Dieser Text erschien in zwei Teilen erstmals in der Zeitschrift Filmdienst.

Marcus Stiglegger

Fin de Siècle - Fin du globe

I. Endzeitstimmung im Film der neunziger Jahre

Ich wollte, es wäre Fin du globe!
Oscar Wilde, „Das Bildnis des Dorian Gray“

Die schonungslose zeitgenössische Kunst
bezieht ihren Stoff aus der zeitgenössischen
Welt voller körperlichen und seelischen
Elends. [Sie] wird auf bizarre Weise von einer
Welt des Mordes und des Totschlags und des
Krieges inspiriert; von einer Menschenwelt,
die ihre natürliche Umwelt en passent vergiftet.

Gregory Fuller, „Endzeitstimmung“

Dekadenz und Tod

Die Welle an apokalyptischen Untergangsvisionen im Kino ist sicherlich nicht neu. Bereits in den siebziger Jahren durchstreifte ein Detektiv die marode, sich selbst verzehrende Gesellschaft („Soylent Green“ / „...Jahr 2022... die überleben wollen“, 1973), nicht einmal zehn Jahre später hieß diese Figur dann Rick Deckard und war der „Blade Runner“. Was als latentes Späterbe der Schwarzen Romantik des 19. Jahrhunderts und natürlich des klassischen film noir Hollywoods das Filmgeschehen durchzog, wird mit dem nahenden Millenium zur populären Hysterie: Katastrophen erreichen globales Ausmaß („Deep Impact“), das Fremde bedroht die Menschheit („Starship Troopers“), die Erotik erforsch tabuisierte Grenzbereiche („Crash“) und Zeit und Identität werden zu fragwürdigen Größen („12 Monkeys“). Doch die Wurzeln dieser Strömung ragen zu einem großen Teil zurück in Kunst und Literatur der vergangenen Jahrhundertwende. Das Phänomen einer genüßlich düsteren und dekadenten Weltsicht trug den vieldeutigen Namen fin de siècle, der eine Ära kennzeichnet, die von ihren schöngeistigen Vertretern in der Tat als eine Endzeit erlebt wurde. Die Künstler des endenden 19. Jahrhunderts lebten in dem Bewußtsein einer verfallenden Kultur, die sie auf mitunter irritierende Weise reflektierten: Degeneration, Deformation, Krankheit, Tod, erotische Extravaganz und Schatten der Schwarzen Romantik prägten die Texte von Oscar Wilde, Joris-Karl Huysmans, Gabriele D’Annunzio und Stefan George. Ein prägnantes Bild dieser Tendenz schuf Arnold Böcklin in seiner Todespassage „Die Toteninsel“ (1880): hohe, schroffe Felsen, verlassene Gebäude, eine leichenhaft blasse Gestalt, bedrohliche Element der Natur. In ihrer Lust am Untergang stellten die fin de siècle-Künstler die Kunst (und letztlich die Künstlichkeit) über die Realität. Viele der damals verbreiteten Elemente kehren heute wieder. Es herrscht eine Renaissance von décadence und gothic fiction, von Irrationalität und Schwarzer Romantik. Diese Tendenz beschränkt sich weder auf die klassischen Genres, in denen sie latent fortlebte, wie z.B. den klassischen Horrorfilm, noch auf Phänomene der Subkultur. Tatsächlich lebt im programmatisch eingeläuteten Millenium der Geist eines neuen fin de siècle, der vom Mainstream diesseits und jenseits des Ozeans Besitz ergriffen hat.

