beschwor
der junge, unerfahrene Autor als einen umfassenden, überwältigenden,
quasi-sexuellen Akt, die später erlebte Wirklichkeit des Krieges
jedoch beschreibt er im Zwiespalt: „Es war kein gutes Gefühl.
Oder doch, vielleicht doch. Eine Initiation. Ein Herdenverhalten. Ich
konnte als Soldat töten und damit fertig werden. Da war eine gewisse
Zufriedenheit, es richtig gemacht zu haben. Im Leben war es anders als
im Buch - einen Mann zu sehen, den man selbst getötet hat. Oft haben
wir ja nur blind in den Dschungel gefeuert. Es hatte was mit Darwin zu
tun, ein evolutionäres Ding: akzeptiert werden von den anderen Affen...“
Was im Roman die übermächtige Mutterfigur ist, die nahezu inzestuösen
Charakter bekommt, wird in Oliver Stones erstem Vietnamfilm PLATOON (1985)
schließlich die Grossmutter sein, an die der Rekrut Chris Taylor
(Charlie Sheen) regelmässig Briefe schreibt. In seinem naiven, halbintellektuellen
Idealismus liefert sich der unerfahrene junge Mann einer ähnlichen
Sozialisation aus, die nach Klaus Theweleits Definition den „soldatischen
Mann“ mit ausmacht: Bevor er sexuelle Erfahrungen sammeln konnte,
begibt er sich in eine reine Männergesellschaft, die neben alltäglichem
Gehorsam nur das Töten und die Flucht in den Drogenrausch kennt.
Das Ritual der „Pot-Köpfe“ um den fast ‘heilig’
charakterisierten Sergeant Elias (Willem Dafoe), der später in Christuspose
sterben wird, ist in diesem Kontext Ausdruck pazifistischer Gewaltverweigerung
wie auch eine innere Flucht vor der alltäglichen Grausamkeit des
Kriegsgeschehens. Die Soldaten des Vietcong werden hier im Stil klassischer
Kriegsfilme zu einer gesichtslosen Feindesmasse reduziert und verschmelzen
mit der lebensbdrohlichen ‘grünen Hölle’ des Dschungels,
aus der sie auftauchen wie Raubtiere. Fatal an der Konstruktion ist somit,
dass der Film die prinzipielle Unschuld der jungen amerikanischen Invasoren
suggeriert, die in der Begegnung mit dem ‘mythischen Krieg an sich’
und Aggressoren aus den eigenen Reihen (Tom Berenger) einem ‘Zwang
zum Bösen’ erliegen. Gäbe es hier nicht den Bezug zum
My Lai-Massaker, wäre dieses Modell zum Heldenmythos geronnen. PLATOON
ist der Rückfall von APOCALYPSE NOW in die Stereotypen des Western.
Mit PLATOON begann dennoch die feindliche Rezeption des Filmemachers in
konservativen politischen Kreisen, die den intellektuellen Regisseur als
‘Nestbeschmutzer’ verurteilten. Als dieser Film in die Kinos
kam, wurde Stone mit dem Vorwurf konfrontiert, laut der staatlichen Unterlagen
sei er nie in Vietnam gewesen. „Ich war natürlich in Vietnam
unter meinem Geburtsnamen William Oliver Stone, aber den hatten sie nicht.
Man kann sehen, dass diese Leute bereits daran arbeiten, die Macht des
Zeugen zu zerstören,“ sagte Oliver Stone später dazu und
schließt den Bogen zu der in J.F.K., THE DOORS und NIXON kapitalistisch-monopolisierten
Diktatur der Macht. Der Vietnam-Komplex sei für ihn letztlich wie
„ein Keim, aus dem jetzt ein Baum wächst. Das gilt nicht nur
für mein eigenes Leben, sondern für das Bewußtsein unserer
Nation,“ resümierte er 1994.
„Es gibt keine physische
Gewalt in der Wall Street. Aber Spannung und mentale Gewalt gehören
dort zur Tagesordnung.“
(Oliver Stone)
8. WALL STREET
Nach dem überwältigenden Erfolg des Vietnamfilms
begab sich Oliver Stone auf Sicherheitskurs. Mit WALL STREET ersann er
eine Fabel von Faustischer Dimension, in dem er den täglichen Börsenkrieg
in den Büros der Wall Street dramatisierte. Erzählt wird die
Geschichte von dem schlauen, jungen und in Ansätzen skrupellosen
Bud Fox (Charlie Sheen), der nicht wie sein Vater (Martin Sheen) als Flugzeugingenieur
enden will, sondern nach den höheren Broker-Weihen strebt. Seine
Arbeit in einem Aktienbüro bietet ihm nicht die wahren Aufstiegschancen,
also wendet er sich immer wieder an den Börsen-„König“
Gekko (Michael Douglas). Eines Tages lädt ihn Gekko tatsächlich
vor. In dem Willen, einen brillianten Tip anzubieten, verkauft Bud eine
interne Firmeninformation seines Vaters. Gekko ist begeistert und scheint
Bud fördern zu wollen. Neben Aufträger „beschafft“
er ihm auch eine schöne Geliebte (Daryl Hannah). Buds Aufstieg funktioniert
reibungslos, doch unmerklich gleitet der Newcomer in den Bereich der Wirtschaftspionage.
Nachdem Gekko die Flugfirma von Buds Vater ruiniert hat, wendet Bud sein
Wissen gegen den ehemaligen Lehrer, doch die Polizei ist bereits auf seiner
Spur. Gekko muß büßen, aber Bud wird ins Gefängnis
gehen. Sein Pakt mit dem Teufel trägt Früchte.
„Meine Filme, die in der
Regel auf wahren Begebenheiten basieren, handeln von Menschen, die in
der Krise stecken und sich in Extremsituationen ihren eigenen Weg bahnen
müssen.“
(Oliver Stone, 1994)
9. TALK RADIO
In einem kleinen, mit geringem Budget inszenierten Zwischenspiel,
widmete sich Stone erstmals der Form des Kammerspiels. In TALK RADIO wird
der Radiomoderator Barry Champlain (Eric Bogosian, der auch das zugrundeliegende
Bühnenstück verfasste) in einer kleinen Radiostation zum Star,
als er in seinen „Konfrontations-Sendungen“ mit Hilfe origineller
medialer Tricks und Montagen den latenten, alltäglichen Faschismus
des mittelständischen amerikanischen Bürgertums entlarvt. Da
er sich mit ätzender Ironie und Respektlosigkeiten gegen alles und
jeden wendet, muss er sich bald gegen gefährliche Gegner behaupten.
In seiner eigenen Sendung fällt er schließlich den Schüssen
eines Attentäters zum Opfer. Barry selbst wird bei seinem zynische
Kreuzzug zum Spiegel der Schattenseiten dieser Gesellschaft, unter der
er leidet. Immer weiter begibt er sich in die Isolation, bis er schließlich
niemanden mehr auf seiner Seite hat. Sein Kreuzzug wird im mythischen
Martyrium besiegelt, einem religiösen Modell, dessen sich Stone auch
später in J.F.K. und THE DOORS bedient.
Die Figur des Barry Champlain setzt zudem auf anderer Ebene die hedonistische
Abenteurlust der Protagonisten aus SALVADOR und WALL STREET fort, deren
betont nicht-moralische Position bald zwischen alle Fronten gerät.
So ist das Konzept des „Talk Radios“, des Moderator-Hörer-Dialogs,
für Champlain auch nur ein weiteres Schlachtfeld seines Lebens, auf
er dem in der Distanz und Anonymität isolierter Stimmen täglich
seine Massaker veranstaltet. Er beleidigt seine Anrufer, führt ihre
Argumente ad absurdum, stellt sie hemmungslos bloß oder gibt sie
der Lächerlichkeit preis. In scheinbar willenloser Schmerzlust offenbaren
sie ihm dennoch ihre Liebe oder zahlen mit gleicher Münze zurück:
Neonazis verkünden dem jüdischen Moderator Champlain gegenüber
ihren Antisemitismus, ein Fixer berichtet von seiner scheinbar gerade
verstorbenen Freundin und ein Vergewaltiger giert stöhnend nach neuen
Opfern. Barry wird zum Mann, den man ‘liebt zu hassen’: Seine
Gegener schütten ihm ihre Drinks ins Gesicht oder schicken ihm eine
tote Ratte, eingewickelt in eine Hakenkreuzfahne. Während die Hörer-Quoten
seiner Sendung beständig steigen, läutet Champlain langsam den
eigenen Untergang ein. Die Barriere des Mikrophons wird durchbrochen,
als ein Gegener verkündet: „Ich weiss, wie du aussiehst, ich
weiss, wo du wohnst...“
Wie viele Stone-Protagonisten, hat Champlain seine Ehe zu Grabe getragen.
