IRREVERSIBEL

Bewertung: 5 / 5

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Originaltitel: Irreversible
F 2002
Regie: Gaspar Noé
Anbieter: Legend Film (Deutschland).
Bild: 2.25:1, 16:9 anamorph
Ton: deutsch 5.1, Französisch 5.1
Bonus: Kurzfilm, Making of, Videoclips, Trailer (der regiekommentar ist nur auf der französischen DVD)

IRRÉVERSIBLE konfrontiert uns mit einem eigenwilligen Vorspann: Die Titel ziehen rückwärts durchs Bild, beginnend bei kleinsten Funktionen, einige der Buchstaben spiegelverkehrt, dennoch so, dass man die Worte entziffern kann. Mit der Zeit kippt dieser endlose Fluss von Namen und Worten nach rechts aus dem Bild, bis die letzte Zeile verschwunden ist. Dann ein monotoner Perkussionrhythmus, jeder Schlag illustriert mit einem prägnanten Nachnamen: Cassell, Dupontel, Belluci, Noé. „Le temps détruit tout“, die „Zeit zerstöre alles“ lässt uns ein Insert wissen.

Dieser Satz wird wiederkehren, wenn sich die elegant schwingende und gleitende Kamera in ein karges Zimmer geschlichen hat, in dem auf einem verkommenen Bett zwei kaum bekleidete Männer sitzen. Wer Noés frühere Filme kennt, begegnet hier dem Pferdemetzger (Philippe Nahon) wieder, der hier möglicherweise in einem Männerwohnheim oder einem Gefängnis sitzt. Er spricht zu seinem Zimmergenossen über die Begierde, die ihn mit seiner Tochter verbindet, die ihn immer wieder ins Unglück riss – man kennt die Geschichte. Nichts könne rückgängig gemacht werden, die Zeit zerstöre alles. Wie der Vorgängerfilm SEUL CONTRE TOUS fasst auch dieses Werk die Geschichte von Noes Kurzfilm CARNE zusammen, doch dabei soll es nicht bleiben: Zu sehr bleibt der Kamerblick ein flüchtig streifender, zusammengehalten nur durch die kontinuierliche Erzählung des Mannes. Die Sprache kommt auf einen Schwulenclub vor dem Haus: Le Rectum. Dort hat sich Polizei versammelt...

Noé lässt die Kamera in aufwändigen Windungen aus dem Fenster gleiten und sich ohne Schnitt dem Eingang des Clubs nähern. Einer wandernden Seele gleich schaut sie hierhin und dorthin, wie die Inkarnation eines allwissenden Erzählers, der sich den Luxus erlaubt, das Geschehen einmal aus der Nähe zu betrachten. Zwei andere Männer rücken ins Zentrum des Geschehens, beide im Gewahrsam der Polizei, einer von ihnen auf einer Bahre – offenbar mit gebrochenem Arm, der andere in sichtlicher Aufregung. Die Kamera gleitet ohne Schnitt an der Gruppe vorbei in die dunklen Gänge des rot ausgeleuchteten Kellerclubs hinein. Hier wird die Seherfahrung des Zuschauers auf ein harte Probe gestellt: Nur gelegentlich werden Objekte gestreift, die klar erkennbar sind, manchmal kleine Personengruppen, sexuelle Szenarien, die der Film in aller Offenheit – wenn auch nur für Sekunden – präsentiert. Aus den Fragmenten ergibt sich das Bild eines schwulen S&M-Clubs, ständig untermalt von einem pulsierend rhythmisierten Geräuschteppich bzw. dem elektrischen Sirren der spärlichen Glühbirnen. Irgendwann sind wir wieder am Eingang des Clubs, und endlich wird deutlich, welchen Weg der Film einschlägt: Die beiden Männer aus der vorangehenden Sequenz reden hektisch auf den Einlasser ein. Marcus (Vincent Cassell) und Pierre (Albert Dupontel) suchen verzweifelt einen Mann namens El Tenia (der „Bandwurm“).

