Burkhard Röwekamp Vom film noir zur méthode
noir Schüren Verlag, Marburg, 2003 Ein erstaunlich kontinuierliches Phänomen der Filmgeschichte seit den frühen vierziger Jahren ist der Film noir, Kult- und Forschungsobjekt ganzer Generationen von Filmfans, Filmwissenschaftlern und Kritikern. Nachdem ein gewisser Konsens darüber herrscht, dass der amerikanische Film noir der vierziger und fünfziger Jahre als ein halbwegs eigenständiges Phänomen betrachtet werden kann, herrscht ein große Varianz an Perspektiven auf ähnliche Beispiele aus anderen Ländern (Frankreich, England) bzw. späterer Jahrzehnte. Da gibt es Retrophänomene (CHINATOWN, L.A. CONFIDENTIAL), die jene Ära des klassischen Film noir rekonstruieren, es gibt aber auch zeitgenössische Varianten alter Stoffe (Altmans THE LONG GOODBYE, Beineix' DER MOND IN DER GOSSE) oder moderne (Melvilles DER EISKALTE ENGEL) und postmoderne Varianten (Bessons SUBWAY). Auffällig ist gerade in den letzten Jahren eine Häufung radikal subjektiver Thriller, die stilistische Anklänge an den klassischen Film noir aufweisen: PI, LOST HIGWAY, FIGHT CLUB, MEMENTO... Der Marburger Filmwissenschaftler Burkhard Röwekamp hat es sich in seiner Dissertation "Vom film noir zur méthode noire" zur Aufgabe gemacht, in einem "methodisch wie theoretisch innovativen Modell" der Frage nachzugehen, "wie sich das filmische Noir-Verfahren zur audiovisuellen, narrativen und thematischen Verdichtung subjektivierender Erzählungen bis in die Gegenwart verändert hat." (S.12) "Noir wird" hier "nicht neu-, sondern umdefiniert." (S.13) "Dies geschieht unter Rekurs auf die Methodik des Noir-Films und auf die Evolution seiner Verfahren." (S.13) Röwekamp führt den Begriff einer "methode noire" ein, die er gegen die üblichen Ansätze stellt, Noir als Genre bzw. als Stil zu definieren. "Ein semiotisch reformulierter formalistischer Narrationsansatz eröffent schließlich eine neue methodisch-theoretische Perspektive." (S.14) Damit ist primär Boardwells neoformalistische Filmanalyse gemeint, die entgegen ihres eigentlichen 'Programms' mit semantischen Betrachtungen aufgerüstet wird. Man könnte diese Perspektive auch als 'hermeneutischen Strukturalismus' (Thomas Koebner) bezeichnen und zu einem ähnlichen Ergebnis kommen. Wer das methodische Vorgehen des Buches verstehen will, sollte gleich nach der Einleitung die Schlusskapitel (S.201-203) lesen, dort wird mit einfachen Worten erklärt, woran sich der Haupttext in kompliziertem Abwägen zerquält. Abschnitt 1 des Buches befasst sich ausführlich und kritisch mit bisherigen Analysen des Film noirs (S.15-19). Vor allem französische und amerikanische Entwicklungen werden hier nachvollzogen, wobei gleich eine systematische Schwäche des Buches auffällt: Einige Zitate und Verweise werden nicht in der Bibliografie aufgelöst (z.B. S.24: "Grötsch 1997" - gemeint ist wohl Steinbauer-Grötsch, die jedoch nicht aufgelistet wird, ähnlich ergeht es später Georg Seeßlen). Auf S. 26 wird bereits ein wichtiges Element eingeführt, das für Röwekamp primäres Merkmal des Noir ist: die Subjektivität. Davon ausgehend wird die realistische Erzählhaltung des Hollywoodfilms charaktersisiert, mit der sich vor allem die späteren Noir subversiv auseinandersetzen (etwa Lynchs MULHOLLAND DRIVE). Auf S. 36 beginnt ein sehr aufschlussreicher Überblick über die soziopolitischen Entwicklungen der Noir-relevanten Länder sowie ein Blick auf die Filmwirtschaft der USA und Europas. Dieses Hintergundwissen wird in den meisten Abhandlungen ausgespart. Einige Beispielanalysen (AUSSER ATEM, CHINATOWN, BLADE RUNNER, TAXI DRIVER) ergänzen die Ausführungen. Abschnitt 2 "Eine Umschrift" wendet den Blick dann dem aktuellen Kino zu und entdeckt "Film noir als oppositionelle Methode" (S.79). Vor allem die Betrachtungen zur Adaption des schwarzweißen Chiaroscuro (Hell-dunkel-Malerei) im Farbfilm sind hochinteressant und werden anhand farbiger Screenshots einleuchtend belegt. Im Rahmen der Erzählstrukturen werden Rückblenden, Voice Over und Reversionen der Narration erläutert (Bsp. DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, L.A. CONFIDENTIAL). Im Rahmen der Themen kommt die Sprache auf Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte im Noir-Film. Die Femme fatale wird ausführlich kommentiert, ihr später gar ein Homme fatal gegenübergestellt, die ebenso wichtige Femme fragile jedoch souverän übersehen (z.B. DU LEBST NOCH 105 MINUTEN). Zudem kommt es gelegentlich zu kleinen Recherchefehlern: John