Erotik und Perversion

Ein klassischer Frauentyp des fin de siècle ist die mysteriöse, gefährliche und verruchte femme fatale, wie sie sich bereits im film noir der vierziger Jahre etabliert hatte. Sie ist die Verführerin, die Versuchung zum Bösen, die für den meist männlichen Protagonisten Initiation und Transgression zugleich verkörpert. In seinem Begehren stellt er die eigenen moralischen Grenzen in Frage und liefert sich selbst seinen verwirrten Instinkten aus. Sharon Stone wurde in Paul Verhoevens „Basic Instinct“ (1992) zu einer Ikone des modernen Erotik-Thrillers, der die décadence der Jahrhundertwende mit dem klassischen Filmthriller Hitchcockscher Prägung erfolgreich kreuzte. William Friedkin trieb dieses Konzept in „Jade“ (1996) noch weiter, indem er die ganze Führungsschicht von San Francisco als morbide und pervertierte Maskenträger entlarvt; Politiker, Polizei und Anwälte sind gleichermaßen in einen bestialischen Ritualmord verwickelt. Anwaltsgattin Trina (Linda Fiorentino) ist in diesem Inferno das Bindeglied zwischen der korrupten Politik und den privaten Obsessionen: Ihre Entfremdung verarbeitet sie als Callgirl Jade. David Cronenberg hingegen entfernte sich mit „Crash“ (1996) weit von herkömmlichen Genremustern. In fragmentarischen Episoden erzählt er von der sexuellen Fetischisierung schwerer Autounfälle und deren Opfern. Das erotische Interesse hat sich von der reinen Körperlichkeit entfernt und strebt nach der Verschmelzung mit den Statussymbolen des Industriezeitalters: den metallenen Maschinen, vornehmlich Autos. Der Körper einer von Rosanna Arquette verkörperten Frau ist bereits den ersten Schritt der Mutation zum „neuen Fleisch“ gegangen: Schrauben ragen aus ihrem Gewebe, Knochen werden durch künstliche Bauelemente ersetzt. Tod, Deformation und Künstlichkeit geraten zum Moment der Verführung. Wie es Georges Bataille in „Der heilige Eros“ (1963) fordert, kann Schönheit hier nur noch in ihrer „beschmutzten“ Form wahrgenommen werden. Dem vermutlich letzten erotischen Tabu widmet sich Lynn Stopkewich in ihrem Debütfilm „Kissed“: Ihre Protagonistin (Molly Parker) ist von Kindheit an nekrophil. Waren es damals rituell beerdigte Haustiere, richtet sich nun ihr sexuelles Interesse auf menschliche Leichen. Das Intermezzo mit einem lebenden Geliebten hinterläßt unerfüllte Leidenschaft. Erst mit seinem Tod kann ihr Freund das sakrale Licht der Erlösung beschwören, das die Liebenden für immer vereinen wird. Hier klingen bereits weitere Elemente des fin de siècle an: das Okkulte und Mystische sowie die Heraufbeschwörung heidnischer Zeremonien, die sich in rituellen Sexakten spiegeln.

Neo-Gothicism und Okkultes

In seinem komparatistischen Buch „Gothic“ (1997) stellt der Herausgeber Christopher Grunenberg fest: „Mit dem Nahen des Milleniums durchdringt erneut der Geist des gothic die zeitgenössische Kunst und Kultur. Im letzten Jahrzehnt haben sich amerikanische und europäische Künstler vermehrt von der dunklen und unheimlichen Seite der menschlichen Psyche, dem Theatralischen und Grotesken, dem Gewalttätigen und Destruktiven fasziniert gezeigt.“ Gothic war ursprünglich die unheimliche Tradition in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts - vertreten etwa durch Edgar Allen Poe und Mary Shelley -, doch geprägt von Expressionismus und Existenzialismus muß das „Gothic-Gefühl“ als ein nahezu zeitloses Phänomen betrachtet werden, das immer wieder einen zeitgemäßen Ausdruck finden wird. Das Unheimliche, Morbide und Okkulte hat längst die Grenzen des Horrorgenres überschritten. So rekonstruierte Tim Burton in seinen „Batman“-Adaptionen das Gotham City der zugrundeliegenden Comicstrips als theatralische Nachtwelt, die die Psyche ihres fledermaushaften Protagonisten spiegelt. Nicht nur die bizarren Gegenspieler Batmans zeichnen sich durch ausgesuchte Grausamkeit aus - man denke an Danny de Vito als verkrüppelter „Pinguin“ -, auch der Held selbst leidet an der eigenen Existenz und Abgründigkeit. 1994 gelang es dem Videoästheten Alex Proyas, den Neo-Gothic-Comicstrip „The Crow“ von Jan O’Barr in eine korrodierte, abgründige Endzeitvision vom Niedergang der großen Städte in Dekadenz und Feuer zu verwandeln. Dieser Film, der das morbide, todesnahe Gothic-Gefühl des fin de siécle in einen modernen Popmythos projizierte, kann als das gelungene Beispiel für einen rein „physischen“ Film betrachtet werden. Er ersetzt die Charakterisierung seiner Figuren durch eine komplexe Farb- und Bewegungscodierung. Alles wird veräußerlicht, was es an Emotionen zu transportieren gilt. Dergestalt erzählt er die Geschichte des Wiedergängers Erik Draven (Brandon Lee), der aus dem Grab zurückkehrt, um sich für den eigenen und den Tod seiner Geliebten zu rächen. Seine Welt ist eine Stadt der ewigen Nacht und des Regens. - In Mark Dippès „Spawn“ (1997) soll der getötete Held selbst zum Anführer der höllischen Heerscharen werden, wogegen er sich jedoch erfolgreich wehrt. Jenseits dieser Comicuniversen versuchen sich Fernsehserien wie „Millenium“ von Chris Carter und „Riget“ („Geister“, 1994) von Lars von Trier an realitätsorientierteren Spielarten des okkulten Thrills.

