Autorentheorie des Films VII | |
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Körper der Crisis Das cinema pur von Shin‘ya Tsukamoto
Mann und Frau stehen sich schließlich in der Tiefgarage gegenüber. Die Situation scheint ausweglos, die Entfernung der beiden einst vereinten Seelen unüberbrückbar, zu tief greifen Untreue und Entfremdung. Der Mann beginnt, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen: Immer wieder schlägt er seinen Kopf gegen die Wand, immer wieder, bis nur noch ein Antlitz des Grauens von ihm bleibt. In einer letzten langen Einstellung sitzt er auf dem Randstein und versucht zu lächeln. So will es Shin’ya Tsukamotos Modern Primitives-Drama TOKYO FIST, die irritierende, erschütternde postmoderne Variante von Scorseses RAGING BULL (WIE EIN WILDER STIER, 1980). Aber vielleicht sollte man mit solchen Vergleichen vorsichtig sein, denn bereits Takeshi Kitano weigerte sich im Interview, Martin Scorseses Komplimente seine Filme betreffend an diesen zurück zu geben. So sind auch Shin’ya Tsukamotos Quellen anderswo zu suchen, etwa in der Avantgarde der japanischen „Neuen Welle“ der sechziger Jahre: „Wir wollen noch einmal ein Guckloch zur Welt der Visionen aufmachen. Guten Tag, ihr Gespenster,“ schrieb der Theaterregisseur und Filmemacher Shuji Terayama in seinem Thesenbuch „Theater contra Ideologie“. Mit seinem wilden, sinnlichen Theaterkonzept hatte Terayama einen wesentlichen Einfluß auf jene „Neue Welle“, die er zusammen mit Nagisa Oshima u.a. selbst vertrat, sowie auch auf die „jungen Wilden“ des japanischen Kinos der neunziger Jahre; z.B. den seit Ende der achtziger Jahre ebenfalls in beiden Metiers, Theater und Film, beheimateten Shin‘ya Tsukamoto. „Heute ist auf der Bühne des Theaters die einzige Zone, in der Gesetzlosigkeit geduldet wird. Hier ist Unzucht möglich, Gewalt, Mord. Hier treffen wir Männer, die den Vater töten und mit ihrer Mutter schlafen, oder Untertanen, die ohne Skrupel ihren König umbringen, weil sie vorwärts kommen wollen. Kein Richter steigt auf die Bühne. Manchmal erleben wir ein Duell. Der Sieger wird verherrlicht. Der Verlierer kann mit seinem Tod die Verachtung nicht abwaschen“ (Terayama). Mark Shilling beschreibt den jungen Regisseur Shin’ya Tsukamoto in seinem Buch „Contemporary Japanese Film“ (1999) als den „geborenen Filmemacher, der schon mit neunzehn Jahren, wenn andere Filmstudenten noch die Unibänke drücken, sein Werk bei einem NTV-gsponserten Filmfestival vorführen durfte.“ Seinen ersten Versuch filmischer Verwirklichung unternahm er mit dem erst 1995 aufgeführten Kurzfilm (50 Minuten) DENCHU KOZO NO BOKEN / ADVENTURES OF ELECTRONIC ROD BOY / THE PHANTOM OF REGULAR SIZE (1988). Diese dramatische Groteske über einen Jungen (Nariaki Senba), dem ein elektrischer Arm aus dem Rücken wächst, nimmt wesentliche Momente des folgenden Films TETSUO vorweg. Der Film porträtiert den Jungen als eine tragische Figur, einen Einzelgänger, Opfer des allgemeinen Spotts. Eines Tages schlüpft er durch einen Zeitschleife in die von einem tyrannischen Vampir (Tomoroh Taguchi) beherrschte Parallelwelt. In einem idealistischen Kampf gelingt es ihm mit Hilfe seiner besonderen Begabung, die Versuche dieses Vampirs, das Sonnenlicht mittels einer Bombe zu eliminieren, zu vereiteln. Einige der in späteren Filmen auftauchenden Elemente sind hier bereits vorhanden, etwa das Zwischenspiel mit einen Bohrer-Penis, oder die Tatsache, daß sich beide Antagonisten später in überlebensgroße Metallgiganten verwandeln. Was hier noch wie ein Spiel, eine manierierte wenn auch unterhaltsame jugendliche Fingerübung anmutet – der Regisseur und Darsteller war zu jener Zeit gerade mal zwanzig –, wird bereits im Jahr darauf zu einem ikonischen Klassiker der Cyberpunk-Science-Fiction.