Aggressiv stürmen die beiden Männer, die noch unversehrt sind, den Club. Wir werden Zeugen einer radikal umgekehrten Erzählung: die Auswirkung geht der Ursache stets voraus, wobei die jeweils ungeschnittenen langen Sequenzen durch irritierende Kamerabewegungen in einer Art Zeittunnel verbunden werden. Die beiden Männer suchen also mit aller Vehemenz jenen mysteriösen Mann, der sich im Club verstecken soll. Die sexuell aktiven Gäste des Clubs werden langsam unruhig und ihrerseits aggressiv. Ein Mann setzt sich vehement zur Wehr, und Marcus glaubt, in ihm El Tenia gefunden zu haben. Später werden wir uns erinnern, dass der Gesuchte (Jo Prestia) tatsächlich anwesend ist, sich aber dezent zurückziehen kann, während Marcus und der Beschuldigte einen Kampf beginnen, während dessen Marcus auf den Boden geworfen wird. Der andere Mann bricht seinen rechten Arm wie einen Ast über das Knie und beginnt, ihn anal zu vergewaltigen. Pierre greift sich einen Feuerlöscher und schlägt den Mann zur Seite. Wie in einem Blutrausch steigert sich Pierre in Rage und rammt so lange den Feuerlöscher in das Gesicht des Vergewaltigers, bis davon nur noch eine undefinierbare Masse übrigbleibt.

Diese Sequenz ist aus mehrerlei Gründen äußerst verstörend: die aggressivste Person ist Marcus, der jedoch umgehend selbst zum Opfer wird; ein nachvollziehbarer Grund für die aggressive Suche nach El Tenia ist nicht gegeben; Pierre tritt zunächst besonnener auf, steigert sich jedoch schnell in den geschilderten Blutrausch; der Beschuldigte, der vermutlich nicht El Tenia ist, reagiert augenblicklich als Aggressor, verwundet Marcus und vergewaltigt ihn; die umherstehenden Gäste des Clubs greifen nicht in das Geschehen ein; einer von ihnen lächelt amüsiert angesichts des zertrümmerten Kopfes. Das erschütterndste jedoch ist die Inszenierung dieser Sequenz in einer einzigen langen Einstellung, in der ein zuvor aktiver Mann als deformierte Masse am Boden endet (digitale Effekte ermöglichten diesen frappierenden Moment). Zudem arbeitet die Inszenierung meist mit nahen Einstellungen von agierenden und reagierenden, bzw. zertrümmerten Gesichtern. Da die Kamera sich permanent zwischen den Akteuren bewegt, wird ein Wegsehen unmöglich. Der Zuschauer wird auf nahezu physische Weise in das grausame Geschehen involviert.

Die folgenden Sequenzen erklären, wie es zu diesem apokalyptischen Szenario kam: Marcus Freundin Alex (Monica Bellucci) hatte mißgestimmt eine gemeinsame Party verlassen. Auf Anraten einer Passantin nimmt sie ein Straßenunterführung, wo sie Zeugin wird, wie der Zuhälter El Tenia ein transexuelle Prostituierte zusammenschlägt. Sie möchte eingreifen, doch die Prostituierte flieht und El Tenia konzentriert seine Aggressionen auf sie. Er vergewaltigt Alex zweifach und prügelt sie danach ins Koma. Diese ebenfalls in einer langen Einstellung gezeigte Sequenz ist vor allem deshalb bemerkenswert, da hier der Vergewaltigungsakt, der permanent von Tenias erniedrigenden Äußerungen begleitet ist, explizit nur noch als Zerstörungsakt gekennzeichnet ist. Ein sexueller Aspekt tritt völlig in den Hintergrund, zumal es das Ziel des eigentlich homosexuellen Täters ist, den attraktiven Körper dieser „Hightclass-Bitch“ – wie er sie beschimpft – zu vernichten. Auch hier kommt kurz ein Zeuge hinzu, zieht sich jedoch umgehend zurück, als er das Geschehen realisiert (der Regisseur selbst spielt ihn).

Marcus und Pierre, die schwer unter Kokaineinfluss stehen, kommen vorbei, als die kaum noch erkennbare Alex in den Krankenwagen geschoben wird. Die Polizei vertröstet die Männer, doch zwei undurchsichtige Gangster haben das verlorene Portemonnaie der Prostituierten und überreden die unter Schock stehenden Protagonisten, ihr „Recht auf Rache“ auszuüben. Sie finden die Prostituierte tatsächlich und kommen so auf die Spur des Täters, der ihnen im Club letztendlich doch entgeht.