Psycho Killer

Einem erschreckend realen Phänomen widmet sich die neue Generation des Psychothrillers. Angefangen mit Jonathan Demmes „Silence of the Lambs“ („Das Schweigen der Lämmer“, 1990) entwickelte sich der psychopathische Massenmörder zu einem charismatischen Übermenschen, der Gesetz und Moral den eigenen Neigungen zugunsten außer Kraft setzt. In David Finchers finsterem Polizeifilm „Seven“ („Sieben“, 1996) spielt er die sieben alttestamentarischen Todsünden durch, ohne sich selbst bei der Bestrafung auszusparen. Noch erschreckender jedoch sind die Psychokiller ohne jegliche Motivation. Hatte sich Oliver Stone in seinem multimedialen Overkill „Natural Born Killers“ (1994) noch einer soziologischen Erklärung bedient, die belegt, daß sein Killerpärchen gerade nicht als „Mörder geboren“ ist, gehen Wes Craven in „Scream“ (1996) und Michael Hanecke in „Funny Games“ (1997) einen nihilistischeren Weg. Ihre Killer beschreiben sich selbst als Personifikationen einer diffusen, umfassenden Destruktivität. Sie sind der Selbstzerstörungsmechanimus der modernen (Medien)-Gesellschaft. Craven sucht die Annäherung an das Publikum über die Mechanismen des populären Teeny-Horrorfilms, Hanecke bedient sich eines etwas nüchterneren, experimentelleren Zugangs, beide Filme jedoch schaffen eine Distanz zum Zuschauer. Es blieb David Lynchs Eifersuchtsdrama „Lost Highway“ (1996) überlassen, direkt in den Kopf des Killers einzudringen und sogar die Spaltung des Protagonisten in zwei völlig unterschiedliche Figuren zu riskieren.

Imitationen des Lebens

„Noch seltsamer ist ihre Vorliebe für das Unechte. Mehr als das Objekt selbst liebt sie, daß es eine Imitation ist“, schreibt Paul Morand in seiner Erzählung „Klarissa“ (1921). Der Reiz und die Schönheit des Künstlichen, das sein natürliches Vorbild optimiert und auslöscht, ist das Faszinosum des postindustriellen Zeitalters. Nicht nur die Umwelt, auch der Körper wird modelliert und optimiert, geklont und kopiert. Was bei Morand und Huysman noch das unschuldige Verzücken der décadence hervorrief, entwickelte sich im utopischen Roman von Aldous Huxley bis Philip K. Dick zur Schreckensvision von der entindividualisierten, grenzenlos formbaren Gesellschaft. Ridley Scotts „Blade Runner“ (1982) mußte bereits seinen Protagonisten ahnen lassen, daß die eigene Identität nichts als synthetische Erinnerung sein könnte. So wird nach dem Körper in einem letzten Schritt auch der Geist zum Produkt. Alex Proyas’ Fantasy-Thriller „Dark City“ (1998) zeigt eine artifizielle Noir-Stadt, die weitgehend den Moden der vierziger Jahre gemäß gestaltet ist, in der ein Mann (Rufus Sewell) aus geistiger Umnachtung erwacht. Scheinbar ist er der Mörder einer jungen Frau und wird von mysteriösen bleichen Männern mit schwarzen Mänteln und Hüten verfolgt. Während der melancholische Detektiv Bumstead (William Hurt) in dem Fall ermittelt, mischt sich immer wieder ein skurriler Arzt (Kiefer Sutherland) ins Geschehen ein, der als eine Art Bindeglied zwischen den dämonischen Verfolgern und dem verunsicherten Helden fungiert. Was wie Steven Soderberghs stilistisch ähnliche „Kafka“-Vision beginnt, verliert sich zusehends in einer irritierenden Science-Fiction-Fabel: Die Stadt, die von den „schwarzen Männern“ jede Nacht - wenn alle Bewohner in tiefen Schlaf fallen - komplett modifiziert wird, ist ein Experimentierfeld, in dem regelmäßig die Identitäten der Menschen vertauscht werden. So kann jederzeit aus dem Täter das Opfer werden. In einem Akt der Selbstauslöschung erschöpft sich „Dark City“ schließlich in einem gigantomanischen Feuerzauber. Proyas’ Film zelebriert diese Künstlichkeit auf filmischer, inhaltlicher und stilistischer Ebene. Auch in der „Alien“-Reihe liegt ein Hauptschwerpunkt auf dem Umgang mit künstlichen Lebensformen, die mitunter besser funktionieren als die Menschen. Die in jeder Folge auftauchenden Androiden stellen zusehends die menschliche Identität in Frage. Ash (Ian Holm) in Ridley Scotts erstem Teil ist noch der gewissenlose Roboter, der zur Not alles Leben vernichtet, aber bereits in Jeunets „Alien Resurrection“ („Alien - Die Wiedergeburt“, 1997), dem vierten Teil der Serie, ist die diskriminierte Androidin (Wynona Ryder) selbst zur humanistischen Instanz geworden. Die Kopie hat das Original überflügelt.

