Elke Heitmüller Zur Genese sexueller Lust konkursbuch:
Tübingen Sind wir am Ende der Sexualität angelangt? Wenn alles zeigbar ist, alles bereits gesagt und verschriftlicht wurde, wo ist dann der libertine Freiraum einer zutiefst privaten sexuellen Aktivität geblieben? Elke Heitmüllers Perspektive äußert sich gleich zu Beginn ihres Buches Zur Genese sexueller Lust. Von Sade zu SM eher pessimistisch: „Sadismus und Masochismus bilden Phänomene einer bereits entsexualisierten Gesellschaft. Die reine Unlust ist dabei, sexueller Qual zu weichen. Sex und Lust befinden sich im Prozess der Veränderung.“ Die Autorin untersucht also die Entstehung moderner Sexualität und wird im historischen Rahmen fündig: Ausgehend von der Zeit der französischen Revolution und ihrem radikalsten Denker und Schriftsteller – dem Marquis de Sade – wird deutlich, wie wenig Sexualität damals noch mit einer privaten Selbstverwirklichung zu tun hatte. Bei ihrer Untersuchung des mit dem Autoren selbst verknüpften „Sad(e)ismus“ kommt sie zu einem sehr wesentlichen Schluss: Während sich in Sades erschreckend gewaltträchtigen Schriften lediglich die Geschehnisse des Tages reflektieren (der Vorabend der französischen Revolution), wurde er in der späteren Rezeption durch die Psychoanalyse und die Sexualpathologie zum Krankheitsbild verklärt. Dabei ist Sades Begriff der „Souveränität“ noch erheblich weniger metaphorisch als etwa später bei Georges Bataille, da Sade selbst noch mit den Privilegien des tatsächlichen Souveräns ausgestattet war – zumindest vor seiner Inhaftierung. „Mensch sein heißt bei Sade, Souverän sein. Souverän sein wiederum heißt, sich getreu den Gesetzen der Natur zu verhalten. Doch das Verhältnis zur Natur ist gebrochen. Mal tritt sie als oberstes Prinzip jenseits menschlicher Beeinflussung auf, dann wieder versuchen die Protagonisten, sie zu überschreiten, um eigenen Sinn zu stiften“ (S.80). Sades Sympathie gilt folglich dem Bösen, da es am ehesten eine selbstbestimmte Transformation der Lebensumstände zu schaffen imstande ist. Von den beiden Schwestern aus Justine und Juliette, kommt nur die korrupte und ihrerseits bösartige Juliette ans Ziel ihrer Wünsche, die naivere Justine hingegen ist der Spielball jener „Missgeschicke der Tugend“, an deren Endpunkt sie von einem Blitz erschlagen wird: getötet vom „Licht der Aufklärung“ (S.82)? Sade ist berühmt und berüchtigt dafür 'alles in Sprache zu verwandeln‘ („tout dire“), doch Elke Heitmüller betont die Fixierung dieser umfassenden Veräußerung, indem sie auf Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse verweist, die ebenfalls ‚alles sagen‘, und doch in einen konträren Bereich zielen: Nicht die obszöne Interaktion der Körper kommt hier zum Zuge, sondern die moralischen Implikationen des menschlichen Geistes. Aus Rousseaus Ansatz entstand schließlich der psychologische Roman, während sich Sades 'tout dire‘ schließlich doch zur Pornografie entwickelte. Sade selbst kann allerdings erst im Nachhinein als 'pornografisch‘ betrachtet werden, so Heitmüller, da es zu seiner Zeit gar keinen Begriff der Sexualität im heutigen Sinne gab – somit gab es auch keine Pornografie – was Napoleon allerdings nicht davon abhielt, Justine als ein „schmutziges Buch“ zu bezeichnen. Die Autorin kommt also zu dem Schluss, Sade ginge es letztlich
nie um Sexualität, vielmehr seien seine Texte gegen Sexualität
im modernen Sinne, dafür aber zugunsten der 'Wahrheit‘ geschrieben.