Tsukamoto machte sich endgültig an die Arbeit, seine bei Terayama und Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ erlernten Lektionen für den Spielfilm zu adaptieren. TETSUO – THE IRON MAN (1989) und TETSUO II - BODY HAMMER (1991) nannte er seine beiden rasanten Science-Fiction-Filme, die ihm weltweite Aufmerksamkeit bescherten. Dabei erzählen beide Filme eine nur in den Ausmaßen der Darstellung variierte, sehr ähnliche Geschichte. Im ersten Teil entdeckt der durchschnittliche Bürokaufmann Tetsuo (Tomoroh Taguchi) einen kleinen Metallspan, der aus seiner Wange zu wachsen scheint. Tatsächlich – so stellt sich bei näherer Betrachtung heraus – befindet sich sein Körper schon in einem weiteren Stadium der Transformation, der Umwandlung in einen Metall-Maschinenkörper. Diese Mutationen scheinen sich auch auf andere Menschen zu übertragen, etwa in einer bizarren Sequenz, in der sich Tetsuos Penis in einen rotierenden Keilbohrer verwandelt, mit dem er dann seine Freundin attackiert. In einer kollabierten Industrial-Welt verschmelzen dort Menschen, gleich David Cronenbergs und H. R. Gigers Biomechanoiden, mit metallenen Maschinen, vornehmlich mit Waffen, um sich schließlich – so will es vor allem der zweite Teil – Endkämpfe von archaischer Wucht zu liefern. BODY HAMMER entwickelt im Gegensatz zu IRON MAN, in dem nur wenige Sätze gesprochen werden, eine rachemotivierte Geschichte, die den Film stellenweise einem gängigen Fantasy-Manga annähert. Dort muß der Geschäftsmann Tetsuo (wiederum Tomoroh Taguchi) mit ansehen, wie eine Band Skinheads seinen kleinen Sohn entführen und grausam verbrennen. Hier wird nun eine Schußwunde zum Ausgangspunkt für Tetsuos Verwandlung in ein lebendes Waffenarsenal, mit Hilfe dessen er sich den ebenfalls mutierten Skinheads entgegenstellt. Erstmals führt Tsukamoto hier das Motiv der ungleichen, rivalisierenden Brüder ein, die er gegen Ende des Films in einem äußerst blutigen Falshback, in dem der aggressivere Mutant die Eltern beim S&M-Spiel in Fetzen schießt, vorstellt und motiviert. Angesichts des audiovisuellen Overkills muten solche narrativen Tendenzen jedoch eher wie eine Entschuldigung an. Die Bildsprache paßt in beiden Filmen Tsukamoto dem monoton-hämmernden Rhythmus der Tonspur konsequent an: Suggestiv und rasend schnell sind Bilder aus schneidendem Schwarzweiß aneinandergereiht, die schon in ihrer stroboskopartigen Kontrastmontage eine Verbindung von Fleisch und Metall/Maschine andeuten – William Friedkins immer wieder eingesetzte Subliminalbilder (z.B. aus Friedkins THE EXORCIST) erscheinen zahm dagegen. Der Schnitt schafft die rythmisierte Verknüpfung, die dem Zuschauer die reizlastige Bilderflut ungefiltert ins Gehirn hämmert – zur Verdeutlichung einer „Quintessenz“ der Megalopolis Tokyo. Tsukamoto kreierte so die denkbar eindringlichste filmische Umsetzung einer zeitgemäßen Industrial-Äthetik: Fleisch und Metall verschmelzen in eindeutig sexueller Konnotation letztendlich