Cult Epics

Porträt des ungewöhnlichen DVD-Labels aus den USA

Die Tinto-Brass-DVD-Box

Bereits in der ersten Printausgabe von :Ikonen: wurden zwei DVDs aus Nico B.s ambitionierter Produktion in L.A. vorgestellt: sein eigener Experimentalfilm PIG sowie Tinto Brass Erotikdrama THE KEY. Eigentlich aus einer Amsterdamer Kultvideothek hervorgegangen, veröffentlichte der Filmfanatiker bereits in den frühen neunziger Jahren italienische Genrefilme wie CANNIBAL HOLOCAUST oder den Serialkiller-Klassiker HENRY – PORTRAIT OF A SERIAL KILLER auf VHS. Ende des Jahrzehnts erfolgte dann der Umzug nach Los Angeles. Die ersten DVDs, HENRY und Abel Ferraras THE DRILLER KILLER, gut ausgestattet mit Regie-Kommentar und Trailer, erschienen dann auch in dem amerikanischen NTSC-Format (Code 0), das jedoch auch hierzulande die meisten DVD-Player verarbeiten können. Inspiriert durch sein massives Interesse an ungewöhnlicher, stilvoller Erotika und drastischem Underground folgten in regelmäßiger Folge Walerian Borowczyks legendärer THE BEAST (1975), ein poetisches, pornografisches Märchen (in einer besseren Version als aus GB), sowie eine Reihe der Filme des italienischen Erotomanen Tinto Brass.

Zu Nico B.s löblichen Wiederentdeckungen zählen vor allem Fernando Arrabals surrealistische Klassiker VIVA LA MUERTE und I WILL WALK LIKE A CRAZY HORSE. Beide Filme entstanden in ähnlichem Kontext wie Alejandro Jodorowskys frühe, wilde Phantasmagorien, sind jedoch ungleich politisch-aktionistischer verortet. Fernando Arrabals Theater, das den Filmen vorangeht, ist etwa zwischen dem absurden, dem surrealistischen und dem ,,Theater der Grausamkeit“ Antonin Artauds anzusiedeln. Zusammen mit dem Mexikaner Alejandro Jodorowsky gründete er das 'Paniktheater', ein Experimentierfeld für multimediale Performancekonzepte. Wenigen ist heute bekannt, dass Arrabal auch Filme inszeniert hat, in denen er zu Beginn der siebziger Jahre seine Konzepte radikal auf den Punkt brachte.

VIVA LA MUERTE (1970) basiert auf Arrabals autobiografischem Roman ,,Baal Babylone“ (1958), in dem er (geboren 1932) die Ereignisse seiner Kindheit aufarbeitet. Sein Vater (Ivan Henriques) war in Melilla, Spanisch Marokko, als republikanischer Offizier stationiert. Bei dem 1936 von Marokko ausgehenden Putsch Francos wurde er jedoch verhaftet und von der Mutter für tot erklärt, die mit den Kindern zu ihren Eltern nach Spanien zurückkehrte. In Roman und Film deutet Arrabal an, das Trauma seiner Kindheit sei die Ahnung, seine Mutter selbst hätte den Vater an die Frankisten verraten. VIVA LA MUERTE war zugleich der Schlachtruf der Faschisten im spanischen Bürgerkrieg, die zu Beginn des Films mit dröhnendem Lautsprecher an dem kleinen Jungen Fando (Mahdi Chaouch) vorbeifahren. Der Junge erlebt den Bürgerkrieg, der seine Familie zerstört, als alltägliches Drama, das seine Familie zerstört, als alltägliches Drama, das seine persönliche Entwicklung nachhaltig prägen wird. Immer wieder sucht er Kontakt zu seiner fast inzestuös verehrten Mutter (Nuria Espert), die ihn mit katholischen Sühnemaßnahmen unterdrückt. Zudem wird er von seiner Tante (Anouk Ferjac) verführt, die ihren religiosen Wahn mit sadomasochistischen Praktiken auslebt. Unfähig, seine Erlebnisse zu verarbeiten, steigert er sich in bizarre Traumwelten voll blutiger Rituale und beginnt selbst, grausame Streiche zu spielen.