Er nutzt statt dessen seine Produzentin Laura (Leslie Hope) als regelmäßigen
One-Night-Stand. Nach eigenem Belieben kehrt er dieses Verhältnis
gelegentlich um, verleugnet mal die eine, mal die andere Frau. Einen Höhepunkt
des Zynismus’ erreicht er, als er seine Exfrau (Ellen Greene), die
ihm erneut ihre Liebe gesteht, im Rahmen seine Sendung zurückweist,
indem er sie mit den Worten abfertigt: „Es gibt nichts Langweiligeres
als Menschen, die dich lieben.“ War der legendäre Moderator
„Wolfman Jack“, der in George Lucas’ AMERICAN GRAFFITI
(1972) zu Ehren kam, noch der rührende Loner im fahlen Licht des
nächtlichen Studios, ist Barry Champlain nur noch ein egomanischer
Rest seiner eignen Ambitionen, der im Gewebe aus Hass und Hilflosigkeit
schwebt, das ihn über die Lautsprecher umgarnt. Der erste Hörer,
der diese Distanz überwindet, wird zugleich sein Exekutor sein...
Wie die meisten seiner Filme beruft sich auch TALK RADIO bzw. dessen theatrale
Vorlage auf ein reales Ereignis, die Ermordung des Talkmasters Alan Berg
durch Neonazis im Jahre 1984. Stones angestammter Kameramann Robert Richardson
verwandelt dieses zunehmend klaustrophobische Kammerspiel in ein ebenso
subtiles wie dramatisches Geflecht von Nähe und Distanz, von Gleiten
und Unruhe, immer im Puls mit der psychischen Verfassung eines abgründigen
Zynikers auf seiner Reise entlang des existenziellen Abgrundes.
„Ich betrachte mich als jemanden,
der die Historie nimmt und ihr eine bestimmt Form verleiht, wie es Shakespeare
mit Henry V. machte.“
(Oliver Stone, 1991)
10. BORN ON THE FOURTH OF JULY
Der desillusionierte Patriot und querschnittgelähmte
Vietnamveteran Ron Kovic, der mit seiner wütenden Autobiografie zur
einer Ikone der Friedensbewegung der siebziger Jahre wurde, hat einiges
mit Oliver Stones gemeinsam. Beide meldeten sie sich freiwillig zum Militärdienst
für ihr Land, erfüllt von Idealismus und dem naiven Glauben
an die Rechtmäßigkeit eines Krieges, der zum Alptraum werden
sollte. Wie Stone kehrte er voll von Wut und Hass auf das eigene Land
zurück, wandte sich gegen das System der verharmlosenden Bigotterie
und rechnete mit Politik und Elterngeneration gleichermaßen ab.
BORN ON THE FOURTH OF JULY beginnt in Kovics Kindheit, zeigt in drückenden
Ornagetönen das unbeschwerte Kriegsspiel übermütiger amerikanischer
Mittelschichtenjungen. Bei der Parade zum 4. Juli sitzt er stolz auf den
Schultern des Vaters und bewundert die vorbeiziehenden Uniformierten,
die erhobenen Hauptes und in die Ferne gerichteten Blickes die Trommel
schlagen, gefolgt von den vorkrüppelten und gelähmten Veteranen,
die dennoch stoisch Haltung bewahren. Die Mutter (Caroline Kava) schimpft
über die Kommunisten - durchaus im Konsens der Zeit, während
der kleine Ron sich vielmehr für das kleine Mädchen interessiert,
das ihm einen ersten unschuldigen Kuss geben wird. Die Kovics träumen
den amerikanischen Traum der Nachkriegszeit; „Ich habe geträumt,
dass du vor einer großen Menschenmenge eine Rede halten wirst,“
erzählt die Mutter eines Morgens ihrem Sohn gegenüber, „und
du hast sehr kluge Wort gesagt.“ Welche Worte das sein würden,
wird sie später nicht wahrhaben wollen.
Ron Kovic soll zum Spiegel des amerikanischen Mittelschichtentraumes heranwachsen.
Er wird ein sportlicher, attraktiver Teenager, trägt sich bald mit
Verlobungsplänen und schwört auf Gott - und Vaterland. Im sportlichen
Wettstreit erweist er sich als ambitioniert und fair. Der Rekrutierungsvortrag
eines Marines (Tom Berenger in einer emblematischen Rolle) soll jedoch
Kovics Leben verändern: Er meldet sich zum Kriegsdienst nach Vietnam,
um Amerika „vor den Kommunisten zu beschützen.“ Die Mutter
begrüßt diese Entscheidung und sieht bereits einen zukünftigen
Kriegshelden in ihrem Sohn, schließlich kommen nur ‘Auserwählte’
zu den Marines. Stone wird die traumgleiche, entrückte Monochromatik
seiner Bilder beibehalten, selbst in den grasbewachsenen Hügeln Vietnams,
über denen die Sonne brütet, doch was zuvor die falsche Geborgenheit
einer Postkartenlandschaft vermittelte, schlägt unvermittelt in ein
hysterisches Inferno um. In dumpfem Surroundton schlagen rundum die Granaten
ein, die Handkamera wirft sich mit den jungen Soldaten ins Gras, verliert
scheinbar die Orientierung, um mit jedem Orientierungsblick die Gefahr
vermittelt, potentielles Opfer der lauernden Heckenschützen zu werden.
Das glatte Gesicht des jungen Kovic wird beständig zu jener Grimasse,
die das Antlitz des Krieges gewöhnlich erzeugt. Delirierend wandelt
er zwischen ausblutenden Kameraden und abgeschlachteten ‘Feinden’.
In einer weiteren Schlüsselszene schießt er blindwütig
auf einen offenbar angreifenden Soldaten, den er im Gegenlicht kaum zu
identifizieren vermag. Sein Trauma wird sein, vermutlich den eigenen Kameraden
getötet zu haben. Doch diese Erkenntnis trifft ihn erst später
- nach den verheerenden Kugeln des Vietkong, die ihn für sein Leben
zeichnen. BORN ON THE FOURTH OF JULY bündelt in knapp fünfzehn
Minuten den gesamten Horror des Vietnamkrieges, den PLATOON noch zu einem
Heldenepos verklärte. Ron Kovics Reise nach ‘Walhalla’
endet in stummem, lastendem Rot, in der Apathie des Komas. Der Nihilismus,
der PLATOON erst zu jener Anklage geformt hätte, die er so gerne
sein wollte, wird hier zunächst zum Prinzip des Films.
Die Vorstadtwelt des jungen Ron Kovic ist der Traum einer weiß,
halbgebildeten ‘Reinheit’, eine rassistische Utopie, die mit
dem Einschlag der Kugeln in sein Rückenmark zerplatzt. Er erwacht
in einem improvisierten Lazarett in der New Yorker Bronx, inmitten seiner
Leidensgenossen, anderer Kriegskrüppel, blind, verstümmelt,
gelähmt. Das Lazarett als Vorhof zum Martyrium, zur privaten Hölle
der amerikanischen Hoffnung: tags die Schreie der Verwundeten, nachts
das verhaltene Stöhnen der masturbierenden Patienten, die im Gegensatz
zu Kovic das Glück hatten, ihren Unterleib noch zu spüren.
In einem letzten Aufflackern seines amerikanischen Optimismus’ versucht
der Einundzwanzigjährige verzweifelt, wieder Gehen zu lernen, doch
die vermeintlichen Fortschritte erweisen sich als trauriger Selbstbetrug.
Kovic wird den Rest seines jungen Lebens gelähmt bleiben. Der Mann
wird seinen Weg nicht gehen können, sein Wille bleibt zwischen dem
Gestänge eines Rollstuhls gefangen. Mit konsequenter Beharrlichkeit
verfolgt der Film seinen Weg zurück in die suburbane Welt seiner
Eltern, die den „Kriegshelden“ herzlich empfangen. Nun ist
er selbst der Teilnehmer einer Parade, doch die Euphorie des Publikums
hat sich gewandelt: Aus der blitzenden Limousine winkt Kovic mit seinen
weißen Handschuhen nun den ersten Kriegsgegner, lässig gekleideten
aber ungleich aggressiven Hippies, die in dem Veteranen das sehen, was
er selbst in seinen Träumen erkennen wird - einen Mörder. War
Kovic einst die Inkarnation der weißen Allmachtsphantasie, wird
er zusehends zu deren finsterem Schatten. Von seiner Umwelt nicht mehr
Ernst genommen, durch seine mangelnde Sexualität frustriert, steuert
der Film auf einen vorprogrammierten Konflikt zu: die Lösung vom
bigotten, christlichen Elternhaus. In einem verzweifelten Akt hemmungsloser
Hysterie schreit er seine Qual hinaus: „Penis! Penis! Penis“
Die Reaktion seiner Mutter bleibt der banale Verdrängungsschluss:
„Sag nie wieder dieses Wort in meinem Haus!“
Nach mehreren Stufen der gnadenlosen Initiation bleibt Ron Kovic nur noch
ein letzter Versuch, wieder vollständig und ‘eins mit sich’
zu werden: Er verlässt das Elternhaus, verbittert, nahezu dem Alkohol
verfallen. Seine frühere Freundin Donna, die bei den Kriegsgegnern
ist, nimmt ihn mit zu einer Demonstration gegen den Krieg. Das Land jedoch
hat sich merklich geteilt. Der Spiegel des amerikanische Traumes ist getrübt.
Die einstige Hoffnung der Eltern hat sich zur Fratze verzerrt. Die Kinder
haben sich gegen die Eltern und ihre angefaulten Werte erhoben und werden
von der Staatsmacht mit Schlagstöcken in ihre Grenzen verwiesen.