zu einer biomechanischen Waffe. In einer eindrucksvollen Sequenz wird der Protagonist des ersten Teils von einem medusenhaft wuchernden biomechanoiden Mädchen qualvoll penetriert, was seine Transformation besiegelt. Tsukamoto schließt hier deutlich an Tendenzen an, die bereits mit Aufkommen der historischen Epoche der Industrialisierung aktuell wurden: Die Auffassung vom Körper als mechanisches Objekt, die einen eventuellen Austausch von organischem Wesen und maschineller Kreatur möglich macht. Die Fetischisierung bzw. Sexualisierung mechanischer, vornehmlich metallischer Objekte erinnert an Marshall McLuhans Ideen aus „The Mechanical Bride“ (1954) oder etwa James G. Ballards Roman „Crash“ (1971). Der industrialisierte Mensch – und mit ihm Tsukamoto – ist auf der Suche nach neuen Mythen fündig geworden im industriellen Alltag, dessen wuchernden, rhythmischen und letztlich sinnlichen Elementen sich nur zu leicht mythische Strukturen überstülpen lassen.
Filmische Adaptionen traditioneller Geistergeschichten sind Legion im japanischen Filmgeschehen. Es war also weniger ein Zeichen der Exzentrik, wenn sich Tsukamoto 1991 – noch vor BODY HAMMER – einem Geisterfilm zuwandte, den er in gewohnter technischer Originalität verwirklichte. HIRUKO: YOKAI HANTA wird meist als ein unbedeutendes Nebenwerk betrachtet, ein routiniertes Auftragswerk, mit Hilfe dessen sich Tsukamoto die Finanzierung seiner nächsten Autorenbemühungen zu sichern. Bedenkt man allerdings, daß gerade BODY HAMMER eher ein Remake des ersten Films bot, aufgerüstet mit standardisierten Mangamotiven und etwas aufwendigeren Effekten, relativiert sich vermutlich die Einschätzung dieser Schaffensphase. Vermutlich entspringen beide Projekte durchaus kommerziellen Erwägungen. In HIRUKO geht es um einen etwas exzentrischen Archäologen (Kenji Sawada, ein Popsänger, der später auch die Hauptrolle in Takashi Miikes ODISHON / THE AUDITION, 2000, spielen wird), der versucht, das Geheimnis einer altertümlichen Begräbnisstätte zu ergründen, nachdem ein Freund dort verschwunden ist. Verfolgt von den Geistern, die er weckt, wird er nahezu unfreiwillig zum titelgebenden „Monsterjäger“. Bemerkenswert aufwendige Spezialeffekte (etwa Spinnen mit Menschenköpfen), das für Tsukamoto sonst ungewöhnliche Breitwandformat sowie ein eher kitischiges Happy-End trennen HIRUKO tatsächlich von Tsukamotos Hauptwerk, das zudem wesentlich deutlicher den Einfluß seiner experimentellen Theaterarbeit aufweist. Auch das übliche Ensemble ist hier nicht versammelt; gerade in dieser Hinsicht ging Tsukamoto im Verlauf der neunziger Jahre immer weiter und arbeitete bewußt an seinem Status als enfant terrible des japanischen Autorenkinos. Das nötige Geld sicherte er sich durch schauspielerische Auftritte in meist ambitionierten Spielfilmen seiner Kollegen, u.a. in dem faszinierenden Erotikdrama THE PERFECT EDUCATION (1998), das auf einem Drehbuch des japanischen Kinoaltmeisters Kaneto Shindo basiert.
