Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Volker Roloff (Hg.)

Surrealismus und Film
Von Fellini bis Lynch

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Juni 2008, 326 S., kart., 29,80 €
ISBN 978-3-89942-863-6

Puristen verorten den filmischen Surrealismus genau zwischen Luis Bunuels und Salvado Dalis experimentellen Filmen DER ANDALUSISCHE HUND (1928) und DAS GOLDENE ZEITALTER (1930). Nicht einmal Antonin Artauds DIE MUSCHEL UND DER KLERIKER (1928) mag so recht dazu zählen. Fasst man das Konzept des Surrealismus jedoch weiter, spricht man gar vom Surrealen im Film, bieten sich erstaunliche Perspektiven: So gerät nicht nur Bunuels eigenes Spätwerk von BELLE DE JOUR (1967) bis DAS OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE (1980) in den Fokus, sondern eine ganze Reihe von Filmen der 1960er und 1970er Jahre, die gelegentlich als "Neuer Surrealismus" (Reclams Sachlexikon des Films) bezeichnet werden. Dazu zählen einige Werke von Federico Fellini, Louis Malle, Michaelangelo Antonioni, vor allem aber Fernando Arrabals ICH WERDE LAUFEN WIE EIN VERRÜCKTES PFERD (1972) und Alejandro Jodorowskys EL TOPO (1970) und MONTANA SACRA (1972). Dazu kommt eine Tradition aus Belgien - von Harry Kümels MALPERTUIS (1974) bis Olivier Schmolders BLACK NIGHT (2004). Selbst Peter Fleischmanns DOROTHEAS RACHE wäre zu nennen.

Die vorliegende Textsammlung "Surrealismus und Film" bemüht sich ihrerseits um einen Blick auf die Kontinuität des klassischen Surrealismus-Konzepts, ignoriert jedoch gerade die genannten Traditionen der 1970er Jahre. Welles und Fellini werden zwar genannt, ansonsten konzentriert man sich jedoch auf Werke mit surrealen Elementen: Godard, Almodóvar, Greenaway, Herzog, Kubrick (!) und natürlich der unvermeidliche David Lynch.

Die Einleitung erklärt denn auch, dass es hier eher um eine "Ästhetik des Surrealen" geht. Die wird auch einleuchtend definiert (S. 11). Warum jedoch nciht einmal in diesem Kapitel die Historizität der Entwicklung Berücksichtigung findet, ist rätselhaft.

Bleiben die einzelnen Beiträge des Bandes, der auf einem Symposium an der Universität Siegen (Forschungsbereich Medienumbrüche) basiert. Und die bieten erwartungsgemäßt zahlreiche spannenden Ansätze, Einsichten und Ideen. Man beginnt bei den etablierten Klassikern (Fellini, Godard, Antonioni, Greenaway, sogar Orson Welles' F FOR FAKE findet eine Würdigung). Eine Untersuchung dieser Elemente bei Werner Herzog schien ebenso überfällig ("Rigoletto im Regenwald" von Gerhard Wild, S. 89).

Wirklich spannend wird es dann mit den eher abseitigen Beispielen. So entdeckt Isabel Maurer Queipo Pedro Almodóvars vergessenen Nunsploitationfilm DAS KLOSTER ZUM EHILIGEN WAHNSINN wieder, und Petra Lange-Berndt untersucht Jim Jarmuschs Jenseitswestern DEAD MAN auf dessen surreale Motive.

EYES WIDE SHUT ist ein Traumspiel, fürwahr, doch irgendwie überrascht es, diesen Film hier zu finden. Walburga Hülk kann ihn überzeugend aufarbeiten (S. 187). Sehr erfreulich ist die bereits auf dem Cover gewürdigte Präsenz des weitgehend unterschätzten US-Thrillers THE CELL, den Lena Butz eingehend auf die Traumphysiognomie hin untersucht (S.205), wobei auch Illustrationen zu hervorragendem Einsatz kommen. Im Zentrum stehen dabei die "surrealistischen rauenentwürfe" des Films, die ihren Höhepunkt in der Konstruktion lebendiger Puppen finden.

Mit SONGS FROM THE SECOND FLOOR, Jeunets AMÉLIE und del Toros Frankismus-Parabel PANS LABYRINTH kommen weitere Kultfilme zu Sprache. Man vermisst etwas Terry Gilliam, der vor allem mit TIDELAND deutlich in dieser Tradition steht.

Und nicht unerwartet stehen zwei Texte über David Lynchs surreale Bildwelten am Ende. Vor allem Nicole Glaubitz' und Jens Schröters TWIN-PEAKS-Ausführungen (S.281) sind erfreulich detailversessen ausgefallen.

Die eingangs monierte Ignoranz gegenüber modernen Klassikern wie Jodorowsky oder Kümel mag ein gravierendes Versäumnis sein, es schadet dieser Textseammlung jedoch nicht nachhaltig: Zu stark sind die meisten der einzelnen Beiträge, als dass die Qualität des Bandes gemindert wäre. Die einzelnen Texte sind erfreulich interessiert an filmanalytischer Erkundung und machen ihre Thesen meist transparent. In vielen Fällen werden Captions gelungen als Illustrationen genutzt, was vor allem bei weniger verfügbaren Filmen (Almodóvars KLOSTER etwa) äußerst sinnvoll erscheint.

So ist "Surrealismus und Film" grundsätzlich ein erfreulicher Beitrag zur filmwissenschaftlichen Literatur und eine brauchbare Sammlung für die ungebrochene Beschäftigung mit einem langlebigen Konzept: dem Surrealismus.

Marcus Stiglegger