THE NAMELESS Bewertung: 4/5 Anbieter: e-m-s Eine besorgt blickende Frau Anfang vierzig starrt melancholisch in das kristallklare Wasser ihres Aquariums, in dem schillernde Fische an ihr vorbeiziehen. Die Journalistin Claudia Gifford (Emma Villarasau) leidet unter Depressionen, seit sie ihre kleine Tochter durch einen Lustmord verlor und ihre Ehe daran zerbrach. Für eine neue Beziehung fühlt sie sich nicht bereit, fristet ihr Leben lieber mit alltäglichen Ritualen. Doch just am fünften Jahrestag des Todes ihrer Tochter bekommt sie einen Anruf: Eine verzweifelte Mädchenstimme behauptet, sie sei ihre Tochter, die Tote von damals nur eine falsche Spur und sie werde bedroht. Die traumatisierte Mutter macht sich sofort auf, das vermisste Mädchen zu suchen – in einem verfallenen Sanatorium am Strand. Ein unheimliche Welt öffnet sich ihr: stilisierte Engelsymbole überall, Müll, Tod und Verfall sind allgegenwärtig. Das Mädchen findet sie nicht, doch die Beinschiene, die ihre Tochter immer tragen musste... Jaume Balaguerós Psychothriller THE NAMELESS (LOS SIN NOMBRE, 1999) entfaltet von Beginn an eine fast nihilistisch düstere Atmosphäre. Fahle Farben, große Schattenzonen und sorgenzerfurchte Gesichter, in die die Kamera mit langen Nahaufnahmen blickt, treiben diesen Thriller in Gefilde, mit denen andere Genrewerke allenfalls spielen. Einige wenige musikalische Leitmotive lenken den Blick zunächst einmal auf die Zerquältheit der Protagonisten: Claudia tut sich mit jenem Polizisten zusammen, der den Fall damals betreut hatte (Karra Elejalde), selbst Frau und Kind verlor und freiwillig aus dem Polizeidienst ausschied. In tiefer Verbindung mit dem Schicksal der verzweifelten Mutter begibt er sich noch einmal in eine Welt, die mit jeder weiteren Enthüllung alles Fassbare und Menschliche verliert. Die „Namenlosen“ stehen am Ende dieser Entdeckungen, eine Sekte, die sich der Ekstase des Bösen verschrieben hat, um ein „Königreich des Schmerzes“ zu errichten. Individualität, Identität und Moral treten in deren Randexistenz außer Kraft: Aus dem Schmerz geboren, bringen sie diesen zurück in die Welt... In der radikalen Binnenlogik seines Modells ähnelt der Film am Ende allenfalls David Finchers SIEBEN: Auch dort wird das teuflische Mordkonstrukt erst rückwärts verständlich und den Zuschauer noch lange verstört grübeln lassen. Doch wo John Doe (Kevin Spacey) in SIEBEN ein apokalyptischer Moralist ist, triumphiert in NAMELESS der Nihilismus: die Namenlosen haben mit ihrem Namen und ihrer Identität auch die Trennung von Gut und Böse abgelegt. Der eigene Tod bedeutet nichts, sofern er der Vollendung des absolut Bösen, jener „Ekstase des umfassenden Schmerzes“ dient. Die Quellen dieser destruktiven Energie liegen in THE NAMELESS – wie in allem Neo-Gothic-Thrillern – in der Vergangenheit: Der völlig wahnsinnige Arzt Santini, der die Sekte der Namenlosen vom Sanatorium aus zu leiten scheint, war im Konzentrationslager Dachau einst Opfer bakteriologischer Experimente, konnte jedoch mit Hilfe eines reuigen deutschen Lagerarztes überleben. Unauslöschlich prägte ihn die Erfahrung absoluten Schmerzes, so dass er sie zu seiner Religion erklärte. Überführt wurde er erst spät – offenbar wegen Kindemissbrauchs... Die Gestaltung dieser hochintelligenten, mental zerrissenen Mad-Scientist-Figur könnte an Michael Aquino orientiert sein, jenem amerikanischen Geheimdienstmann, der als ehemaliges Mitglied der Church of Satan den Temple of Set gründete und 1987 ebenfalls wegen Kindesmißbrauchs verhaftet wurde. Oder der chilenische Naziokkultist Miquel Serrano, Begründer des „esoterischen Hitlerismus“ und Anhänger der Colonia Dignidad – auch er verfolgt wegen Vergehen an Minderjährigen. In diesem Subtext wagt sich THE NAMELESS relativ weit vor, die genannten Bezüge lassen aber ahnen, wie bizarr die Wirklichkeit im Vergleich zu diesem Horrormodell vermutlich ist (Aquino etwa war Berater im Stab von US-Präsident Ronald Reagan). Mit der Idee, das „Königreich des Schmerzes“ zu beschwören, operiert der junge Regisseur Balagueró (geboren 1968, Herausgeber des Magazins Zineshock) auf mehreren Ebenen des Films. Zu dem Verlustschmerz der Eltern und der Grausamkeit der Morde kommen immer wieder die bizarren Körpertechniken des Modern Primitivism. Gleich zu Beginn zeigt Claudia ihrem Vorgesetzten Fotos gepiercter Genitalien, die sie für einen Artikel ausgewählt hat; ein in sie hoffnungslos verliebter Fotoreporter lässt sich Claudias Namen tätowieren und demütigt dabei die Tätowiererin mit seinen abfälligen Worten; Gasmasken, Spritzenkanülen, Protesen, Messerklingen, Blut auf weißer Haut – all diese Motive bestimmen die Bildwelt des Films, und wenn man die psychosexuellen Phantasmagorien von Balaguerós Kurzfilmen ALICIA (1994) und DAYS WITHOUT LIGHT (1995) kennt, werden die eigentlichen Interessen des Filmemachers schnell deutlich: Wie viele spanische Filmemacher kreisen seine Phantasien um Sünde, Strafe, Martyrium, Religion, Erlösung und Entbehrung. Ein ketzerischer Katholizismus verbindet sein Werk mit den Filmen Augustin Villarongas (EL MAR – DAS MEER): Schrecklich-schöne Bilder vom Leiden der „Heiligen“ einer entsakralisierten Welt. Nicht jedem Zuschauer wird diese Inszenierung behagen, das ist auch sicher nicht das Anliegen dieses faszinierenden Thrillers. Mit seiner aktuellen Regiearbeit DARKNESS widmet sich Balagueró nun der Finsternis selbst... Man kann gespannt sein. Die vorliegende hervorragende gestaltete Doppel-DVD von e-m-s präsentiert den Film in drei Sprachfassungen und bietet eine Menge Zusatzmaterial: die faszinierenden Kurzfilme, das Making-Of, deleted Scenes, ein amüsantes Interview, diverse Trailer sowie das Musikvideo „My Black Dress“, der Gothic-Elektroband Fang, das ebenfalls von Balagueró inszeniert wurde. Wer sich für stilsicher inszeniertes, finsterstes Gothic-Kino interessiert, sollte hier unbedingt zugreifen! Marcus Stiglegger |
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