Drei Jahre später folgte das Boxerdrama TOKYO FIST (1995), in dem der Regisseur selbst zusammen mit seinem Bruder Khoji Tsukamoto ein brutal rivalisierendes Freundespaar spielt und so zu einer TETSUO ebenbürtigen originären Form findet. Während die beiden früheren Filme den Körperhorror auf der surrealen Ebene durchspielten, wendet er sich hier einem realen Ambiente und aktuellen Phänomenen der neunziger Jahre zu: Der Versicherungsvertreter Tsuda (Tsukamoto) begegnet unfreiwillig seinem früheren Schulkameraden Takuji (Khoji Tsukamoto) wieder, als dieser sich Tsudas Lebensgefährtin Hizuru in eindeutiger Absicht nähert. Die junge Frau geht auf Takujis Werben ein, zieht in seine Wohnung und beginnt, ihr neues Lebensgefühl parallel zu der gewalttätigen Rivalität der Männer in exzessivem Bodypiercing auszuleben. Tsuda beginnt, selbst Boxen zu lernen und löst damit einen Schwur ein, der die Männer seit ihrer Schulzeit verbindet; doch ein finale Begegnung der Haßfreunde im Ring findet schließlich nicht statt. Während sich Takuji eine blutige Schlacht mit einem weiteren Wunschgegner liefert, verarbeiten Tsuda und Hizuru die Beziehungskrise auf ihre eigene Weise: Sie fügen sich gegenseitig schwere Verletzungen zu – ich kehre zur einleitend geschilderten Sequenz zurück. Tsudas kurzes, verbissenes Aufbegehren durch das Boxen endet letztlich in Verwirrung. Nahm er zu Beginn zumindest die Großstadt als innerlich kranke, verwesende Hochglanzmaske wahr, scheint er am Ende gänzlich blind geworden zu sein: Mit seinem trüben, toten Auge steht er bewegungslos starrend auf einer einsamen Stahlbrücke. Tsukamoto gelingt es, die in TETSUO entwickelten Stilmittel nahtlos und konsequent in ein der Grundstruktur nach klassisches Dreiecks-Melodram zu integrieren: Pulsierende Stahlschlag-Rhythmen, ruhelose Handkamera und Stakkato-Schnitt lassen den Film selbst zur Großstadterfahrung werden. Er zeigt Charaktere im alltäglichen Leerlauf, auf dem Weg zur Arbeit, in U-Bahnen und vor dem Fernseher, die den Bezug zum komplexen Geflecht ihrer emotionalen Bedürfnisse längst verloren haben. Der hier demonstrierte Modern Primitivism hat sich in den neunziger Jahren längst als Modebegriff etabliert. Dort spiegeln sich Facetten eines subkulturellen Phänomens, das zusehends in verschiedene Bereiche der populären Kultur eindringt: Mode, Film und Musik. Die spezifische Verbindung von Sexualität, physischem Schmerz und Gewalt, auf die letztlich alle Filme Tsukamotos rekurrieren und in der der Modern Primitive neue, ungekannte Formen der sinnlichen Reinheit sucht, ist schwer zu fassen und noch problematischer zu definieren: Der Soziologe Wolfgang Sofsky z.B. unterscheidet in seinem „Traktat über die Gewalt“ zwei Formen von Gewalt, die nicht destruktiv auf den Mitmenschen ausgerichtet sind, sondern zur Erweiterung des eigenen Empfindens dienen: „Rituale der Initiation oder asketische Techniken der Selbstkasteiung sind kulturelle Praktiken des Schmerzes. Sie nutzen den Umschlag des auf Leibeinseln eingehegten Schmerzes in Wollust, in die Wonnen der Pein. Oder sie aktivieren Kräfte, die sich dem Schmerz erfolgreich zu widersetzen vermögen. Diese Techniken zielen jedoch weniger auf den Schmerz als auf dessen Überwältigung, auf die Restitution der personalen Einheit. Im Zugewinn an leiblicher Intensität und Handlungsmacht bestehen Lust und Triumph der Souveränität, nicht im Erleiden des Schmerzes.