Arrabal sucht mit monochrom eingefärbten Visionen nach seinen damaligen Träumen, entwirft Rituale der Initiation, die immer wie-der von monotonen Fragen und Antworten unterbrochen werden, in denen die Mutter dem Sohn ihre verquere, faschistische Weltsicht vermittelt. Filmisch gesehen ist VIVA LA MUERTE selbst ein Schlachtruf der künstlerischen Anarchie. Arrabals hypnotische Bildcollagen arbeiten so instinktiv wie präzise, folgen der zyklischen Struktur sei-ner literarischen Arbeit. Erst später, mit dem surrealen Episodenfilm I WILL WALK LIKE A CRAZY HORSE (1973), wird er sich Luis Bunuels surrealistischem Universum annähern. In VIVA LA MUERTE blieb er vorerst der visionäre Primitive des Films.

I WILL WALK LIKE A CRAZY HORSE ist von Struktur und Inszenierung her komplexer und weniger stringent. Erzählt wird die Geschichte der Mannes Aden (George Shannon), der aus der zivilisterten Welt flüchtet, nachdem er seine kontrollsüchtige Mutter getötet hat. In der nordafrikanischen Wüste entdeckt er die Schönheit der Wildnis und wird unter der Aufsicht der zwergwüchsigen Mystikers Marvel (Hachemi Marzouk) als Mann initiiert. Aden verliebt sich in den geheimnisvollen Zwerg, der mit den Tieren, den Wolken und der Sonne kommunizieren kann, und nimmt ihn mit nach Paris. Dort wird ihm bewußter denn je, wie sehr sich die Menschheit von ihren Wurzeln und der Natur entfremdet hat. Aden stirbt im Kugelhagel der Polizei. Marvel bringt seine Leiche in die Wüste zurück und verspeist sie in einem rituellen Akt.

In diesem zweiten Film erzählt Arrabal eine allegorische Liebesgeschichte, die er mit einer teilweise verstörenden, teilweise grotesken Schockästhetik aufbereitet und sich so Alejandro Jodorowsky episodischen Hauptwerken EL TOPO und MONTANA SACRA (beide in Italien bei Raro Video auf DVD erhältlich) annähert. Für den 'zweiten Frühling' des filmischen Surrealismus ist dieser Film exemplarisch und kann nun auf DVD neu entdeckt werden.

Ein weiteres Highlight auf Cultepics ist die dreiteilige Tinto-Brass-Box. Der einst engagierte Sozialist Brass gilt seit SALON KITTY, CALIGULA und THE KEY als Meister des kontroversen italienischen Erotikfilms. Mit der Cult-Epics-Box wird vor allem die mittlere Schaffensphase der 80er Jahre präsentiert. Den Anfang macht die Literaturverfilmung THE KEY (1983):

