SCHWESTER MEIN

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D 2004
Anbieter: :Ikonen: media (ikon01)
Regie: Marcus Stiglegger
Bild: 4:3 (Breitwand 1:2,35)
Ton: DD 2.0
Sprache: Deutsch
Untertitel: Englisch (optional)
Bonus: Regiekommentar, Booklet mit Notizen, weitere Kurzfilme: MALE, OPFER, TRAUMSPIEL, NEW YORK 1989.

Die Skyline einer Großstadt, nachts. Monochrome Bilder eines Molochs. Harte Industrial-Beats, wie der mechanische Herzschlag der Stadt. Die einzige Bewegung in den Bildern sind die U- und S-Bahnen, die durch die Häuserklüfte gleiten. Hier ist Bewegung, aber kein Leben. Ein Mann, allein, in dunklem Mantel gehüllt, kommt an einem Bahnsteig an. Ein Mann auf der Suche. Der Ort: ein Labyrinth...

Marcus Stigleggers Kurzfilm Schwester Mein beginnt mit den typischen Zutaten eines modernen Film noir. Die Ausgangssituation ist geradezu klassisch: ein Mann auf der Suche nach der Vergangenheit (hier: nach seiner verschollenen Schwester), die zur Suche nach seiner eigenen Identität, seinenm eigenen Schattenseiten gerät. Es geht um Schuld, Verdrängung, Entfremdung, Einsamkeit. Im Zentrum der Geschichte steht ein Mord. Oder vielleicht doch nur an der Peripherie, denn die zentrale Sequenz dieses 17minütigen Films ist die Konfrontation des Bruders mit der wahren Identität seiner Schwester, manifestiert in Form eines Underground-SM-Fetisch-Clubs, zu dem er sich Zutritt verschafft. Der Eintritt in diese fremde Welt ist inszeniert wie ein visueller und akustischer Überfall - plötzlich ist Farbe im Bild, dominiert von abwechselnden Rot- und Blautönen, die Schnittfrequenz steigt, Weißlenden und kurze Inserts fast wie Subliminalbilder spiegeln die Verstörung des Mannes. Eine SM Performance (von der Frankfurter Szene-Gruppe „Die kleine Gruftschlampe“, Fotos s.u.) zeigt die Begegnung von Menschen als ritualisierten Körperkult. Der Sound, passenderweise ein Industrial-Track mit Titel „Gille de Rais“ des Mannheimer Musikers W. Herich, wirkt zu Beginn wie ein Hörsturz und trägt zur verstörenden Irritation ebenso bei wie die unruhig-bewegliche Kameraführung. Natürlich hat hier die transgressive Offenbarung Gaspar Noés Irréversible Pate gestanden, auch wenn Stigleggers Bilder eine ganz eigene, langsamere, ja teilweise fast meditative Ästhetik bilden.

Der Mann flieht letztendlich von diesem Ort, der ihm freilich wie die Hölle erscheinen muss, der aber eigentlich der einzige Ort von Begegnung und Nicht-Einsamkeit ist. Draußen wartet die kalte, ruhige, monochrom-urbane Welt - und ein totes Mädchen in Fetisch-Kluft, erschlagen und ausgestreckt auf ihrem Bett...

Marcus Stiglegger, seines Zeichens Filmwissenschaftler, Autor und Filmemacher, und die Cutterin Melanie Dietz haben einen kurzen, harten Film geschaffen, der sich wie ein Puzzle, wie ein Rätselspiel verhält. Stiglegger selbst bezeichnet ihn als einen „allegorischen Psychothriller“, und dies trifft zu: die Filmbilder sind bevölkert mit Symbolen, Metaphern (Spiegel und Doppelgängermotivik, der Mann mit der Maske), Subliminalbildern, Bedeutung suggerierende Großaufnahmen von Dingen und Accessoires, bedrohlich-körperlosen Flüstern auf der Tonspur, Weißblenden, Farbsymbolik und nicht zuletzt intertextuellen Verweisen unter anderen zu Filmen von Noé, Darren Aronofsky, Andrzej Zulawski und des deutschen Expressionismus'. Zu dieser Atmosphäre des Unbestimmten und Bedrohlichen trägt auch der Sound des Ambient-Musikers Lutz Rach bei, mit dem Stiglegger schon bei mehreren Filmprojekten zusammengearbeitet hat.