“ Auch TOKYO FIST deutet an, wie sich eine schmerzliche Initiation innerhalb der populären Kultur Wege bahnen kann, um sich der Entfremdung vom eigenen physischen Bewußtsein innerhalb der Industriegesellschaft entgegenzustellen. Und da Initiation immer die Konfrontation mit dem Un-Faßbaren bedeutet, wird der Film hier zum reflektierten Leidensmoment, einem Moment der Krise: einer künstlichen, provozierten Krise, wenn man so will. Tsukamoto bedient sich der kulturell naheliegenden Affektbilder und -situationen, die er komplex in sein eigenes ästhetisches Universum bettet – so bieten sich gerade die Bizarrerien des Modern Primitivsm sogar – im Gegensatz zur irrealen Welt von TETSUO – zur Simulation von „Authentizität“ an. Zärtlichkeit, Sexualität, Gewalt, Tod, Qual, Schöpfung, Irritation, Relativierung, Bestätigung, Alltäglichkeit und Mythos sind die Dreh- und Angelpunkte des initiatorischen Werkes TOKYO FIST, das sich mal einer Darstellung modern primitiver Körpertechniken bedient, oder im anderen Fall den Stil der Darstellung aus einer Reflektion dieser Techniken bezieht. Essentielle Erfahrungen werden ästhetisch vermittelt und vom Publikum im Idealfall authentisch erlebt. Ganz prinzipiell wird Kunst im Zeichen von Modern Primitivism zum Medium von Eros und Thanatos, von mythischem Werden und Vergehen. Und zudem wird im Moment existenzieller Entäußerung – im Schmerz, in der Lust – jede Grenze hinfällig: Die Mauern von Gender fallen, egalisieren alle Partizipienten. Die Körpertechniken des Modern Primitivism wie sie TOKYO FIST reflektiert kennen die Schranken der Geschlechter nicht. Sie sind die Chance auf ein möglicherweise überfälliges neues Verständnis des unheimlichen Anderen, jenseits des alltäglichen Unbehagens.
BULLET BALLET schließt an die Körperthematik von TOKYO FIST an: Wiederum spielt der Regisseur selbst einen depressiven Durchschnittjapaner, Goda, der durch den Selbstmord seiner Frau zum ziellosen Drifter geworden ist. Er sucht verzweifelt nach dem Motiv ihrer Tat – deutlicher denn je tritt hier ein Neo-Noir-Motiv in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Begegnung mit einer Straßenbande wird zum Schlüsselerlebnis für Goda: Sie schlagen ihn brutal zusammen. Goda sucht eine Schusswaffe, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Sein erster Schritt – eine grobe Attrappe – lässt ihn noch tiefer in die Auseinandersetzungen mit den Straßengangster gleiten. Ein Bandenkrieg bricht um ihn herum aus und endlich gelangt auch eine echte Pistole in Godas Hände. Immer wieder nimmt sich der Film Zeit, Selbstzweifel, Zögern und Zermürbung seines Protagonisten zu entfalten, nur um umso abrupter wieder in die verheerenden, titelgebenden Kugelballette zu münden. Die Liebe zu der Gangsterbraut Chisato (Karina Mano) gibt ihm neue Hoffnung, das Glück währt jedoch nur, bis die Überlebenden Gangster zurückkehren. Die erste Hälfte des Film gestaltet Tsukamoto in gewohnter Stakkato-Manier, mit pulsierendem Stahlschlag und rasanten Montagefolgen, mit dem Aufkommen der Romanze jedoch ändert sich der Rhythmus des Films: Er wird ruhiger, konzentrierter und unternimmt deutlich den Versuch aus dem neurotischen Protagonisten einen Gewandelten, einen Besonnenen zu machen. In dieser Struktur will BULLET BALLET nicht immer gelingen, kehrt abwechselnd zu den grobkörnigen Schwarzweißbildern von TETSUO zurück, um dann deutlich jenseits von TOKYO FIST ankommen zu wollen. Doch Tsukamoto setzt zu sehr auf seinen überrumpelnden Stil, um eine ohnehin schwierige Annäherung an seinen unberechenbaren Protagonisten zu ermöglichen. Wie Goda pendelt auch der Film BULLET BALLET zwischen Depression und Aggression, zwischen Overkill und Lethargie. Dennoch steht dieses hysterische Gangsterdrama stilsicher und typisch im Oeuvre Tsukamotos, inszeniert mit dem gewohnten Team mit einer starken egozentrischen Präsenz des Filmemachers.