In einem Akt der Wut zieht sich der desillusionierte Veteran nach Mexiko
zurück, nicht erst seit Sam Peckinpahs Spätwestern der endgültige
Zufluchtsort der Desperados, der Ausgestoßenen, die den Weg der
aufrechten Frontiersuche für sich beendet haben. In den staubigen
Wüsten und verlassenen Geisterstädten des mexikanischen Grenzlandes
endet der Traum vom Weg zum Erfolg. Hier gibt es keine Vorstädte
mit weißen Gartenzäunen und saftigem Rasen, in den sich die
kriegsspielenden Kinder werfen können, der sie sicher auffängt.
Stones Mexiko ist der Ort eines Verharrens vor dem sicheren Ende, wo sich
Veteranen, Zuhälter und Prostituierte zu einem freudlosen Fest am
Rande des Abgrundes treffen, wo Ron Kovic zusammen mit seinem Leidenspartner
Charlie (Willem Dafoe ebenfalls in einem emblematischen Auftritt) Mescal
und unfühlbare sexuelle Verlockungen konsumiert. Wie in SALVADOR
nimmt BORN ON THE FOURTH OF JULY hier den Gestus eines Road Movies an,
dessen Protagonisten in ihrer vorgeblichen Suche nach Freiheit letztlich
eine Flucht vor den Gespenstern ihrer Vergangenheit antreten, denen sie
in der staubdurchwehten Einöde erst recht begegnen müssen. Kovic
und Charlies beginnen in einer eindrucksvollen Sequenz, sich gegenseitig
zu attackieren. Sich ohnehin mißtrauisch beobachtend werfen sich
die Veteranen zunächst Verrat ihrer Ideale vor, um sich in zynische
Selbstkasteiung hineinzusteigern. Er habe Babies ermordet, schneidet Charlies
verzweifelt auf, wogegen Kovic nur halten kann, dass er den eigenen Kameraden
auf dem Gewissen habe. In einem letzten Aufbäumen landen die beiden
Kriegskrüppel im Staub, kriechen aufeinander zu und liefern das groteske
Zerrbild einer Schlägerei.
In einem Vorgriff auf seine NIXON-Thematik zeigt Stones bereits hier in
dynamischen Masseninszenierungen, wie eine republikanische Regierung agiert,
der die Argumente ausgegangen sind: Sie führen das Regime mit dem
Knüppel. Erstmals spricht Stone den Medien hier eine konstruktive
Funktion zu. Sie machen den offen gegen Nixon demonstrierenden Vietnamveteranen
Ron Kovic im August 1972 zu einem national bekannten Führer der Protestbewegung.
Blieb der antimilitaristische Gestus in PLATOON noch weitgehend behauptet,
beschließt Stone mit diesem Stoff mit der Ausformulierung eines
Erkenntnisprozesses - vom aggressiven Patriotismus zum Pazifismus. In
Ron Kovics Leben findet er das Potential einer dramatischen Geschichtsbewältigung,
die einerseits vor der spekulativen Ausbeutung individueller Schicksale
nicht zurückschreckt und andererseits einen Gegenmythos zum Amerika
der unmittelbaren Gegenwart entwirft, das in seiner Konsequenz kritischer
kaum sein könnte. Oliver Stones Amerika ist Utopie und Antiutopie
zugleich.
„Ich habe niemals geplant, mit J.F.K.
eine Charakterstudie Jim Garrisons herzustellen. Ich benutze ihn nur...“
(Oliver Stone, 1997 in Berkeley)
11. JFK
Für den russischen Filmemacher und -theoretiker Sergej
Eisenstein war die Montage der Schlüssel zum Filmemachen. Seine filmischer
Herangehensweise beschränkte sich natürlich nicht auf die Postproduktion
des filmischen Entstehungsprozesses, doch verstand er die bei den Dreharbeit
gewonnen Einstellungen lediglich als sinntragende Einheiten, analog zur
Sprache, die es nun wie Wort in einem Satz zur arrangieren galt. Die Montage
ist nach Eisenstein also das Bauprinzip eines Films. Mit ihrer oft harten
Konfrontation zunächst zusammenhangloser Elemente erzielt der montierte
Film zunächst eine starke sinnliche Wirkung, einen Affekt, in zweiter
Ebene erreicht jedoch eine geschickte Montage die Stimulation eines Denkprozesses,
der aus dem assoziativen Spiel der kombinierten Elemente hervorgeht. Programmatisch
wird Eisensteins Montagetheorie mit dem Begriff des „Attraktionsmontage“,
die auf eine besonders weitgehende, assoziative Wirkung der montierten
Einstellungen abzielt. Genau hier setzte auch die Kritik an Eisensteins
Methode; er produziere nichts als manipulative Propaganda, ein Vorwurft,
der mit Sicherheit nicht unbeabsichtigt war, schließlich kann man
seine Filme der zwanziger Jahre durchaus als sozialistische Propagandafilme
betrachten.
Oliver Stone ist eine intellektueller Filmemacher, dessen erste Bemühungen
um Ausdruck in Form der Literatur stattfanden, und dessen Einflüsse
neben den Filmen von Alain Resnais und Jean-Luc Godard ebenfalls literarische
sind: Marcel Proust, James Joyce, Louis-Ferdinand Céline, allesamt
moderne Autoren, deren Texte nach komplexen Verschachtelungs- und Fragmentierungsprinzipien
komponiert sind. Mit seinem mythischen Politdrama J.F.K. (1991) wurde
die Montage zum Hauptmerkmal von Oliver Stones Stil. Erst mit diesem ebenso
komplexen wie überdeutlichen filmischen Kaleidoskop der sechziger
Jahre hatte der ‘Stone-Style’ eine unverkennbares Gesicht
bekommen. Das beginnt mit der Vorspannsequenz, in der er - man möchte
es der Intention nach fast ‘klassisch’ nennen - Ort, Zeit
und Personen etabliert. Doch er will mehr: Er möchte den Zuschauer
emotional in das politische Klima der sechziger Jahre einbetten. Die historischen
Rahmenbedingungen werden rekapituliert, John F. Kennedy als Politiker
und Privatperson proträtiert: In sekundenlangen Dokumentarbruchstücken
erscheint er als Kind, Student, Senator, Familienvater und Präsident.
Eine Offstimme im Stile einer Wochenschau beschreibt ihn zudem als den
„Hoffnungsträger seiner Generation“. Kontrastiv zu den
Bildern privaten Glücks scheinen immer wieder der Rüstungswettlauf
des Kalten Krieges, die Kubakrise und der Krieg in Vietnam durch. Kennedy
erscheint als der Prophet einer friedlicheren Welt, seine Tod als die
Absage an alle humanen Werte, als Schritt in den Abgrund des „nicht
gewinnbaren“ Vietnamkrieges. In der Kombination historischen Archivmaterials
und erläuternden Kommentars bekommt der Vorspann dieses Films den
Charakter eines objektiven Rückblicks, zu bekannt sind viele der
Einstellungen, zu vertraut das Lächeln des Präsidenten. Dennoch
folgt diese ‘erinnernde Montage’ dem Konzept einer präzisen
Dramaturgie: Sie etabliert das Opfer als einen Sympathie- und Hoffnungsträger
und schafft noch einmal die emotionale Disposition für den emotionalen
Schock durch das Attentat, zumal für ein nichtamerikanisches Publikum,
das mit den Zusammenhängen kaum noch vertraut sein dürfte. Wut,
Trauer und Verzweiflung soll der Nachhall der Schüssel zurücklassen,
die Gefühle, die Jim Garrison (Kevin Costner) zu seinem obsessiven
Kreuzzug für eine Korrektur der Ungerechtigkeit und gegen die Verschwörung
der kriegstreibenden Elemente der Gesellschaft motivierten.
Bereits in das letzte Viertel des Vorspanns fügt Stone die Einstellung
einer verwundeten Frau ein, die mit dem Satz „Sie werden Kennedy
töten!“ ihre Helfer um Verständnis anfleht. Wie Eisensteins
Attraktionsmonatage dramatsiert er die letzten Sekunden bis zu den fatalen
Schüssen mit rhythmischen Schnitten auf eine Uhr und erweckt die
Wirkung eines vorbestimmten Countdowns. In derartig hohem Tempo montiert
er authentische Nachrichtenbilder, Abraham Zapruders Privataufnahmen und
nachträglich inszenierte Passagen zu einem überwältigenden
und spannenden Szenario, das eine Differenzierung von Geschichte und deren
Interpretation unmöglich macht. In einem emotionalen Rausch wird
der Zuschauer völlig umgarnt von Oliver Stones Idee wie es gewesen
sein könnte am 22.11.1963, eine Vorstellung, die er über zwei
Stunden später in der Gerichtsverhandlung exzessiv rekapitulieren
wird. Geschickt verwendet er schwarzweißes Filmmaterial überall
dort, wo ihm eben aus historischen Gründen kein anderes zur Verfügung
stand bzw. dort, wo nachgestellte Zeugenaussagen lediglich spekulativen
Charakter besitzen. Er parallelisiert also Spekulation und Dokumentation
zu einem manipulativen Konstrukt, dem sich durchaus der Vorwurf einer
paranoiden Propaganda machen ließe.