Tote Städte

„Die Kunst des zweiten Jahrtausendendes faßt ihre Zeit in den Bildern, die die Gesellschaft selbst hervorbringt“, schreibt Gregory Fuller in „Endzeitstimmung“ (1994). Eine Visualisierung dieser Zeit ist die sterbende, verlassene Stadt. Seien es bürgerkriegserschütterte Viertel, die selbst eine aufgerüstete Polizei nicht mehr in Schach halten kann - wie in Danny Cannons SF-Abenteuer „Judge Dredd“ (1995) -, oder verfallende Ruinen, in denen sich die Bewohner gegenseitig nach dem Leben trachten, wie in Jeunets und Caros Groteske „Delicatessen“ (1992). David Fincher ging in „The Game“ (1997) so weit, die moderne Großstadt selbst zu einem gigantischen Spielfeld zu erklären, in dem der Protagonist (Michael Douglas) umherirren muß. Keine Begegnung scheint dem Zufall überlassen, alle Beteiligten tauchen schließlich auf der finalen Geburtstagsfeier wieder auf. Sogar sein verzweifelter Sprung in den Tod wird schließlich zur Illusion.

 

Armageddon

Höhepunkt der Milleniums-Phantasie ist schließlich das Ende der Welt selbst, das Gottesgericht. Anders als die weltbedrohenden Katastrophen durch Kriege wie in „Terminator 2“(1990) - der den atomaren Tod anhand eines verglühenden Kinderspielplatzes veranschaulicht -, die drohende Virenkatastrophe aus Terry Gilliams „12 Monkeys“ (1996) oder etwa kollidierende Meteoriten wie in „Armageddon“ (1998), zeigt Tim Pope in „The Crow - City of Angels“ („Die Rache der Krähe“, 1996) Los Angeles als eine Stadt guter und böser Engelswesen, die sich in einem ständigen mythischen Konflikt befinden. Gelegentliche alltäglich Momente wirken in dieser jenseitigen Welt, die von schwefeligem Dunst überlagert ist, ihrerseits irreal.; der Untergang der Menschheit hat bereits stattgefunden, wir befinden uns in der Traumzeit. Nicht einmal die Zugeständnisse an das populäre Actionkino des ersten Teils sind geblieben. „Die Rache der Krähe“ ist fleischgewordene Gothic-Fiction. - Mit einer möglichen Untergangsvision spielt auch Kathryn Bigelow in „Strange Days“ (1995). Die rassistischen Ausschreitungen durch einen psychopathischen Polizisten könnten zum Rassenkrieg führen, der anläßlich der Milleniumsfeier unweigerlich die Vernichtung der Stadt Los Angeles zur Folge hätte. Doch Kathryn Bigelow entscheidet sich für ein Moment der Hoffnung. Mit dem Eingreifen des gesetzestreuen Polizeichefs scheint die ganze Stadt zu verstummen, und als der Halbkriminelle Lenny (Ralph Fiennes) und die Leibwächterin Mace (Angela Bassett) endlich zueinander finden, nimmt die größte Party aller Zeiten um sie herum weiter ihren Lauf... Armageddon findet nicht statt - vorerst.

Fade to Black

II. Gothic-Tendenzen im Kino der Gegenwart

„Das Ideal der romantischen Dichtung liegt in unserem Leiden.“ So formuliert der Romantiker Charles Nodier sein Selbstverständnis angesichts der gothic novel „Melmoth der Wanderer“ (1820) von Charles Robert Maturin. Gothic fiction ist die unheimliche Tradition in der Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts – vertreten etwa durch Poe, Stoker, Polidori und Mary Shelley –, doch gefiltert durch Expressionismus und Existenzialismus muß das ‚Gothic-Gefühl‘ als ein nahezu zeitloses Phänomen betrachtet werden, das immer wieder einen zeitgemäßen Ausdruck finden wird. Noch die spätromantischen Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebten in dem Bewußtsein einer verfallenden Kultur, die sie in ihrer Kunst auf beklemmende Weise reflektierten: Degeneration, Deformation, Krankheit, Tod, erotische Extravaganz, Vampirismus – der lange Schatten der Schwarzen Romantik prägte selbst spätere Texte von Baudelaire, Rimbaud, Wilde und Huysmans. Zahlreiche der damals etablierten Elemente kehren heute wieder. Und auch das gegenwärtige Kino zelebriert eine Wiederkehr der gothic fiction, der Irrationalität der Schwarzen Romantik. Diese Tendenz beschränkt sich weder auf die klassischen Genres, in denen sie immer schon latent fortlebte, wie z.B. den klassischen Horrorfilm, noch auf Phänomene der Subkultur, etwa der Gothic-Szene seit Mitte der achtziger Jahre.