Wimmelnde Maden in fauligem Fleisch, harte Metallbeats, schrille Chöre, dazwischen Stille und Schwärze... So beginnt SOSEIJI / GEMINI (1999), ein Psychothriller in historischem Gewand. Tsukamotos bis heute letzter Film als Regisseur bietet noch einmal die persönlichen Motive auf, präsentiert sie jedoch in ungleich meditativer Form. Die entfesselten Industrialcollagen sind einer pointierten Dramenstruktur gewichen, die wiederum von zwei Brüdern erzählt: Durch eine mysteriöse junge Frau kreuzen sich ihre Wege nach Jahrzehnten und kulminieren in einem tödlichen Konkurrenzkampf. Die ménage à trois, der Doppelgänger, existenzielle Zweikämpfe und ein ausgeprägtes Körperbewußtsein bleiben also die Obsessionen dieses konsequenten Filmemachers, seine Stilmittel jedoch sind gereift. In der Meiji-Ära zu Beginn des letzten Jahrhunderts siedelt Tsukamoto diesmal eine eher von meditativer Ruhe getragene Geschichte an – fern von Industrialisierung und Großstadtgetöse. Der junge Arzt Dr. Daitokuji (Masahiro Motoko) möchte eine mysteriöse junge Frau heiraten, die mit ätherischer Grazie durch die weltabgewandte Ruhe der Klinik wandelt. In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem nahezu idyllischen Holzgebäude findet sich das von Krankheiten heimgesuchte Armenviertel, vor dem sich die privilegierten Reichen mit panischer Vorsicht abschirmen. Doch gerade um die geplante Hochzeit herum scheint immer wieder eine unheimliche Gestalt aus den Slums in der Klinik aufzutauchen und mit bedrohlichen Possen den Tod einiger von Daitokujis Verwandten zu verursachen. Der junge Arzt muß schließlich erkennen, daß sich mit dem Fremden sein eigener Zwillingsbruder ins Haus eingeschlichen hat, um nun grausame Rache für sein ausgestoßenes Dasein von Kindheit an zu nehmen: Die Eltern hatten den Jungen einst wegen eines monströsen Muttermals am Oberschenkel an die Gaukler vergeben. Dort lebte der Bruder mit eben jener Frau zusammen, die der Arzt nun ehelichen will. Der 'Gemini‘ schlägt Daitokuji nieder und hält ihn im Brunnenschacht des Hauses gefangen, während er selbst die Stellung des privilegierten Bruders einnimmt, was ihn auch wieder mit der früheren Geliebten zusammenbringt. Tsukamotos erster Historienfilm gelingt vor allem dann eine Erweiterung der eigenen Filmwelten, wenn er das durch gesellschaftliche Zwänge entemotionalisierte gehobene Bürgertum mit den vitalen Spielen der Pariah-Unterschicht kontrastiert. Dies kulminiert letztlich in der Zwillingskonstruktion der beiden Protagonisten selbst, die zwei Gesichter der selben Medaille verkörpern. Das Ausgestoßener erscheint nur dann als das ‚Böse‘, wenn es von der Bürgerschicht zur eigenen Verortung mißbraucht wird: Der Gemini verkörpert alles, was Daitokuji nicht ist aber mehr und mehr sein möchte. Durch die lange Gefangenschaft provoziert der Eindringling einen radikalen Umschlag in der Zivilisiertheit des Arztes, eine 'Dialektik der Aufklärung‘ am Werk. War TOKYO FIST der Höhepunkt von Tsukamotos Körperpolitik, seinem 'Theater der Grausamkeit‘, offenbart sich mit SOSEIJI ein kritischer Blick auf die Vergangenheit dieser Gesellschaft, die an ihrem starren Regelkorsett zu