Die Verschwörung, die sowohl der historische Garrison, als auch dessen
idealisiertes Heldenbild im Film diagnostizieren, nahm ihren Anfang im
Report der Warren Kommission des FBI, die nach zehnmonatiger Recherche
Lee Harvey Oswald (im Film Gary Oldman) als Einzeltäter für
die Ermordung verantwortlich machte. Garrison zweifelte an diesem Urteil
und rekonstruierte das Attentat selbst, wobei deutlich wird, dass der
Präsident von mehreren Schüssen im Kreuzfeuer getroffen worden
war. Kennedys politisches Wirken provozierte die Tat: Er war gegen die
amerikanischen Interventionen in Vietnam und Kuba, wollte den Kalten Krieg
beenden und zeigte sich angeblich nachgiebig gegenüber Russland.
Garrisons Theorie zufolge hätten sich politisch unzufriedene Mitglieder
des Pentagons und Industrielle organisiert und mit Hilfe des nachfolgenden
Präsidenten Lyndon B. Johnson die Tat geplant. Oswald habe als Strohmann
fungiert, den man der Öffentlichkeit opferte. Jim Garrison gerät
im Kontext des Films zur Messianischen Figuren, die sich bemüht,
Amerika eine verlorene Unschuld zurückzugeben. Mit seinen Getreuen
trifft er sich jeden Sonntag, bis in der letzten Sitzung vor dem Prozess
gegen Clay Shaw (Tommy Lee Jones) ein Judas aus eigenen Reihen gegen die
Gruppe antritt. Garrison manövriert sich zusehends in die Einsamkeit
des letzten aufrechten Kämpfers für die Gerechtigkeit, der sogar
seine eigene Famile vernachlässigt. Der historische Garrison entsprach
diesem Bild scheinbar kaum.
J.F.K. ist Oliver Stones programmatisches Manifest einer vom Niedergang
bedrohten Gesellschaft, die Opfer des Betruges durch ihr eigenes demokratisches
System wurde. Stone selbst stellte den fertigen Film, zumal seinen später
erweiterten Director’s Cut, als „historisches Werk“
neben den Report der Warren Kommission. Mit JFKs Tod habe Amerikas „Fall
from Garce“ direkt in die Hölle Vietnames, wie er sie selbst
als einst patriotischer Idealist kennengelernt hatte, geführt.
„Wir hatten den besten Rock’n’Roll
und die besten Filme. Und was hat das geändert?“
(Oliver Stone 1994)
12. THE DOORS
Im Los Angeles des Jahres 1965 gründete der frustrierte
Filmstudent Jim Morrison zusammen mit den Musikern John Densmore, Ray
Manzarek und Robbie Krieger die Rockband The Doors, inspiriert durch Aldous
Huxleys Werk „The Doors of Perception“, das eine Zeile des
Dichters William Blake zitiert: „The doors of perception were cleansed
- everything would appear to man as it is, infinite.“ Mit dieser
Band und seiner langjährigen Lebensgefährtin Pamela Courson
würde Morrison die Randbereiche von Musik und Poesie erforschen,
getrieben von dem Ehrgeiz, die Grenzen der Realität zu erproben,
„lediglich, um zu sehen, was geschehen würde“. Der Band
gelingt innerhalb weniger Jahre ein erfolgreicher Aufstieg: von den Clubs
in Hollywood bis nach New York, in das Reich Andy Warhols. Morrisons provokantes
und betont hedonistisches Verhalten führte zu zahlreichen Konfrontationen
mit dem Gesetz. Nach einer Verhaftung während eines Auftrittes wird
er 1969 wegen „obszönen Verhaltens“ zu sechs Monaten
Gefängnis verurteilt. Schon zwei Jahre später stirbt er in seinem
selbstgewählten Exil, einem Pariser Hotelzimmer an einem Kreislaufzusammenbruch.
Die Doors können heute als Symbol ihrer Zeit betrachtet werden. Ihre
Musik war ambivalent: rauh und lyrisch, aggressiv und sensibel. Ganz fixiert
auf Morrisons eitle, charismatische Persönlichkeit verliehen die
Liveshows der Band ein unvergeßliches Gesicht, das Oliver Stone
mit detailversessener Akribie rekonstruierte. Val Kilmer gelingt es, viel
von Jim Morrisons energetischer und nahezu gefährlicher Bühnenpräsenz
auf die Leinwand zu transportieren. THE DOORS ist einer der Filme, in
dem Stone seinem auch in JFK. und NATURAL BORN KILLERS angewandten „entfesselten
Stil“ freien Lauf läßt: Die Montage läßt Orts-
und Zeitbegriffe splittern, schafft drastische Konfrontationen und scheut
an keiner Stelle von Symbolismen und überdeutlichen Illustrationen
zurück. So wird Morrisons Weg begleitet von schamanischen Schutztieren
und einem indianischen Medizinmann, den der Sänger als Kind einst
sterben sah. Stone deutet hier eine Seelenwanderung an: Morrison gerät
zu einem modernen Schamanen auf der Bühne, für den das Bad in
der Masse zur Trancevision wird. Schon sehr früh parallelisiert Stone
den Hang zu Massendomination mit faschistischer Agitation - eine von vielen
Gleichungen, die in diesem überwältigenden Film für sich
stehen bleiben, zu keinem Ende geführt werden.
Stone hatte bereits zu Lebenzeiten Jim Morrisons versucht, dessen Karriere
zu verfilmen, fand jedoch keinerlei Zuspruch. War es damals die aktuelle
Faszination, die ihn getrieben haben mag, war es 1991 die Distanz, die
die Aufarbeitung dieses genuin amerikanischen Rockmythos’ reizvoll
erscheinen ließen. Viele Zeitgenossen des Musikers nahmen an der
Produktion Teil, darunter auch John Densmore, Robby Krieger, der Produzent
Paul A. Rothchild, Billy Idol, selbst ein Rockidol, sowie die Filmemacher
Agnes Varda und Jacques Demy. Dennoch war die Reaktion auf das fertige
Werk desaströs: Kritisiert wurde hauptsächlich Stones extensives
Interesse für die „dunkle Seite“ des Phänomens:
Drogenkonsum, Promiskuität, Exzeß jeder Art, letztlich die
Selbstzerstörung. Zudem hatte sich der Regisseur zahlreiche Freiheiten
herausgenommen, die den Film eher in den Bereich der Rock’n’Roll-Fantasy
verlagern: Jim Morrison verließ die UCLA-Filmschule nicht, sondern
graduierte zusammen mit seinem Keyboarder Manzarek; das Lied „Light
My Fire“ wurde nie als Werbe-Jingle verkauft; zudem ist es nicht
verbürgt, das die Band Peyote in der Wüste zu sich nahm.
Stones Film ist somit weniger ein Denkmal für einen Musiker, seine
Generation oder seine Musik; es ist ein Film über den Rock’n’Roll-Mythos,
die audiovisuelle Adaption einer modernen Legende, die in aller Direktheit
fast mutwillig eine Brücke schlägt zu indianischem Schamanismus,
Reinkarnation, mittelalterlicher Musik und dem modischen Satanismus der
späten Sechziger Jahre. THE DOORS ist ein zwiespältiger, selbstgefälliger
Film, der mehr über die Sixties-Rezeption der neunziger Jahre aussagt,
als über die Ära, die er illustriert - und der dennoch den Mythos
bewahrt.
„HEAVEN AND EARTH ist einer
meiner wichtigsten Filme. Ich weine jedesmal, wenn ihn sehe.“
(Oliver Stone)
13. HEAVEN AND EARTH
HEAVEN AND EARTH ist der aufwendige Endpunkt von Oliver
Stones Vietnamtrilogie. Mit PLATOON hatte er versucht, einen bedeutenden
Teil seiner eigenen Vergangenheit aufzuarbeiten. Er zeigte, wie die romantischen,
patriotischen Illusionen eines Freiwilligen zerstört wurden. In BORN
ON THE FOURTH OF JULY ging es um die seelischen Zerstörungen, die
das Kriegserlebnis an einem Individuum anrichtet, das als Invalide aus
dem Krieg zurückkehrt. In HEAVEN AND EARTH kehrte er zum eigentlichen
Ausgangspunkt seiner Kreativität zurück: Vietnam als Trauma.
„Diesmal habe ich den Blickwinkel einer Frau gewählt, einer
Frau, die - versteckt - auf dem Boden lag, während wir in ihr Dorf
einmarschierten.“ (Oliver Stone in Cinema, Februar 1994, S. 35)
Nach der Perspektive des Täters selbst sowie des Täters, der
zum Opfer wird, widmet er sich hier ganz der Sicht vietnamesischer Reisbauern,
für die der Krieg zum verzehrenden Martyrium wird. Die junge Vietnamesin
Le Ly (Hiep Thi Le) erlebt Terror und Folter durch eigene Partisanen,
den Vietkong, und die Demütigung als Prostituierte durch die amerikanischen
Invasoren. Vom Land kommt die zunächst nach Saigon, um dort mit ihrem
amerikanische Ehemann Steve Butler (Tommy Lee Jones) nach Amerika überzusiedeln.