Noé spielt also mit Elementen des Rape-Revenge-Movies, einer meist besonders unangenehmen Spielart des exploitativen Kinos. Beispiele wie I SPIT ON YOUR GRAVE / ICH SPUCK AUF DEIN GRAB (1980) oder LIPSTICK / EINE FRAU SIEHT ROT (1977) kommen in den Sinn. In DEATH WISH / EIN MANN SIEHT ROT (1974) wird der von Charles Bronson gespielte Mann Paul Kersey ebenfalls zum Rächer, nachdem Frau und Tochter von drei Straßengangstern vergewaltigt und schwer verletzt wurden, und auch er wird diese Täter nie finden und zur Rechenschaft ziehen können. Patrick Fuery nimmt in seiner Phänomenologie des Films in New Developments in Film Studies (2000) den Topos der Rache als fruchtbares Beispiel für ein häufig wiederkehrendes dramaturgisches Muster, das in drei Stufen abläuft:

In cinema there are, invariably, three parts to revenge: the causal sequences, the acting out, the revelation. The first of these refers to that sequence of events which justifies the revenge if it is seen as part of the good object, or makes it seem perverse if it is the bad object. [...] The second part of the sequence is the acting out of the revenge. Because of what has gone before, there is usually no need to justify the excesses of the actions of the person enacting vengeance for the good object(ive). [...] The third part of revenge is related to this sense of non-closure, for it is the momente of realisation. Revenge works most sweetly for ist enactors in this revelatory moment. Often the whole narrative sequence is based on the lack of knowledge by one party, and the power of this knowledge by the other. The moment of epiphany acts as the closest thing to resolution in the revenge cycle for it is here that the power is asserted, and satisfaction gained. Cinema often draws on this moment, utilising the closeup to mark the point of realisation.

Nun läuft Noés Modell diesen erzählerischen Konventionen radikal zuwider. Den Grund für die Rache bekommen wir erst nach der Hälfte des Films nachgereicht, und im konventionellen Erzählkino wäre dieser Grund durchaus moralisch gerechtfertigt und somit als ‚gut‘ gekennzeichnet. Die Durchführung der Rache weist weitere Probleme auf: Wir bekommen den Exzess, wissen jedoch nicht, warum. Wir kennen die Figuren nicht, wissen also nicht, ob dieser Exzess gerechtfertigt ist. Zudem entwickelt sich das Geschehen völlig unvorhergesehen, als Marcus selbst vergewaltigt wird, der Auslöser von Pierres Exzesshandlung also spontan auf das aktuelle Geschehen verschoben wird. Noch problematischer wird die Erkenntnis im Nachhinein, dass das spontane Objekt des racheaktes nicht der gesuchte Vergewaltiger war. Der Moment der Erkenntnis ist also für das aktuelle Totschlagsopfer nicht gegeben und wird auf seite von Marcus und Pierre dem Zuschauer vorenthalten. Die Konvention einer für den Zuschauer befriedigenden, evtl. kathartischen Auflösung des Geschehens wird auf allen filmischen Ebenen verweigert. Je weiter der Film in die Vergangenheit vordringt, umso deutlicher wird auch die Unausgeglichenheit der beiden männlichen Protagonisten: Marcus ist ein vergnügungssüchtiger, drogenkonsumierender Egoist, der auf der Party für Alex kaum noch ansprechbar ist und sich lieber spontan mit anderen Frauen vergnügt. Pierre tritt als seine vernünftige Variante auf, der über die Trennung von Alex nicht hinwegkommt, mit der er zuvor zusammen war. Sein ruhiges Verhalten zeugt von massiver Repression, die sich im entscheidenden Moment Bahn bricht. Fuery schreibt an einer anderen Stelle:

Revenge in most films is represented as mostly good or bad, with the occasional taint of the other. Revenge comes at a cost to those who enact it, no matter how 'pure‘ the motivations seem.

Nach dem Schock der Vergewaltigung von Alex wäre der Zuschauer vermutlich in der Tat bereit, einen Racheakt für moralisch gerechtfertigt zu halten, doch Marcus ist in den vorangehenden Szenen bereits als so unberechenbar, rassistisch, machistisch und homophob charaktersiert worden, dass es nahezu unmöglich ist, diesen Charakter mit einer positiven moralischen Mission betrauen zu wollen. Hier überschreitet sein gezeigtes Verhalten deutlich die Ambivalenz. Bemerkenswert ist auch die durch Nahaufnahmen produziert Anteilnahme am Akt des Totschlags im Club und die eher dezente, statische Halbtotale, aus der die Vergewaltigung von Alex gezeigt wird. Auch hier setzt die Inszenierung deutlich wertende Zeichen, die den deiktischen Charakter dieses Films im nachhinein ebenfalls als zutiefst moralisch entlarven.