Gothic Culture

Ausgehend von Horace Walpoles Schauerroman „The Castle of Otranto“ (1764) lassen sich einige essentielle Motive des Gothic-Phänomens isolieren, die nicht nur für entsprechende Literatur, sondern nachhaltig auch für Subkultur, Film und die populäre Musikszene gelten: Die Atmosphäre wird beherrscht von einem Geheimnis, von oft unerklärlichen, irrationalen Vorgängen. Oft steht eine uralte, mythische Prophezeiung im Hintergrund, mit der das Figurenarsenal oder der Schauplatz schicksalshaft verknüpft sind. Visionen und (Alb-)Träumen kommt gerade in diesem Kontext eine tragende Bedeutung zu. Als Schauplatz dient dabei nicht selten ein sehr altes Gebäude, oder aber explizitere Orte des Todes: abgelegene Gebiete, Schluchten, Ruinen oder Friedhöfe. Hinzu kommt eine meist unüberschaubares Ausmass dieser Orte und Gebäude, eine mythische Größe, die das Individuum unter sich zu begraben scheint. Menschliche Konflikte erreichen in diesem pathetischen Umfeld mitunter hysterische Dimensionen: Panik, Angst, Trauer, Wut, Begierde, Leidenschaften aller Art tragen das ihre zum Exzess der Gothic-Atmosphäre bei. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen daher oft weibliche Protagonisten, die unverhofft in beklemmende Zusammenhänge geraten und am Ende um ihr Leben kämpfen müssen. Eine genderspezifische Zuschreibung ‚weiblicher Schwäche‘ wird oft unterwandert: Die Gothic-Heroin entwickelt ihre eigenen Mechanismen der Aktion und Gegenaktion – gerade, wenn sie sich dem destruktiven Begehren eines bösartigen Mannes ausgesetzt sieht. Auch andere Modelle romantischer Verflechtung ordnen sich dem morbiden Setting unter: unerfüllte Liebe, einseitige Leidenschaft, endgültiger Abschied, der gemeinsame Liebestod und natürlich das disharmonische Liebesdreieck. All diese Konstrukte werden ins Irrationale gesteigert durch eine Zusammenspiel von Fabel, Setting, Atmosphäre und Charakterzeichnung. Gerade im Kino der späten neunziger Jahre kehren auch die Metonymien der gothic fiction wieder: deutlich zuzuordnende Stereotypen, die eine Atmosphäre des Unheimlichen beschwören sollen (Gewitter, Sturm, undefinierbare Geräusche, Klirren, Knarren, flackerndes Kerzenlicht). Zuletzt hatten sich die Horrorfilme der britischen Hammer Produktion und Roger Cormans Poe-Adapation der 1960er Jahre ausgiebig dieser Mittel bedient, doch das Unheimliche, Morbide und Okkulte hat heute längst die Grenzen des Horrorgenres überschritten.
Das aktuelle Gesicht des Gothizismus‘ ist zunächst ein äußerlich manifestes Phänomen der pop- und subkulturellen Mode. Leichenblässe, die schwülstige Kleidung des Mittelalters und der Barockzeit, lange Fingernägel, okkulter Silberschmuck sind als äußere Attribute des Neo-Gothic wohl bekannt. Gothic ist eine schwarzromantische Subkultur, die als Hybrid der Postpunkbewegung unter dem Einfluß des New Romantic der frühen achtziger Jahre gelten kann. Es handelt sich bei dieser Subkultur um den gegenwärtig konsequentesten Versuch, Leben, Ästhetik und Kunst zu vereinen, wie es das romantische Lebensgefühl gefordert hatte.