ersticken droht. Mit den zu Ende gehenden neunziger Jahren suchen immer mehr junge japanische Filmemacher – so auch Takashi Miike, Katzuyoshi Kumakiri, Ryu Murakami und Shunji Iwai – nach einem anarchistisch-künstlerischen Ausbruch aus ihrer vollkommen durchmaterialisierten Heimat. Tsukamoto gelang es in seiner über zehnjährigen Karriere, einige alternative Visionen Bild und Ton werden zu lassen. Obwohl SOSEIJI weniger radikal den bislang eingeschlagenen Kurs ändert, als es auf den ersten Blick scheinen mag, ist dennoch zu befürchten, daß sich dieser Weg auf lange Sicht als eine Sackgasse erweisen könnte – eine Annahme, die Jörg Stodolka in SI 41 bereits anläßlich von BULLET BALLET äußerte. Doch Tsukamotos radikale kinetische Gewalttouren haben das Gesicht des japanischen Kino ein für allemal geprägt und verändert, so daß eine Schlüsselposition des Schöpfers von TETSUO und TOKYO FIST unbestreitbar bleiben muß. Welcher westliche Filmemacher könnte sich schon brüsten, vergleichbare Manifeste einer konstruktiven Gegenaufklärung geschaffen zu haben? East of Vortex: Die Zukunft ist Schmerz – oder Nichts. Stellen wir uns...
Epilog (Filmfest Hamburg 2002) Einen reifen Höhepunkt von Tsukamotos Bemühungen bietet das Erotikdrama SNAKE OF JUNE (2002), in dem die dreißigjährige Rinko (Asuka Kurosawa) und ihr erheblich älterer Ehemann Shigehiko (Yuji Kotari) im Zentrum stehen. Beide scheinen ganz in ihrem erfolgreichen Berufsleben aufzugehen, sie als Telefonseelsorgerin, er als Geschäftsmann. Unter dem geordneten Leben hat längst die Sexualität des Paares gelitten, doch das wird sich ändern, als Rinko per Post einige Fotos erhält, die sie beim Masturbieren zeigen. Um die Negative dieser Bilder zu bekommen, soll sie bizarre Forderungen erfüllen: mit einem Minirock auf die Straße gehen, einen Vibrator kaufen, Dinge, die Rinko insgeheim tatsächlich tun wollte... Auch Shigehiko hat ein verstörende Begegnung: Der selbe Mann, der Rinko erpresst, führt ihn in einem geheimen Club, in dem er erschreckende Szenarien miterleben muss. Was zunächst in Angst und Isolation führt, bietet am Ende offenbar nur einen Ausweg: das Paar muss wieder zusammen finden. Diesen 'zweiten Frühling‘ unter apokalyptischen Vorzeichen fängt Tsukamoto in grobkörnig-monochromen Bildern ein, wobei er ein fast quadartisches Bildformat benutzt, das dem einzelnen Darsteller viel Raum gewährt, ihn jedoch zugleich isoliert. War in seinen früheren Filmen stets Gewalt das Mittel zur 'neuen Geburt‘ seiner Protagonisten, wird hier erstmals der Körper selbst zur Quelle der Erlösung, indem geheime Lüste provoziert und anerzogene Hemmungen durchbrochen werden. „In der äußersten Vulgarität möchte ich etwas Reines, etwas Liebevolles und Ehrbares entdecken. [...] Dieser Film ist sowohl ein Abschied wie auch eine Ankunft. [...] Er erzählt die Geschichte bis zum Moment des einzigen möglichen Kontakts. Im Herzen der Stadt scheint jeder auszutrocknen. Wenn man die leisen Schreie der Charaktere aus den finsteren Tiefen heraufklingen hört, hätte ich mein Ziel erreicht,“ schreibt Tsukamoto zu seinem neuen Film.
Filmografie: |
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