Travolta spielt in BLOW OUT keinen "enthüllenden Radioreporter" (S.136) sondern einen mißtrauischen Tontechniker beim Film. Die argumentativen Stärken des Buches liegen dann wieder in ausführlichen Beispielanalysen wie BAD LIEUTENANT, FIGHT CLUB oder JACKIE BROWN. Zum Abschluss wird SE7EN als pervertiertes Familiendrama analysiert. Sehr amüsant. Mit dem dritten und letzten Kapitel "Méthode noire" folgt der Hauptteil des Buches, der seine Betrachtungen jenseits von "Genre" und "Stil" anhand von David Lynch Schizo-Thriller LOST HIGHWAY abarbeitet. Sieht man von den rhetorischen Windungen von S. 169-179 ab, ist auch diese Filmanalyse hochinteressant und produktiv. Ungeachtet seiner unleugbaren Vorzüge bietet dieser Band eine Reihe enttäuschender Aspekte, die das Lesevergnügen gelegentlich trüben: Die ausführliche Beschäftigung mit dem SF-Film MATRIX in diesem Kontext erscheint etwas übertrieben. Auch wären weiterführende Hinweise zum Noir-Element in japanischen Animes (außer AKIRA) hilfreich gewesen, etwa in PERFECT BLUE, und JIN-ROH, die viel eher der Defintion (Stichwort Subjektivität) entsprechen. Überhaupt wird das asiatische Kino nur schwach gestreift, obwohl die transkulturelle Auseinandersetzung mit Filmen von Takeshi Kitano (HANA-BI, VIOLENT COP und SONATINE werden zumindest kurz erwähnt), Ringo Lam, Takashi Miike, Wong Kar-Wai, Shinya Tsukamoto ('Shibuya-Noir' wird über BULLET BALLET gesagt) und vor allem Takashi Ishii (GONIN, FREEZE ME) sehr interessant sein könnte. Ein massives Ärgernis dieses Bandes stellt die manipulative und ignorante Bibliografie dar: Hier wird auf amerikanischen Texten beharrt, also wäre in Frankreich oder Deutschland nie etwas zum Thema Noir/Neo-noir erschienen. Da fehlen die bekannten Veröffentlichungen von Steinbauer-Grötsch (Bertz Verlag) und Paul Werner (Vertigo Verlag) wie auch die zu einzelnen Kapiteln ergänzenden Regisseursbände, u.a. aus dem selben Verlag (z.B. Bigelow, Schüren Verlag, Fincher, Bertz Verlag, Ferrara, Schüren Verlag, Seeßlens Lynch, Schüren Verlag). Gerade diese leicht erreichbaren Bücher wären eine wertvolle Hinweise für Interessierte dieses Themas gewesen. Auch Thomas Koebners Thesen gegen den "Caligarismus" (die in der Einleitung auch bei Röwekamp stehen, S.10) oder Norbert Grobs explizite Ansätze zum Neo-noir (etwa im Ferrara-Buch) oder zum deutschen Neo-noir am Beispiel von SOLO FÜR KLARINETTE (erschienen in der Zeitschrift Screenshot) werden übergangen. Ein solches Vorgehen ist eigentlich nicht entschuldbar, denn entweder hat der Autor nicht umfassend recherchiert, oder er spart diese Texte bewusst aus, um den Eindruck der Singularität seiner Studie zu erwecken. Beides hinterlässt einen unverdient schlechten Eindruck, entspricht aber leider der unbescheidenen Selbstdefinition des Buches ("methodisch und theoretisch innovativ", Presseinfo), das sich als Beginn einer 'neuen Filmwissenschaft' definiert: "Der Ertrag dieser am Noir-Film exemplarisch durchgeführten filmhistorisch und filmanalytisch argumentierenden Untersuchung liegt deswegen insbesondere auch in seiner Anwendbarkeit auf weitere filmische Phänomene, die zuvor unter Genre-, Stil-, Schulen-, Autoren-, zyklischen oder periodischen Aspekten gefasst worden sind." (S.201) Die Filmografie listet alle primär erwähnten Filme des Buches mit knappen Stabs- und Besetzungsangaben, insgesamt entsteht daraus aber eine völlig unverständliche Kombination, die die Unausgewogenheit des Buches vor Augen führt: Von ALICE IM WUNDERLAND bis TERMINATOR II. Weniger Angaben aber dafür eine systematischere Zusammenstellung wäre hier hilfreicher gewesen, vor allem hätten dabei die Versäumnisse des Textes zumindest in Form weiterführender Hinweise kompensiert werden können. Aber da der Autor ja "keinen Kanon" schaffen will, wäre das wohl die Erklärung... Das Bildlayout des Buches schließt sich dem Farbe/SW-Design der letzten Bertz-Bände an, man kann also einige Filmstills in Farbe bewundern, was in diesem Fall absolut Sinn macht. Vor allem im LOST HIGHWAY-Abschnitt ist eine solche Bildzitatstrecke beispielhaft gelöst. Am Ende bleibt ein etwas zwiespältiger Nachgeschmack: Für eine eingehende wissenschaftlich-analytische Beschäftigung mit dem Thema ist dieses Buch äußerst brauchbar, die angestrengte Bemühung, einen eigenen Standard zu setzen, kann jedoch als misslungen betrachtet werden und bekommt dem eigentlichen Ansatz nicht allzu gut. Christoph Donarski
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