Retro-Gothic

In einer eingehenderen Betrachtung des Einflusses von Schwarzer Romantik und Gothic auf das Kino der neunziger Jahre und der unmittelbaren Gegenwart ist zunächst zwischen jenen Filmen zu unterscheiden, die inhaltliche und ästhetische Versatzstücke der klassischen Gothic-fiction weiterentwickeln bzw. zu einer Renaissance dieser Elemente führten, sowie jenen Filmen, die Vertreterinnen und Vertreter der gegenwärtigen schwarzromantischen Gothic-Subkultur in ihrem Figurenensemble verorten. Es erscheint wenig erstaunlich, dass sich Filme beider Kategorien weitgehend im postmodernen Horrorkino finden lassen.
Höhepunkte des 'klassisch‘ orientierten schwarzromantischen Horrorkinos, das sich selbstredend bis in die Frühzeit des Kinos zurückverfolgen lässt und sowohl in den Universal-Produktionen der 1930er Jahre als auch in den britischen Hammer-Filmen der 1950er und 1960er Jahre eine Erfolgswelle erfuhr, sind Neil Jordans Adaption des Szene-Kultromans „Interview with a Vampire“ von Anne Rice sowie Tim Burtons Variation auf Washington Irvings „Legend of Sleepy Hollow“. Äusserst populär in Besetzung und Mise en scène geht dabei „Interview mit einem Vampir“ (1994) vor: Er versammelt eine Riege bekannter Hollywoodgesichter, transportiert sie in eine artifizielle Vergangenheit und hält so sich und das Publikum in sicherer Distanz zum makabren Geschehen. Ein schäbiges Hotelzimmer im heutigen San Francisco: Louis (Brad Pitt) berichtet dem Reporter Malloy (Christian Slater) von seiner Existenz als Vampir, die 1791 in Loui-siana beginnt. Nach dem Tod von Frau und Kind fleht Louis um Erlösung vom Schmerz des Lebens. Seine Bitte wird er-hört: Vampir Lestat (Tom Cruise) bohrt seine Zähne in Louis‘ Hals und macht ihn zu einem der Seinen. Doch anders als Lebemann Lestat, der am liebsten Aris-tokratenblut trinkt, pla-gen Louis Mitleid und ein schlechtes Gewissen. Er zögert, sich durchzubeißen. Um ihn abzulenken, holt Lestat das Mädchen Clau-dia (Kirsten Dunst) in die ,,Familie‘. Sie wird zu Lou-is‘ treuer Begleiterin, doch die Kleine hasst Lestat, der mit einem Biss dafür sorg-te, dass sie zwar ewig lebt, aber für immer in einem Kinderkörper gefangen ist. Als sie versucht, Lestat zu töten, flieht Louis mit ihr nach Europa. In Paris be-gegnen sie Ihresgleichen: Vampir Armand (Antonio Banderas) hat einen fatalen Einfluss auf Louis... In der Inszenierung der blutigen Grand-Guignol-Aufführungen, die Armand in einem Pariser Theater zelebriert erreicht der Film seine stärksten Momente, die wahrhaftig etwas vom Kitzel der absoluten Souveränität des jenseits der Moral stehenden Vampirwesens vermitteln, doch meist herrscht eine augenzwinkernde Pose vor.
Nicht unähnlich ist Tim Burtons Perspektive, dieser Filmemacher steckt jedoch tiefer im Bannkreis des Morbiden: Basierend auf Washington Irvings Kurzgeschichte – im Verlauf des Films jedoch Abstand dazu gewinnend – erzählt der Tim Burton in „Sleepy Hollow“ (1999) vom Advent des rationalen Zeitalters und dem Abschied vom abergläubischen Irrationalismus, dessen letzte Nachwehen hier einem tapsigen Kriminalmediziner im Jahre 1799 das Leben schwer machen. Anders jedoch als „Der Pakt der Wölfe“ (2001) von Christophe Gans, der ganz Ähnliches unternimmt, mündet das Geschehen in „Sleepy Hollow“ seinerseits in das irreale Reich des Grauens, denn aus dem Streich der Dorfjugend in der Vorlage wird in Burtons Film tatsächlich ein apokalyptischer kopfloser Reiter. Burtons kunstvoll arrangierte Welt ist ein märchenhaft-bedrohliches Niemandsland – gelegen an der Grenze zum Alptraum oder aber zu einem mystischen Verständnis früherer Jahrhunderte. Die Häuser neigen sich bedenklich, scheinen einander stützen zu müssen, ihre Fensterläden gegen neugierige fremde Blicke verbarrikadiert. Mehr noch als in seinen früheren Werken, auf die der Film stellenweise ironisch verweist, beschwört Burton hier die Schwarze Romantik der Gothic fiction des neunzehnten Jahrhunderts, die ihrerseits als Reaktion auf die fortschreitende Aufklärung zu lesen ist. Die schwer begehbare, feindliche Natur, düstere Wälder, die endlose Geheimnisse bergen, die verschlossene, animistische Landbevölkerung, der lastende Nebel – all das erscheint als Omen einer heimgesuchten, endzeitigen Welt. 'Gothic‘ ist auch hier nicht in einer zeitlichen Zuordnung zu begreifen, sondern in einer weiteren Bedeutung als 'mystisch‘, 'geheimnisvoll‘ und 'düster‘. Wenn der wieder vervollständigte Söldner am Ende seine angefeilten Zähne in die Lippen der Femme fatal gräbt und auf seinem riesigen Rappen mit einem Sprung in die Hölle galoppiert, kann man das durchaus als die schwarzromantische Variante eines Happy Endings betrachten. So liegt die Stärke von „Sleepy Hollow“ vor allem in solchen Details, brillant inszenierten Set-Pieces, die dem Film eine betörende märchenhafte Aura verleihen.