Die Erzählung des Films folgt hier weitgehend den Memoiren der Vietnamesin
Le Ly Hayslip, die in zwei Büchern veröffentlicht wurden. Die
ersten Bilder des Films schaffen bereits eine emotionale Basis, auf der
das stark affektiv ausgerichtete Gerüst dieses Films fußt:
In elgischen horzontalen Schwenks werden wir mit einem nahezu idyllischen
Land konfontiert, Vietnam. Die Reisbauern bringen in saftig grünen,
fruchtbaren Feldern ihre Ernte ein, malerische Wolken lassen den Himmel
in mystischem Licht erstrahlen. Es ist die Zeit nach dem Einmarsch der
Franzosen: Das Mädchen Le Ly kann bei ihren Eltern eine kurze, unbeschwerte
Kindheit verbringen. Stone scheut nicht vor der verklärten Perspektive
dieser Kindheitserinnerung zurück, um den Bruch ungleich stärker
zur Geltung zu bringen: Mit dem Einmarsch der amerikanischen Soldaten
scheinen Himmel und Hölle die Plätze zu tauschen. In die Ruhe
des friedlichen Landes lässt Stone die knatternden Rotoren der Kampfhubschrauber
eindringen. Der Zuschauer soll die Invasion aus der Sicht des Opfers erleben,
dicht ins Gras gekauert, angsterfüllt. Hier beginnt der persönliche
Exorzismus eines ‘schuldigen’ Regisseurs, der ehemals selbst
in jenen Maschinen saß, die die Hölle brachten. Waren die vietnamesischen
Soldaten in PLATOON noch anonyme Aggressoren, degradiert er hier die Amerikaner
zu undeutlichen, bedrohlichen Schatten. Vom Makel der ploitischen Neutralität
‘behaftet’ gerät Le Ly zwischen die Fronten. Vom Vietcong
als Verräterin verurteilt, wird sie von früheren Bekannten -
jetzt erklärte Feinde - brutal vergewaltigt. Wieder nimmt die Kamera
die ‘Untersicht’ des Opfers ein, simuliert die Montage des
Zurzschluss der gestressten Gedanken.
Auch die Amerikaner nehmen Le Ly gefangen und foltern sie, da sie dort
wiederum als Kollaborateurin des Vietcong angesehen wird. Sie strandet
schließlich in Da Nang, wo sie als Schwarzmarktverkäuferin
und Prostituierte für amerikanische G.I.s ihren Lebensunterhalt bestreitet.
Nur einem Mann gelingt es durch charmante Beharrlichkeit, die Mauer des
Misstrauens zu durch brechen: dem amerikanischen Sergeanten Steve Butler,
der Le Ly mit seinen utopischen Schilderungen eines paradiesischen Amerikas
verzaubert. Doch wieder entpuppt sich der versprochene ‘Himmel’,
das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, als ‘Hölle’.
Sowohl der Vietnamverteran als auch die asiatische Einwanderin können
ihre schwache Position in der amerikanische Gesellschaft nur schwer behaupten.
Amerikanischer Konsumwahn und schwach kaschierte Intoleranz dominieren
eine dekandente und hemmungslos materialistische Gesellschaft. Die Untersicht
des amerikanischen Traums, unlegt von dem süsslichen Popsong „Sugar“
der Archies. Le Ly überwindet die anfängliche Überwältigung
schnell und geht auf Distanz. Sie entfremdet sich von ihrem Ehemann, der
zudem von Kriegserinnerung geplagt wird. Der Film deutet an, dass er Mittäter
eines Kriegsverbrechens gewesen ist, über das er beharrlich schweigt.
Mit dem Ende des Films ist das Schicksal einer weiteren Kriegsgeneration
besiegelt. Le Ly steht vor der Leiche des ehemaligen Invasoren.
Was als ebenso philosophisch wie psychologisch differenziertes Charakterporträt
einer adoleszenten Frau in existenziellen Situationen beginnt, entwickelt
sich gegen Ende hin zum Veteranen-Melodram, dessen durchschaubare filmische
Mechanismen eine Distanzierung zum zunächst zermürbenden Thema
ermöglichen. Stone nähert sich hier den Hollywoodstereotypen
Steven Spielbergs, der seit THE COLOR PURPLE (1985) stets bereit ist,
eine existenziell nahezu unerträgliche Situation melodramatischen
Erwartungshaltungen zu opfern und so starken Stoffen eine verwässerte
Beliebigkeit zuzuführen. Trotz der etwas ‘behaupteten’
Ambivalenz der Veteranenfigur, die Jones in gewohnter Greisgrämigkeit
verkörpern darf, ist die Intensität von Stones erstem weiblichen
Protagonisten jedoch nicht zu unterschätzen. Le Ly ist die erste
Stone-Frau, die in einem existenzialistischen Akt ihr eigenes Leben in
die Hand nimmt und nach Jahren des opfertypischen Verharrens der gescheiterten
amerikischen Utopie die Macht des Individualismus’ entgegensetzt.
„Ich denke, NATURAL BORN
KILLERS ist eine Art Swiftsche Satire. Es war ein sehr geteilter Film,
und ich denke, ein sehr mißverstandener. Aber es gab eine große
Anhängerschaft für diesen Film, und es gibt sie noch, von jungen
Leuten. Es ist ein sehr radikaler Film, der - so denke ich - eine neue
Grammatik eingeführt hat.“
(Oliver Stone)
14. NATURAL BORN KILLERS
Stilistisch gesehen ist NATURAL BORN KILLERS der Höhepunkt
von Oliver Stones Oeuvre. Der Schlüssel zum Skandal dieser Mediensatire
liegt weniger in der Darstellung von Gewaltakten, obwohl diese vor allem
in der Gefängnissequenz ein verheerendes Ausmaß annehmen, sondern
tatsächlich in der tiefgehenden Desorientierung, die der Film beim
Zuschauer anrichtet. Stone mobilisiert sämtliche audiovisuellen Möglichkeiten,
die ihm zur Verfügung stehen, um sein Killerpärchen-Roadmovie
systematisch in eine zermürbende Manipulationsmaschinerie zu verwandeln.
Dabei geht er sogar die Gefahr ein, zu einem derart ästhetisierten
Kunstprodukt zu werden, vor dem diese Mediensatire eigentlich warnen will.
Nach einem ursprünglich weit konventionelleren Drehbuch von Quentin
Tarantino erzählt der Film die Geschichte des äußerst
gewalttätigen Pärchens Mickey (Woody Harrelson) und Mallory
(Juliette Lewis), die auf ihrem Weg per Auto durch Amerika zahlreiche
Leichen hinterlassen. Verfolgt werden sie von dem psychopathischen Polizisten
Scagnetti (Tom Sizemore), der die beiden insgeheim bewundert und Mallory
sexuell begehrt, und dem True-Crime-Reporter Wayne Gale (Robert Downey
Jr.), der schnell Medienstars aus ihnen macht. Mit der Festnahme Mickeys
und Mallorys in einem Einkaufszentrum beginnt das zweite Kapitel des Films:
Gale will Mickey im Gefängnis exklusiv über seine destruktive
Weltsicht interviewen, doch diesem gelingt es schnell, einen blutigen
Gefängnisaufstand zu entfesseln, durch den das Pärchen mit dem
Reporter als Geisel fliehen kann. Gale wird ihr letztes Opfer, bevor sie
- wie die letzten Bilder des Films nahelegen - ihr zweifelhaftes Glück
in einer White-Trash-Ehe finden.
Oliver Stones Stil, ein multimedialer Overkill, prägte sich in THE
DOORS und JFK aus, sorgte in NATURAL BORN KILLERS zur Auflösung verläßlicher
Referenzen und klarer Bedeutung und kann in dem Unterhaltungsfilm U-TURN
bereits als Masche bezeichnet werden. Waren die auf den ersten Blick verwirrenden
Motivketten aus THE DOORS letztlich schlüssig und schufen oft allzu
deutliche allegorische Verbindungen, spielt Stone hier bewußt mit
einer Zersetzung und Zersplitterung des Leitmotivs. Bedeutung wird konstituiert,
variiert und schließlich in ihr Gegenteil verkehrt, um dem Zuschauer
die Verläßlichkeit längst abgenutzter Bilder zu entziehen.
Erst in U-TURN kehrt diese direkte Konnotation der Motive wieder ein.
Um zu zeigen, wie Stone arbeitet, bietet sich das Motiv der Schlange an,
das sich vor allem durch die erste Hälfte des Films zieht. Bereits
in der dritten Einstellung des Vorspanns wird dieses Tier in einer schwarzweißen
Nahaufnahme etabliert, deutlich verbunden mit Begriffen von Wildheit und
Gefahr. Die Schlange wird dann zum Teil von Mickeys Vorgeschichte: Nicht
nur ein Wirbelsturm, sondern auch eine Klapperschlange, die das Polizeipferd
erschreckt, verhilft ihm zur Flucht. Hier kommt der Schlange die Funktion
eines schamanischen Schutztieres zu, ein deutlicher Verweis auf THE DOORS.