Junichiro Tanizakis Romane um Entfremdung und Begierde gehören nun bald ein Jahrhundert zum japanischen Teil der Weltliteratur. Vielleicht liegt es nicht allzu fern, seine in Japan angesiedelten obsessiven Tragödien in der faschistischen Vergangenheit Deutschlands und Italiens anzusiedeln und auf diesem Hintergrund zu adaptieren, doch kritisch wird es – wie hier, in THE KEY –, wenn dem Regisseur nicht allzu viel zu dieser speziellen Form der historisierenden Adaption einfällt. Für den Erotikspezialisten Tinto Brass (CALIGULA) sind die italienischen 1940er Jahre zuerst einmal die Zeit, „in der Frauen aufregende Dessous trugen“. Wenn Mussolini aus dem Radio tönt und schwarz Uniformierte durch Venedig schwadronieren, kommt das hier eher einem unglücklichen Zufall gleich. Andererseits ist eine Handlungskonstruktion wie die Folgende aus THE KEY nur in relativer Vergangenheit denkbar: In Brass’ Drama, das im präfaschistischen Venedig spielt, geht es um den Kunstfälscher und Pensionsbesitzer Nino Rolfe (Frank Finlay), dem es nicht gelingt, seine wesentlich jüngere Frau Teresa (Stefania Sandrelli) sexuell zu erregen. Dabei mangelt es bei ihm kaum an ausgefallenen Ideen. Eines Tages entdeckt Teresa sein Tagebuch und erfährt alles über seine sexuellen Phantasien und Wünsche. Auch sie beginnt, ein Tagebuch zu schreiben, das sie ihm „zugänglich“ macht. Sie gesteht darin ihre Affäre mit ihrem potenten Schwiegersohn Laszlo (Franco Branciaroli), der Ninos Tochter Lisa (Barbara Cupisti) – ebenfalls frigide – eher positiv gegenüberzustehen scheint. Nino läßt sich auf das dialogisierende Spiel ein und folgt ihr heimlich zu ihren Rendezvous. Letztlich schlägt ihm die unvorhersehbare Aufregung jedoch zusehends auf die Gesundheit. Was sich mehrmals durch den Film ankündigt, tritt schließlich ein: Er erliegt einen tödlichen Herzanfall. Teresa und Laszlo begleiten den Sarg auf einer Gondel durch die Lagunenstadt. Während Teresa ihren sexuellen Phantasien nachhängt, erklärt Mussolini durch öffentliche Lautsprecher den Krieg...

Als erotisches Szenario vermag THE KEY entgegen allen Vorbehalten durchaus zu faszinieren. Der Regisseur hat so einiges an bizarren Details zu bieten: Ninos Vorstellungswelt wird etwa in Form eines stummen blue movies (jener frühen Pornofilme) vermittelt. Dazu läßt Brass die Kamera wild schwenken und zoomen, benutzt Prismenfilter und montiert in gewohnt ruppiger Weise: Die wilden Sixties stecken noch in seinen alten Knochen. Filmkomponist Ennio Morricone überzieht alles mit der gewohnten zeitgenössischen Tanzberieselung, die Lebensfreude in eine eher triste, von dem allgegenwärtigen Krieg bedrohte Welt projiziert. Ein Rätsel wird bleiben, wie es dem Regisseur gelang, die renommierte Schauspielerin Stefania Sandrelli zu ihren doch recht gewagten Softcoreszenen zu überreden. THE KEY ist ein mißratenes Kleinod von fragmentarischem Reiz, das die offensichtliche Pseudointellektualität der Dialoge stilvoll verkleiden kann.
Dieser möglicherweise letzte Filme Tinto Brass’, der von Publikum und Kritik ernst genommen wurde, liegt nun erstmals in restaurierter Form vor und umfasst bislang weder aus der deutschen noch aus der englischen Fassung bekannte Szenen. Gerade, wer diesen Film in einer älteren Fassung kennt, sollte hier zugreifen, um ihn in neuer Qualität und erstmals integraler Fassung zu erleben. In einer ähnlich gelungenen Fassung liegen nun auch die Brass-Filme MIRANDA (1987) und COSI FAN TUTTE / ALL LADIES DO IT (1992) liebevoll ausgestatteten DVDs vor.

Sehr interessant sind auch die experimentellen, stilistisch ausgefeilten Kurzfilme von Maria Beatty: MARIA BEATTY FETISH FILMS VOL. 1 - THE BLACK GLOVE und THE ELEGANT SPANKING. In konsequenter Schwarzweiß-Ästhetik, begleitet nur von John Zorns ambienter Musik, finden sich hier Porno-Noir-Minidramen - meist mit lesbischen Motiven, die tatsächlich den Hardcorefilm auf seiner künstlerischen Höhe zeigen. Eine ausführlicher Bericht darüber folgt in der Printausgabe von :Ikonen:.

Für kommendes Jahr ist u.a. Agustí Villarongas lange nicht erhältlicher obsessiver und stilistisch atemberaubender Psychothriller TRAS EL CRISTAL / IN A GLASS CAGE angekündigt.

Weitere Informationen: www.cultepics.com.

Marcus Stiglegger

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