In seinem Film durchdenkt Gaspar Noé die Möglichkeiten des Films konsequent und dekonstruiert alle konventionellen Verlässlichkeiten filmischer Erzählweise. Dabei bleibt er immer auf einer Ebene objektiver Darstellung filmischer Realität, nie werden subjektive Visionen oder Irritationen eingebaut wie in den vorangehenden Filmen, die sehr stark auf Montage setzten. Die Unzuverlässigkeit der Erzählung appelliert also an die Vertrautheit und des Zuschauers mit erzählerischen Standards. Einige Kritiker bemängelten auf naive Weise, dieser Filme würde ja kaum etwas erzählen, montierte man ihn in der chronologisch korrekten Reihenfolge. Dieser Ansatz erscheint absurd angesichts der Tatsache, dass die Inversion von Zeit und Dasein das eigentliche Thema des Films ist. Inwieweit erzählerische Standards hier noch eine Rolle spielen, zeigt sich also ausschließlich an dem Spiel Noés mit Unzuverlässigkeit seines Szenarios.

Sind die präsentierten Charaktere zu Beginn Kriminelle? Ist Marcus Alex‘ Zuhälter? Die Exposition des Film provoziert derartige Fragen. In den letzten zwanzig Minuten des Films begegnen wir dem Paar in einer alltäglichen, liebevollen Situation. Sie necken sich und räkeln sich beide nackt im Bett, kurz davor aufzustehen und sich auf die Party vorzubereiten. „Man sagt, die Zukunft sei vorherbestimmt,“ sagt Alex im Aufzug fast nebenbei und später sehen wir, dass sie ein Buch über Zeit und deren Beeinflussung liest: John Dunnes Buch An Experiment with Time; Dunne war in den 1920er Jahren ein an der telepathischen Vorhersagekraft von Träumen interessierter Wissenschaftler. Und tatsächlich hat Alex wohl einen Traum, der ihre Vergewaltigung vorwegnimmt, nur deutet sie diesen als eine Freudsche Tunnelmetapher und bringt ihn eher mit ihrer gerade festgestellten Schwangerschaft in Verbindung. Zusammen gedacht mit dem eingangs zitierten Satz „Zeit zerstört alles“ bleibt IRRÉVERSIBLE ein erschütternder Essay über die fatalen Möglichkeit des Schicksals.

Am Ende schwebt die Kamera aus dem Fenster und senkt sich dann kopfüber auf eine friedlich im Park entspannende Alex. Sie liegt auf einer saftigen Wiese und liest, während Kinder um sie herum spielen. Doch die Irritation dieses auf dem Kopf stehenden Bildes reicht nicht aus: Die Kamera folgt den Kindern in der Aufsicht und bewegt sich auf einen Rasensprenkler zu, um den die Kinder laufen. In gegenläufiger Richtung dreht sich nun die Breitwandeinstellung – immer schnell und geht schließlich in brutales Stroboskopflackern über. Als wolle er Samuel Fullers berühmt Forderung, man müsse von Leinwand mit einem Maschinengewehr schießen, um das Publikum zu treffen, in die Tat umsetzen, lässt Noé diese idyllischen Bilder also in grelles, physisch schmerzhaftes Flackern übergehen, aus dem sich nach einiger Zeit das sich langsam drehende Universum, unsere Milchstraße abzeichnet. Die Milchstraße, jene sich langsam ausdehnende Galaxie, die bei erreichen des maximalen Punktes ihrer Ausdehnung in sich zusammenstürzen wird. „Die Zeit zerstört alles.“ Es gibt kein Leben ohne Tod. Mit seinem Film IRRÉVERSIBLE hat Gaspar Noé einen der radikalsten und existenziellsten künstlerischen Kommentare zum Zusammenhang zwischen Leben, Film und Zeit geschaffen, der heute denkbar ist. Insofern handelt es sich bei IRRÉVERSIBLE um einen der gegenwärtig wichtigsten, innovativsten und eindrucksvollsten Filme schlechthin.

Marcus Stiglegger

Dieser Text ist die stark gekürzte und veränderte Fassung eines Vortrages, der bei dem Symposium „Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film“ an der Universität Mainz 2003 gehalten wurde.

Diskussionsforum für diesen Film und das Gesamtwerk von Gaspar Noé: FORUM