Als Mickey und Mallory ihr heidnisches Hochzeitsritual feiern, verbindet
sich ihr Blut in einer surrealen Zeichentrickeinblendung ebenfalls in
Form von Schlangen, die sich ineinander winden. Auch der Ehering zeigt
Schlangeform, ebenso wie die Gummi-Imitationen auf der Ablage vor der
Windschutzscheibe. Das Tier wird zum Symbol der Beziehung. Mit dem Besuch
des indianischen Medizinmannes vollzieht sich eine Wendung im Schicksal
des Paares. Gemessen an Stones deutlichen schamanistischen Bezügen
und seiner Wertschätzung für Naturreligionen muß die Indianersequenz
als Schlüssel zur Moralität des Films betrachtet werden. Mickey
und Mallory werden aufgrund ihrer problematischen Vorgeschichte als Soziopathen
präsentiert, deren Gewalt sich zunächst an Mallorys Eltern entzündet
und in der Folge an meist sexistischen, tumben und korrupten Vertretern
des White Trash abreagiert wird. Vor allem die anfängliche Diner-Sequenz
suggeriert das spielerische Verhalten als eine unschuldige, unreflektierte
Form der Destruktivität. Deshalb kann und muß man dieser in
vielerlei Hinsicht subjektiven Sequenz einen gewaltverherrlichenden Charakter
zusprechen. Stone arbeitet bewußt mit dieser euphorisierenden Form
der medialen Gewalt, um seine späteren Momente - namentlich die Indianer-Sequenz
- kontrapunktisch dazu aufzubauen. In der Hütte des Medizinmannes
findet sich ebenfalls eine Schlange, die ihn veranlaßt, seinem Sohn
eine kurze Fabel zu erzählen: Eine Frau nimmt eine kranke Schlange
bei sich auf, pflegt und füttert sie. Als das Tier gesundet ist,
beißt es die Frau, die verwundert nach dem Grund fragt, den schließlich
habe sie sie gepflegt. „Frau,“ sagt die Schlange, „du
wußtest, daß ich eine Schlange bin.“ Verwirrt durch
einen Alptraum erschießt Mickey bei Nacht den Gestgeber. Er und
Mallory sind zu der bedrohlichen Schlange aus der Fabel geworden, was
ihm Mallory auch vorwirft: „Er hat uns gefüttert und in seine
Hütte gelassen.“ Aus dem Symbol für die Beziehung ist
die Identität des Paares geworden. Mickey und Mallory haben erst
jetzt ihre eigentliche Unschuld verloren: Sie haben das Heilige getötet.
Doch aus der Schlangen-Identität wird umgehend eine weitere Täuschung.
Auf dem Weg zum Auto werden beide von Schlangen gebissen, die die gesamte
Wiese bedecken. Die Suche nach dem Gegengift in einem neonhellen Drugstore
wird das Schicksal des Paares besiegeln. Hier endet die Verwendung des
vielfach variierten Schlangenmotivs. Mit der konzeptuellen Veränderung
des Films vom Roadmovie zum Gefängnisdrama verschwindet dieses vermeintliche
Motiv partnerschaftlicher Gebundenheit.
„Mit einem großen Namen,
der Nixon spielt, trifft eine Ikone auf die andere, das ist somit ein
Problem der Glaubwürdigkeit. [...] Anthony Hopkins wuchs arm auf
wie Nixon und kämpfte mit seinen eigenen Dämonen, also machte
er dessen Reise zu seiner eigenen.“
(Oliver Stone 1995)
15. NIXON
Oliver Stone hat immer wieder betont, wie sehr er sich während
der Recherche zu seiner politischen Biografie NIXON (1995) mit dem berüchtigten
Staatsmann identifiziere. Dieser Mann, der die Schattenseite der amerikanischen
Gesellschaft verkörperte, sei ihm in all seinen Obsessionen, seinen
Komplexen und seinem fehlgeleiteten Glauben an das ‘Gute’
gleichermassen zuwider wie ähnlich. Anders als J.F.K., der nur indirekt
von seinem titelgebenden Vorbild berichtet, stellt NIXON in der Tat eine
Biografie dar, die in komplex montierten Assoziationsfetzen von der Kindheit
bis zum Tod reicht. Dabei verhehlt Stone diesmal auch nicht die Subjektive
seiner Erzählhaltung: Er macht angesichts der dramatiserten Struktur
und der zahlreichen offensichtlich fiktiven, konstruierten Szenen den
Film deutlich als Shakespearsches ‘Königsdrama’ kenntlich.
Der von Anthony Hopkins aufzehrend dargestellte Politik reibt sich zusehends
zwischen den selbstgeschaffenen Fronten auf. Sein Vergangenheit wird ihn
immer wieder einholen, sei es die ärmliche Kindheit auf einer Zitronenfarm,
seine mittelmäßige Hochschulkarriere oder seine Beteiligung
bei McCarthys ‘Hexenjagd’. Immer wieder scheint er zwischen
Selbstzweifeln und Machtgier zu pendeln, bis er um sich herum eine derart
komplexes System von Unsicherheit, Denunziation und Mißtrauen schafft,
dass er sogar zu seiner Frau (Joan Allen) und seinen Vertrauensleuten
auf Distanz gehen muss.
NIXON beginnt mit dem latenten Untergang des Präsidenten in Werk
und Ausführung: Unter Anführung des zwielichtigen Howard Hunt
(Ed Harris) brechen einige Beauftragte der Regierung in das Wahlbüro
der Demokraten ein. Sie werden gefasst und bringen damit eine Lawine ins
Rollen: Hunt hatte mit Nixon bereits während eines geheimen Kuba-Komplotts
zusammengearbeitet und hat ihn letztlich in der Hand. Seinen politischen
Tod ahnend, hört sich der panische Präsident einige der geheimen
Tonbandaufzeichnungen aus seinen Regierungssitzungen an, mit deren Hilfe
sich seine Verwicklung in korrupte Regierungsgeschäfte mühelos
beweisen lässt. Hopkins spielt hier die Neurosen eines hetzten Charakters
in allen Farcetten aus: über seiner Oberlippe schimmern Schweißtropfen,
der Kopf ist immer leicht zwischen die Schultern zurückgezogen, seinen
zitternden Händen entgleiten die Dinge... In einer späteren
Sequenz wird er achtzehn Minuten aus einem der Bänder löschen,
eine Tatsache, die bei deren gerichtlicher Auswertung zusätzlich
belastend wirkt.
Mit seiner psychoanalytisch verschachtelten Dramaturgie sucht Stones Film
in Nixons Vergangenheit die Saat der Korruption, aber auch die Basis jenes
verzehrenden Ehrgeizes, der ihn manisch treibt. Er zeigt den strafenden
Vater, einen konservativen Arbeiter, er zeigt die Mutter (Mary Steenburgen),
die auch in späteren Vision auftaucht, und bereits von dem Jungen
Richard als „Heilige“ verehrt wird. In einer Schlüsselsequenz,
in der Nixon die Schlüsselfunktion des Todes in seinem Wirken vor
Augen tritt, erinnert er sich an seinen tuberkulosekranken Bruder, dessen
qualvoller Tod sein Jurastudium finanziell möglich machte, ein ewig
lastender Schuldkomplex auch diese Tatsache. Die meist in der amerikanischen
Depressionszeit der dreißiger Jahre spielenden Szenen wurden von
Kameramann Robert Richardson in einem grobkörnigen, leicht flackernden
Schwarzweiß gedreht, das sorgfältig die Athmosphäre jener
zeitgenössischen Filme rekonstruiert. Dieser inhaltlich durchaus
begründete Manierismus dürfte Oliver Stone besonderes Vergnügen
bereitet haben, bedenkt man seine deutliche Nähe zu einem anderen
genuin amerikanischen Regisseur, John Ford. Auch auf die sechziger Jahre
richtet er einen dem entsprechenden Dokumentarmaterial abgeleiteten Blick:
kräftige, gesättigte Farbflächen ergänzen sich mit
der akriebischen Ausstattung zu einem überzeugenden Simulakrum. NIXON
gelingt in dieser Atmosphäre sogar das Wagnis, bekannte Gesichter
in ebenso bekannten Rollen auftreten zu lassen. Ikonen spielen Ikonen:
der Shakespeare-Darsteller Hopkins den Präsidenten, Ed Harris den
Verschwörer, James Woods den radikalen Handlanger Haldeman, Larry
Hagman einen texanischen Rassisten und Bob Hoskins den affektierten homosexuellen
J. Edgar Hoover. Einige der Figuren sind in diesem Kontext dennoch überzeichnet,
etwa der von Paul Sorvino gespielte Henry Kissinger, der in seiner undurchschaubaren
Position zwischen den Fronten agiert und in einer finalen Sequenz folgsam
mit Nixon zum gemeinsamen Gebet niederknien muss. - Seine aus J.F.K. bekannten
manipulativen Montagen und Attraktionsmontagen setzt Stone auch hier ein,
wenn auch weit sparsamer. Wenn der Vietnamkonflikt auf höchster Regierungsebene
verbael ausdebattiert wird, schneidet er dazu Dokumentarbilder schwer
verletzter Soldaten und Zivilisten, wenn gegen die demonstrierenden „Gammler“
gehtezt wird, sieht man bereits die Opfer der Polizeischlagstöcke
fallen. Er versucht also eine Balance zwischen den Papiertätern und
den realen Opfern herzustellen. Als sich Nixon zu der Bemerkung hinreißen
lässt, zur Not würde er den Vietnamkrieg auch mit der Atombombe
beenden, fällt sein Blick unwillkürlich auf das blutige Steak
auf seinem Teller.