Gothic Outlaws

Gerade in den letzten Jahren tauchen auch immer wieder Elemente der Gothic-Szene als einer zunehmend populären Subkultur auf. Einige primär dem (amerikanischen) Mainstreamkino entnommene Beispiele sollen diese Tendenz veranschaulichen. Jamie Blanks Teenie-Horrorfilm „Düstere Legenden“ (1998) dreht sich um jene modernen Schauergeschichten, die sich als Friend-of-a-Friend-Tales in Partygesprächen beständig halten. Auf dem Campus einer Universität scheint ein maskierter Serienmörder zahlreiche dieser urban legends in die blutige Tat umzusetzen. Die notorisch bürgerliche Natalie (Alicia Witt) wohnt in ihrem Wohnheimzimmer mit der biestigen Gothicfrau Tosh (Danielle Harris) zusammen, die einen Gutteil ihrer Zeit vor dem Computer verbringt, um im virtuellen Gothic-Chat gleichgesinnte Kommilitonen kennenzulernen. Im Rahmen des Geschehens kommt der Nebenfigur nur minimaler Raum zu, ihr dritter und finaler Auftritt gipfelt jedoch in einem makaberen Tod. Hier wird der moralistisch-restriktive Umgang der amerikanischen Kulturindustrie mit ihren Außenseiterfiguren deutlich: ‚Wer für die Lust lebt, soll durch die Lust sterben.‘ Jeder Versuch der Transgression wird unmittelbar im Unsozialen verortet und unmittelbar mit Gewalt geahndet. „Manisch depressiv“ sei Tosh gewesen, so erfährt man später, als ihre Tod als makabrer Selbstmord verhandelt wird. Als ihre Leiche durch die Aula geschoben wird, bemerkt eine Kommilitonin: „Hat mal jemand den Puls gefühlt? Die sieht doch seit Jahren schon so aus.“ Gerade das amerikanische Collegesystem ist eines der unbedingten Anpassung, der unkritischen Unterordnung unter die Gesetze des Mainstreams und des Sexismus. Tosh wird ungeachtet der präsenten Platitüden dennoch als ein querdenkender und -handelnder Charakter beschrieben: eine junge Frau, die nach eigenen Gesetzen lebt, die ihre eigene Ästhetik vertritt – zumindest im schmal gedachten Universum dieses Films.

Etwas differenzierter präsentiert der ehemalige Dokumentarfilmer Joe Berlinger seinen Thriller „Blair Witch 2 – Book of Shadows“ (2000), in dem erstmalig eine Vertreterin der Gothic-Subkultur als Protagonistin zu sehen ist: „Der Titel ‚Book of Shadows‘ bezieht sich auf die Schatten im Leben der Charaktere, von denen wir im Verlauf des Films erfahren. [...] Die amerikanische Gothic-Bewegung schien sich besonders zu ‚Blair Witch Project‘ hingezogen zu fühlen. Die meisten Jugendlichen, die nach Burkettsville zogen, waren Gothics. Aussenseiter, die der übernatürliche Aspekt des Films faszinierte. Aber denen es auch gefiel, dass der Film in gewisser Weise, ebenso wie sie, wie ein Aussenseiter daherkam und trotzdem die Welt eroberte,“ meint der Regisseur. Kim (Kim Director) ist zwar ebenso abgeklärt und zynisch wie ihre marginalen Vorläuferinnen, in ihrer trotzig-selbstbewussten Art, ihrem routiniertem Umgang mit Diskriminierung und Verachtung, liegt jedoch deutlich erkennbar die Spur einer jahrelangen demonstrativen Verweigerung gegenüber den Normen der Gesellschaft, die längst verinnerlichte Geste einer romantischen Revolte. In ihrem Gothic-Charakter kulminiert das Wesen dieses inzwischen zeitlosen Phänomens: Gothic gehört zur bürgerlichen Industriegesellschaft wie die Nacht zum Tag. Wirklich inakzeptabel wird diese gelebte Schwarze Romantik erst in jenem Moment, wo der gesellschaftliche Gegenpol blutige Früchte hervorbringt.