Die Zeitstruktur des Films könnte man mit Gilles Deleuze als „Zeitkristall“ bezeichnen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in den Bildern zusammen und lassen sich nicht mehr klar trennen. Kausale Verknüpfungen sind daher schwer auszumachen – oder mit Noé: "Die Zeit zerstört alles."

Damit schlägt der Film auch eine Brücke zu einem anderen Kurzfilm Stigleggers, der als Bonusmaterial auf der DVD-Veröffentlichung vorhanden ist: der beeindruckende 16mm-Stummfilm Male (1997). Bereits der Titel ist polyphon (weswegen er seit kurzem auch den Untertitel „Medea“ trägt), das englische male steckt darin sowohl als das französische mal, das Böse. Doch eigentlich verweist der Titel ganz konkret auf die (Wund-) Male am Körper des einzigen Protagonisten, einer jungen Frau, die sich in der unwirklichen Umgebung der griechisch-antik anmutenden Säulen unter einer Autobahnbrücke (ein moderner, aber auch mythischer Ort) schleppend auf die Kamera zu bewegt.

Nach und nach enthüllen die Bilder den desolaten Zustand der Frau: ein Bein wird nachgezogen, sie ist in einen Männermantel gehüllt, trägt darunter ein Abendkleid. Ihr Körper fungiert als Zeichen des Geschehenen: Wunden im Gesicht, Blut, das über die Stirn rinnt – alles wird zu Malen, die dem Zuschauer erzählen wollen, was mit ihr geschehen ist. Oder durch sie geschehen ist. Denn die bloße Präsentation des Ergebnisses löst eine faszinierende Diffusität aus, was die Rolle der Frau anbetrifft: erscheint sie zunächst als Opfer (einer Vergewaltigung, eines Eifersuchtsdramas?) verunsichert sich diese Interpretation durch das Zeigen einer Schusswaffe, die sie ihrer Handtasche entnimmt. Wurde ihr etwas angetan, oder war sie selbst Auslöser einer Tat? Opfer oder Racheengel? Die Fantasie des Zuschauers wird durch die offene inhaltliche Struktur sowie die absolut geschlossene formale Stilisierung aufs äußerste angeregt. Dabei ist die Spekulation über das Geheimnis des Zuvor-Geschehenen nicht der eigentliche Fluchtpunkt des filmischen Genusses, sondern vielmehr gerade das Halten dieser verstörenden Spannung des Augenblicks – der vielleicht auch die Entspannung nach dem Geschehen, der Aktion, ist.

Auf die Ambivalenz von Opfer-Täter trifft man auch in Opfer (1994, s.o.), einer kleinen ironischen Hommage an die Filme Dario Argentos und Mario Bavas, wo sich die klassischen Opfer-Täter-Rollen plötzlich umkehren...

Desweiteren sind auf der DVD enthalten: Trailer und Outtakes zu Schwester Mein (s.o.), die Video-Übung Traumspiel (1990) im Stil eines Fields-of-the-Nephilim-Clips (Bilder s.u.)

Traumspiel (3 Fotos)

und New York (1989), der mit wie zufällig gefilmtem 8mm Material auf die Suche geht nach dem New York der „schmutzigen Thriller der 70er Jahre“– unterlegt einmal mehr mit der suggestiven Musik von Lutz Rach.

New York 1989 (3 Fotos)

PS: Ein Remix der Filmmusik zu SCHWESTER MEIN wird übrigens im Herbst auf :Ikonen: media erscheinen, als Teil der Compilation "...in the Crystal Cage".

Martin Lindwedel