Nixon, wie ihn Stones Film darstellt, ist in gewisser Weise der Schatten
von John F. Kennedy. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, hatte
es nie leicht mit seiner Karriere, konnte nie der geliebte Privatmann
werden, dessen Famiele zur amerikanischen Vorzeige-Ikone avancierte. In
der vorletzten Sequenz schreitet Nixon auf dem Weg zu seiner Rücktrittsansprache
durch das Weiße Haus. Als er eine Gemälde John F. Kennedys
passiert, bringt Stone mit einem einzigen Ausspruch den politischen Komplex
seines Werkes auf den Punkt: „Wenn die Amerikaner Kennedy anblicken,
sehen sie, was sie sein möchten, wenn sie mich anblicken, sehen sie,
was sie sind...“
„[In U-TURN] sagt Jon Voight,
wir sind alle Tiere, die innen leben. Daher kommen all diese Bilder, um
das zu unterstreichen. Man sieht ausgestopfte Köpfe, Klapperschlangen.
Man hört die Tiere auch. Sehr elementare Leidenschaften brechen in
diesem Film durch und die Parallele ist die Welt der Tiere.“
(Oliver Stone)
16. U-TURN
Nach zwei sehr gewichtigen Werken war der Road-Movie-Thriller
U-TURN bewusst als selbstironische und - referentielle Fingerübung
angelegt. Um sich von einer inhaltlichen Gewichtung von vorneherein zu
verabschieden, nahm es Stone hier sogar in Kauf, die Handlung von John
Dahls RED ROCK WEST (1995) zu plagiieren, verlegte statt dessen sein geballte
Kraft in Spiel und Stil. Bereits in der Vorspannsequenz setzt er auf die
Medienkompetenz des Zuschauers, verbindet Elemente des Road Movies und
des Westerns sorglos mit Motiven aus den ROADRUNNER- und TOM AND JERRY-Cartoons.
Der für NATURAL BORN KILLERS entwickleten Clipästhetik folgend,
wechselt er Farbe und Schwarzweiss, baut irritierende Jumpcuts ein und
verlässt immer wieder die personale Perspektive des Protagonisten
(Sean Penn), um die Aufmerksamkeit auf verfaulendes Roadkill zu verlagern.
In zeitlicher Verfremdung lässt er die Wolken in Zeitraffer über
den strahlend blauen Himmel ziehen. Ennio Morricones Filmmusik darf er
mit dem Ende der Vorspannsequenz einsetzen - der klassische Komponist
variiert hier seine Italowestern-Motive -, zuvor mischt Stone wild und
chaotisch verschiedenste Musikstile zusammen, motiviert durch die launige
Radiomanipulation des Fahrers, wobei wie in NATURAL BORN KILLERS und THE
DOORS monströs verfremdete Naturgeräusche eingebaut werden,
z.B. das Rasseln einer Klapperschlange.
Auch über den Fahrer erzählt dieser multimediale Overkill Wesentliches:
Seine Hand ist mit einem blutigen Verband umwickelt, er schluckt Schmerztabletten
direkt aus der Dose, seine Wahrnehmung erweist sich in stark verzerrten
subjektiven Einstellungen als gestört. Es handelt sich um einen verzweifelten
Mann auf der Flucht. Der pendelnde Schlüsselanhänger mit einer
metallenen Karo-Ass-Karte weist ihn als Spieler aus, der sich vermutlich
mit Spielschulden abgesetzt hat. Als ein Polizeiwagen vorbeirast, erschrickt
er: Er befindet sich wie der klassische Film-Noir-Held zwischen allen
Fronten, Trieb und Motivation seines Handelns ist Angst ums nackte Überleben.
Mit dem Beginn von Morricones Western-Thema kommt er mit dampfendem Kühler
an einer Weggabelung an. Ein „U-Turn“ sei hier „erlaubt“,
doch unserem Helden ist dieser Schritt zur Umkehr nicht mehr möglich.
Er sucht die nächste Autowerkstatt auf.
Die grotesken Elemente kommen hier, in der filmischen Topographie und
personellen Charakterisierung des kleinen Wüstenstädtchens,
erstrecht zum Tragen. Der Automechaniker ist ein hinterhältiger Freak
mit Badekappe, der den über alles geliebten roten Mustang des Protagonisten
mit pragmatischer Verachtung misshandelt. Auf der Hauptstrasse sitzt ein
bildener Indianer (Jon Voight) vor seinem toten Hund. Er sei in Vietnam
erblindet. Hier zeigt unser Spieler Herz: Er holt dem Bettler eine Cola.
Der Indianer erweist sich als der Allwissende „Seher“ des
Ortes, eine der zahlreichen Schamanenfiguren aus Oliver Stones Oeuvre.
Wissenden Lächelns begleitet er den schleichenden Untergang der weissen
Eindringlinge. Auch das Mädchen (Jennifer Lopez), Sean Penns augenblicklicher
Love-Interest, ist Indianerin. In ihrem leuchten orangen Kleid und mit
ihrem gepflegten Körper sticht sie aus der spärlichen Bevölkerung
des Geisterstädtchens heraus. Sie zeigt sich dem spontanen Kavalier
erstaunlich offen, lässt ihm jedoch keine Illusion: Er ist der Eindringling
in einem autarken Systm, in dem alles und jeder seinen Platz und seine
Funktion hat, das ein Aussenstehender nicht einmal ansatzweise durchschauen
kann. Penns Figur reibt sich zwischen den Fronten dieses Systems auf,
den die Leute sind ihm immer einen Schritt voraus. Jeder hier geht seinen
abstrusen Tätigkeiten nach, ist jeweils anderen Mitbürgern verpflichtet
oder ausgeliefert. So lebt die junge Frau in inzestuöser Abhängigkeit
von ihrem gewalttätigen Vater (Nick Nolte), ködert jedoch unaufhörlich
auch den korrupten Sheriff (Powers Boothe), alles Faktoren, die dem Eindrungling
zum mörderischen Verhängnis werden sollen...
Stone bemühte sich, aus U-TURN ein deutlich mehrfachcodierten Film
nach Art der Coen-Brüder zu drehen: einen ironisch-brutalen Thriller,
der ebenso als Komödie wie auch als Gangsterdrama, Erotikthriller
oder Neuzeitwestern funktioniert, ohne die Freude am postklassischen Spiel
auszuklammern. U-TURN ist angesichts seines spielerischen Elements in
der Tat der erste Stone-Film, der mit dem Attribut „postmodern“
belegt werden könnte. Da es Stones jedoch ungeachtet aller Iornie
bis dahin todernst war, fragt sich wiederum, ob die metareferentielle
Hülle hier nicht täuscht. Wieder ist der Schamane Schlüssel
zum Verständnis dieses vermeintlichen Unterhaltungscocktails: U-TURN
ist die bitterste Entlarvung einer von Intrigen, sozialen Masken und Gewaltlust
geprägten Gesellschaft, die selbst den entlegensten ländlichen
Winkel zu einer Hölle auf Erden wandeln kann. Wie in NATURAL BORN
KILLERS, dessen Anfangssequenz in den Sinn kommt, bleibt dem Betrachter
nur noch übrig, den latenten Untergang dieser maskierten Raubtiere
zu beobachten - und dabei wie einst Odin das Augenlicht für die Weisheit
einzusetzen.
„Football ist nach wie vor
ein heidnischer Ritus, er dient Männern und auch Frauen dazu, in
einem rituellen Spiel ihre Dämonen auszutreiben.“
(Oliver Stone 1999)
17. ANY GIVEN SUNDAY
Oliver Stones Filme vermitteln Fragmente einer vom amerikanischen
Pioniergeist durchdrungenen sozialen Utopie. Was zunächst wie eine
hemmungslose Verherrlichung des Idividualismus anmutet, der an einer ignoranten
und feindlichen Gesellschaft zugrunde gehen muss (TALK RADIO, THE DOORS,
J.F.K.), wird schließlich hier, in dem Sportlerdrama ANY GIVEN SUNDAY
(Jeden verdammten Sonntag, 1999) zuende gedacht: In dem perfekten System
von Stones amerikanischer Utopie arbeitet ein jedes Individuum zunächst
an der Perfektionierung seiner ureigenen Talente, um dann seinen funktionierenden
Platz im Organismus der Gesellschaft finden zu können. Die Gemeinschaft
funktioniert als „Team“, wie es der Trainer (Al Pacino) beschwört,
ohne das Individuum, die einzelnen, spezialisierten Spieler, zu zermalmen.
„Teamgeist“ ersetzt den totalitären Universalismus faschistischer
oder sozialistischer Gesellschaftsmodelle. Dass Stone wie viele verwandte
intellektuelle Künstler von einer schleichenden, latenten Diktatur
der Vertreter des Kapitalismus’ ausgeht, ist der eigentliche Konflikt
dieses Dramas, der die verzehrende Krise des Trainers einleitet. Er sieht
die traditionellen Werte des „Teamgeistes“ und der Loyalität
verfallen. Wie einer desillusionierter und dennoch stolzer Samurai liefert
er sich nach dem Tod des Teamchefs dessen skrupelloser Tochter (Cameron
Diaz) aus, die für die Diktatur des Kapitals steht und in ihrer Wertelosigkeit
sogar Vertreter des eigenen Standes (Charlton Heston) vergrault.