Death Valley

Mit dem zweiten Millenium hat auch der entschlafene Vampir Lestat (Stuart Townsend) neue Freude an der finsteren Existenz gefunden: Er kehrt seinem Exil-Gewölbe den Rücken und tritt umgehend an, als Gothic-Rock-Sänger die (mediale) Welt zu erobern. Michael Rymers von Warner Bros. aufwändig produzierte Verfilmung eines weiteren Romans von Anne Rice „Königin der Verdammten“ (2002) bringt beide geschilderten Spielarten des Neo-Gothic im Kino zusammen: Der klassische Vampirplot der ersten Variante ist gänzlich in der Gothic-Subkultur (der zweiten Variante) angesiedelt, wodurch die makabre Gothic-Fantasie soziale Gestalt annehmen kann – Lestat gründet eine Band, die nach eigener Aussage „Sex, Blood and Rock’n’Roll“ bietet und es ihm ermöglicht, über Fernsehen und Musik mit anderen Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Die Rivalitäten der Vampirgesellschaft untereinander stehen eher im Hintergund, obwohl gerade hier ein Potential des Stoffes liegt; denn wo das Antlitz des Bösen zur reizvollen, populären Maske erhoben wurde, ist natürlich die Subversion der Gesellschaft durch das ‚wahre Böse‘ um so unheimlicher. So lassen sich die Vampire äußerlich kaum von Lestats todessüchtigen Gothic-Fans unterscheiden, die zu Tausenden seinem Rockkonzert im Death Valley (sic) entgegenfiebern. Interessant ist schließlich vor allem der Auftritt der ägyptischen Ur-Vampirin Akasha, der „Königin der Verdammten“, die sehr bewusst mit dem (verstorbenen) Soul-Star Aaliyah besetzt wurde: Mit exotischem Antlitz und aufreizendem Hüftschwung macht sie sich daran, Lestat zu verführen und die Gesellschaft der Vampire zu zerstören. Im Rosenblütenbad wähnt sie sich ihrem Ziel nah, doch unter großen Opfern gelingt es den 'konservativen‘ Vampiren, ihre Macht zu brechen. Hier vereinfacht der Film die ursprüngliche Idee des Romans bis zur Unkenntlichkeit, denn „die Autorin [...] hat die ursprünglich maskulin dominierte Vampirwelt entschieden feminisiert [...]. Akasha ist nicht nur das machtvollste Vampirgeschöpf, sondern ist auch mit radikalfeministischen Zügen ausgestattet. So hegt sie den Glauben, dass die Frauen eine Welt des Friedens errichten könnten, wenn erst die meisten Männer ausgerottet seien“ (Norbert Borrmann). Im Modell des Films – vor allem in seiner Besetzung – spiegelt sich jedoch allenfalls die kommerzielle Rivalität von „weißer“ Rockmusik und „schwarzem“ Soul. Natürlich ist ein solches Modell reiner postmoderner Trash, doch der Einfluss schwarzromantischer Motive auf das Kino der Gegenwart zeigt kaum Abnutzungserscheinungen, scheint sich geradezu auf die Ästhetisierung einer umfassender Apokalyptik zuzubewegen, die sich auch in anderen Bereichen des Hollywoodkinos ankündigt. Der große Publikum hat es offenbar gelernt, das Eingehen ins Elysium („Gladiator“) als eine möglich Erlösungsphantasie zu akzeptieren. Keine beruhigende Aussicht.

Literatur:

Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1960ff. (Literatur und Kunst)
Gregory Fuller: Endzeitstimmung. Düstere Bilder in goldener Zeit, Köln 1994 (Bildende Kunst)
Wolfgang Asholt / Walter Fähnders (Hrsg.): Fin de siècle. Erzählungen, Gedichte, Essays, Stuttgart 1993
Christiaan L. Hart Nibbrig: Ästhetik des Todes, Frankfurt am Main / Leipzig 1995
Hartmut Heuermann: Medienkultur und Mythen, Reinbek bei Hambrug 1994
Christoph Grunenberg (ed.): Gothic, Cambridge 1997 (sehr umfassende Betrachtung)
Gavin Baddeley: Goth Chic, London 2002 (sehr gute und umfassende Einführung, Kaufempfehlung!)
Mark Edmundson: Nightmare on Mainstreet, Harvard 1997 (amerikanische Perspektive)
Richard Davenport-Hines: Gothic. Fourhundred Years of Excess, Horror, Evil, and Ruin, New York 2000 (sehr differenzierte und gelungene Gesamtbetrachtung)
Paul Hodkinson: Goth. Identity, Style and Subculture, Oxford 2002 (ethnographische Studie der Subkultur)

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