TOKYO FIST

4 / 5 Sterne

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Japan 1995 - Regie: Shinya Tsukamoto 87 Min.
DVD in hochwertigem Digi-Pack & Schuber + Poster
· Audio: Deutsch DD 5.1, Japanisch DD 2.0 Untertitel: Deutsch (optional)
· Bild: 2,35:1; 16:9 anamorph
· Bonus: Kinotrailer, Musikvideo

Unmittelbar nach dem neuen Film VITAL präsentiert Rapid Eye Movies einen weiteren Film von Shinya Tsukamoto, der erstmals auf deutrsch vorliegt: das Boxerdrama TOKYO FIST (1995), in dem der Regisseur selbst zusammen mit seinem Bruder Khoji Tsukamoto ein brutal rivalisierendes Freundespaar spielt und so zu einer dem ursprünglichen Tsukamoto-Klassiker TETSUO ebenbürtigen originären Form findet. Während die beiden früheren Filme den Körperhorror auf der surrealen Ebene durchspielten, wendet er sich hier einem realen Ambiente und aktuellen Phänomenen der neunziger Jahre zu: Der Versicherungsvertreter Tsuda (Tsukamoto) begegnet unfreiwillig seinem früheren Schulkameraden Takuji (Khoji Tsukamoto) wieder, als dieser sich Tsudas Lebensgefährtin Hizuru in eindeutiger Absicht nähert. Die junge Frau geht auf Takujis Werben ein, zieht in seine Wohnung und beginnt, ihr neues Lebensgefühl parallel zu der gewalttätigen Rivalität der Männer in exzessivem Bodypiercing auszuleben. Tsuda beginnt, selbst Boxen zu lernen und löst damit einen Schwur ein, der die Männer seit ihrer Schulzeit verbindet; doch ein finale Begegnung der Haßfreunde im Ring findet schließlich nicht statt. Während sich Takuji eine blutige Schlacht mit einem weiteren Wunschgegner liefert, verarbeiten Tsuda und Hizuru die Beziehungskrise auf ihre eigene Weise: Sie fügen sich gegenseitig schwere Verletzungen zu – ich kehre zur einleitend geschilderten Sequenz zurück. Tsudas kurzes, verbissenes Aufbegehren durch das Boxen endet letztlich in Verwirrung. Nahm er zu Beginn zumindest die Großstadt als innerlich kranke, verwesende Hochglanzmaske wahr, scheint er am Ende gänzlich blind geworden zu sein: Mit seinem trüben, toten Auge steht er bewegungslos starrend auf einer einsamen Stahlbrücke.

Tsukamoto gelingt es, die in TETSUO entwickelten Stilmittel nahtlos und konsequent in ein der Grundstruktur nach klassisches Dreiecks-Melodram zu integrieren: Pulsierende Stahlschlag-Rhythmen, ruhelose Handkamera und Stakkato-Schnitt lassen den Film selbst zur Großstadterfahrung werden. Er zeigt Charaktere im alltäglichen Leerlauf, auf dem Weg zur Arbeit, in U-Bahnen und vor dem Fernseher, die den Bezug zum komplexen Geflecht ihrer emotionalen Bedürfnisse längst verloren haben. Der hier demonstrierte Modern Primitivism hat sich in den neunziger Jahren längst als Modebegriff etabliert. Dort spiegeln sich Facetten eines subkulturellen Phänomens, das zusehends in verschiedene Bereiche der populären Kultur eindringt: Mode, Film und Musik. Die spezifische Verbindung von Sexualität, physischem Schmerz und Gewalt, auf die letztlich alle Filme Tsukamotos rekurrieren und in der der Modern Primitive neue, ungekannte Formen der sinnlichen Reinheit sucht, ist schwer zu fassen und noch problematischer zu definieren: Der Soziologe Wolfgang Sofsky z.B. unterscheidet in seinem „Traktat über die Gewalt“ zwei Formen von Gewalt, die nicht destruktiv auf den Mitmenschen ausgerichtet sind, sondern zur Erweiterung des eigenen Empfindens dienen: „Rituale der Initiation oder asketische Techniken der Selbstkasteiung sind kulturelle Praktiken des Schmerzes. Sie nutzen den Umschlag des auf Leibeinseln eingehegten Schmerzes in Wollust, in die Wonnen der Pein. Oder sie aktivieren Kräfte, die sich dem Schmerz erfolgreich zu widersetzen vermögen. Diese Techniken zielen jedoch weniger auf den Schmerz als auf dessen Überwältigung, auf die Restitution der personalen Einheit. Im Zugewinn an leiblicher Intensität und Handlungsmacht bestehen Lust und Triumph der Souveränität, nicht im Erleiden des Schmerzes.“ Auch TOKYO FIST deutet an, wie sich eine schmerzliche Initiation innerhalb der populären Kultur Wege bahnen kann, um sich der Entfremdung vom eigenen physischen Bewußtsein innerhalb der Industriegesellschaft entgegenzustellen. Und da Initiation immer die Konfrontation mit dem Un-Faßbaren bedeutet, wird der Film hier zum reflektierten Leidensmoment, einem Moment der Krise: einer künstlichen, provozierten Krise, wenn man so will.

Tsukamoto bedient sich der kulturell naheliegenden Affektbilder und -situationen, die er komplex in sein eigenes ästhetisches Universum bettet – so bieten sich gerade die Bizarrerien des Modern Primitivsm sogar – im Gegensatz zur irrealen Welt von TETSUO – zur Simulation von „Authentizität“ an. Zärtlichkeit, Sexualität, Gewalt, Tod, Qual, Schöpfung, Irritation, Relativierung, Bestätigung, Alltäglichkeit und Mythos sind die Dreh- und Angelpunkte des initiatorischen Werkes TOKYO FIST, das sich mal einer Darstellung modern primitiver Körpertechniken bedient, oder im anderen Fall den Stil der Darstellung aus einer Reflektion dieser Techniken bezieht. Essentielle Erfahrungen werden ästhetisch vermittelt und vom Publikum im Idealfall authentisch erlebt. Ganz prinzipiell wird Kunst im Zeichen von Modern Primitivism zum Medium von Eros und Thanatos, von mythischem Werden und Vergehen. Und zudem wird im Moment existenzieller Entäußerung – im Schmerz, in der Lust – jede Grenze hinfällig: Die Mauern von Gender fallen, egalisieren alle Partizipienten. Die Körpertechniken des Modern Primitivism wie sie TOKYO FIST reflektiert kennen die Schranken der Geschlechter nicht. Sie sind die Chance auf ein möglicherweise überfälliges neues Verständnis des unheimlichen Anderen, jenseits des alltäglichen Unbehagens.

Marcus Stiglegger