Diese Hinwendung zur amerikanischen Utopie als eigentlicher Basis dieses
Films macht ANY GIVEN SUNDAY zugleich zu Stones schwächstem Werk.
Der Film steht in bemerkenswerter Weise in Bezug zu Michael Manns zeitgleich
entstandenem Journalistendrama THE INSIDER (The Insider, 1999): In beiden
Filmen spielt Al Pacino einen letzten aufrechten Kämpfer für
Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, beide Filme enden zudem im finalen Triumph
des unbeugsamen Individuums über das korrupte System, dessen Behäbigkeit
der Schnelligkeit und Intelligenz des Individuums unterliegt. Sowohl Stone
als auch Mann hatten bis dahin ambivalente Charaktere in den Mittelpunkt
ihrer Arbeit gestellt, deren Wahrheitssuche durchaus aufrichtig gemeint
sein mag, die aber stets an ihrer skrupellosen Egozentrik scheitern mussten.
So mag die Profession der Mann-Figuren durchaus krimineller (THIEF; 1981)
oder ideologisch fehlgeleiteter (THE KEEP, 1983) Natur sein, in den Augen
dieser Protagonisten behält die Mission zumindest subjektiv an Wert.
Stone liess seine Antihelden zudem gegen ein System antreten, dessen Verworfenheit
sie letztlich mit ihrem eigenen Untergang bestätigten (TALK RADIO,
WALL STREET, THE DOORS usw.). ANY GIVEN SUNDAY jedoch relativiert die
begrenzte Macht des korrupten Systems („An jedem verdammten Sonntag
kannst Du entweder gewinnen oder verlieren...“), indem er dem Individuum
- sofern es im Sinne der Gemeinschaft denkt und handelt - die Mittel der
Manipulation und des ‘Spiels’ zurückgibt. Der ungebrochen
idealistische Trainer schlägt die Teamchefin schließlich mit
ihren eigenen Mitteln, indem er den Verein mit dem besten Spieler verlässt.
„Ich hoffe, ja ich glaube,
daß die Menschen in ihrem kollektiven Unterbewußtsein, von
dem Jung sprach, die Momente spüren, die wir alle aus der Geschichte
kennen. Wir fühlen, was richtig ist. [...] Die kollektive unterbewußte
Erinnerung der gesamten menschlichen Rasse. In der Angst selbst, dem Konzept
von Angst, das wir alle durchleben, wenn wir beängstigenden Objekten
begegnen.“
(Oliver Stone, Berkeley 1997)
18. SCHAMANE
Oliver Stone spricht von Filmen als der Begegnung mit dem
„dream life“, oder dem „collective dream life“.
Für ihn ist die Inszenierung und die Rezeption von Filmen im besten
Falle ein ritueller, heiliger Akt. Er erstrebt die Initiation des Zuschauers,
ein Bewußtwerden verdrängter, latenter Potentiale. Dem Regisseur
kommt hier - eine sehr einsame Position in der Filmlandschaft - die Funktion
des Schamanen zu, der als bewußtseinsfördernde Kraft in seinen
Filmen immer wieder auftaucht. Er wollte mit seiner Kunst ein „spirituelles
Element des amerikanischen Lebens restaurieren“ (Berkeley 1995).
Der Schamane, wie ihn die Ethnologie definiert, ist zugleich Heiler und
Chronist seiner Gesellschaft: Er ist „eine kultische Person, die
durch ekstatische Techniken mit transzendenten Wesen in Verbindung treten
kann,“ so Walter Hirschberg. In seinen meist ekstatischen, manchmal
drogenbeeinflussten schamanistischen Sitzungen kommunizierte er mit der
Welt der Ahnen, er begibt sich in die Vorgeschichte seiner Gesellschaft,
um den Weg zur Heilung und Erkenntnis zu erfahren. Diese Reisen sind von
Schrecken und Entbehrung geprägt, der Schamane verliert jedoch nie
sein konstruktives Ziel aus den Augen. Zugleich lebt und vermittelt er
so die Mythen seiner Gesellschaft, in denen kulturelle Identität
und Historie gleichermassen verschlüsselt liegen. „Der Schamane
ist ein Mittler zwischen seiner Gruppe und den übermenschlichen Mächten.
Die Mittlerfunktion übt er mit Hilfe der Ekstase aus, welche ihn
befähigt, mit den Geistern zu verkehren, um seine Gruppe anhand bestimmter
Formen und Riten dienstbar zu sein,“ so formulierte es Mircea Eliade
1956 in „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“. - Chronist
und Heiler, Prophet und Weiser; Figuren aus den Filmen von Oliver Stone,
einem Filmemacher, der selbst immer wieder in Geschichte und Mythologie
dieses Landes Amerika eintaucht, um verzweifelt einen Weg aus dem latent
drohenden Dilemma zu finden; im Versuch, eine Welt am apokalyptische Rand
zum Bewusstsein ihres eigenen Untergangs zu bringen, einen U-Turn, die
konstruktive Umkehr in ein besseres Leben, anzudeuten.
Oliver Stones letzte gültige Maxime, deren Essenz sein gesamtes Werk
durchdringt, ist die höchste denkbare Wertschätzung des Lebens:
„Lebt Euer Leben bis an die Grenzen. Tut so, als sei jeder der letzte
Tag. Treibt alles auf die Spitze und genießt es, wenn ihr es tut.“
FILMOGRAFIE
Regie und Drehbuch:
1970 LAST YEAR IN VIETNAM (Kurzfilm, 8 Minuten)
1970 STREET SCENES (Kurzfilm)
1971 MAD MAN OF MARTINIQUE (Kurzfilm, 20 Minuten)
1972 MICHAEL AND MARIE (Studentenfilm)
1974 SEIZURE / Herrscherin des Bösen
1981 THE HAND / Die Hand
1986 SALVADOR / Salvador
1986 PLATOON / Platoon
1987 WALL STREET / Wall Street
1988 TALK RADIO / Talk Radio
1989 BORN ON THE FOURTH OF JULY / Geboren am 4. Juli
1991 JFK / John F. Kennedy - Tatort Dallas
1991 THE DOORS / Die Doors
1993 HEAVEN AND EARTH / Zwischen Himmel und Hölle
1994 NATURAL BORN KILLERS / Natural Born Killers
1995 NIXON / Nixon
1997 U-TURN / U-Turn - Kein Weg führt zurück!
1999 ANY GIVEN SUNDAY / An jedem verdammten Sonntag
Nur Drehbücher:
1978 MIDNIGHT EXPRESS / Zwölf Uhr nachts,
R: Alan Parker
1981 CONAN THE BARBARIAN / Conan der Barbar, R: John Milius
1983 SCARFACE / Al Pacino - Scarface, R: Brian de Palma
1985 YEAR OF THE DRAGON / Im Jahr des Drachen / Chinatown Mafia / Manhattan
Massaker, R: Michael Cimino
1986 EIGHT MILLION WAYS TO DIE / Acht Millionen Wege zu sterben, R: Hal
Ashby
1996 EVITA / Evita, R: Alan Parker
Nur Produktion:
1973 SUGAR COOKIES / Sugar Cookies, R: Theodore Gershuny
1990 REVERSAL OF FORTUNE / Die Affäre der Sunny von B., R: Barbet
Schroeder
1990 BLUE STEEL / Blue Steel, R. Kathryn Bigelow
1991 IRON MAZE / Iron Maze - Im Netz der Leidenschaft, R: Hiroaki Joshida
1992 ZEBRAHEAD / Zebrahead, R: Anthony Drazan
1992 SOUTH CENTRAL / Souht Central - In den Strassen von L.A., R: Steve
Anderson
1992 BEYOND J.F.K.: THE QUESTION OF CONSPIRACY, R: Barbara Koplle, Danny
Schechter
1993 WILD PALMS / Wild Palms (TV-Serie), R: Kathryn Bigelow, Peter Hewitt,
Phil Joanou, Kieth Gordon
1993 THE JOY LUCK CLUB / Töchter des Himmels, R: Wayne Wang
1994 THE NEW AGE / The New Age, R: Michael Tolkin
1995 KILLER: A JOURNAL OF MURDER / Killer - Tagebuch eines Serienmörders,
R: Tim Metcalfe
1995 INDICTMENT: THE MCMARTIN TRIAL / Unter Anklage: Der Fall McMartin
(TV), R: Mick Jackson
1996 FREEWAY / Freeway, R: Matthew Bright
1996 THE PEOPLE VS. LARRY FLYNT / Larry Flynt, R: Milos Forman
1998 ASSASSINATED: THE LAST DAYS OF KENNEDY AND KING (TV), R: Vince DiPersio
1998 SAVIOR / Savior - Soldat der Hölle, R: Peter Antonijevic
1999 CHAINS / JOHNNY SPAIN, R: Paula Walker
1999 THE ART OF WAR, R: Christian Duguay
1999 THE CORRUPTOR / Corruptor, R: James Foley
Marcus Stiglegger
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