„Das aufgeklärte Individuum weiß um seine sexuelle Identität
und beginnt sie zumindest zu erkunden. Auf diesem Weg, an dessen Ziel
das Humane wie ein Versprechen wartet, wird der Körper zur Einschreibfläche
des Sozialen, der von nun an mit den Leidenschaften in Konflikt gerät“
(S.100). Mit dem späten 19. Jahrhundert verwandelt sich der „Wille
zum Wissen“ (Michel Foucault) in eine ausufernde Sexologie, deren
zentrale Gestalt Richard von Krafft-Ebing mit seiner Psychopathia sexualis
wird. Der für bedingungslose Souveränität stehende Name
Sades wird nun zu einer psychologischen Phrase: Sadismus, die sexuelle
Lust am Quälen. Zugleich wird ihm ein weiterer Schriftsteller an
die Seite gestellt: Leopold von Sacher-Masoch leiht der Lust an der Qual,
dem Masochismus, seinen Namen. Zwei von einigen weiteren Bildern für
einen „Verfall der Sitten“ um die Jahrhundertwende –
damals noch in dezent-wissenschaftlichem Latein ausformuliert –
waren gefunden. Für Krafft-Ebing ist „Sadismus“ die „Verbindung von aktiver Grausamkeit und Gewalttätigkeit mit Wollust“, woraus er eine „Perversion des Geschlechtstriebes“ folgert. „Sadismus“ und „Lustmord“ seien insofern nicht weit voneinander entfernt, letzteres die Steigerung des ersteren. Dabei ist Krafft-Ebings Lesart de Sades falsch: Sade „schreibt von leidenschaftlichen Körpern, die ohne affektiven Einsatz zugleich körperlich wie gedanklich agieren: Ficken und Philosophieren. Krafft-Ebing hingegen schreibt in der Psychopathia sexualis von bezeichneten Organismen. Seine Körper werden von klassifizierbaren psychologischen Charakteren dominiert. Diese Charaktere denken ihren Leib, wie sie auch ihre Geschlechtsidentität fühlen“ (S.140). Auch andere Sexologen wie Iwan Bloch behandeln den „Sadismus“ auf einer pathologischen Ebene, wobei das Phänomen meist an literarischen (also fiktiven) Figuren verdeutlicht wird – oder aber an gewalttätigen Treibtätern, die nicht notwendigerweise von einer expliziten Lust an der Quälerei sprechen. Sigmund Freud, der in seinem Treibmodell von einem von seinem Sexualtrieb gesteuerten Menschen ausgeht, differenziert das Modell des „Sadismus“ und entdeckt diese Lust als grundsätzliche Anlage im menschlichen Seelenleben. Noch Gilles Deleuze wendet Freuds Modelle an und konstatiert, der „Sadist“ identifiziere sich mit seinem Über-Ich und bräuchte das masochistische „Opfer“ um damit sein fehlendes Ich zu ergänzen (in: Sacher-Masoch und der Masochismus). Michel Foucault setzte dagegen, dass das Sexualitätsdispositiv lediglich ein Modell sei, den Menschen an die Macht zu knüpfen, indem er ihm befehle, den Sex „zu erkennen, sein Gesetz und seine Macht an den Tag zu bringen“ (in: Der Wille zum Wissen). Statt sich also zu emanzipieren, fesselt sich der Mensch an dieses Modell des Sexes, das folglich von der Macht missbraucht werden kann. Ein verheerendes Beispiel hierfür lieferte die Bevölkerungs- und Familienpolitik des Nationalsozialismus. Im letzten Teil des Buches widmet sich Elke Heitmüller den jüngsten Entwicklung, die ungeachtet der von der Sexologie übernommenen indifferenten Definitionen von Sadismus und Masochismus in gängigen Lexika eine neue Variante darstellt: „Die erste (und originäre) Form postulierte ästhetische Überschreitung und ist mit dem Schriftsteller Sade verknüpft, die zweite Form forderte therapeutische Disziplinierung und kam mit dem Sexologen Krafft-Ebing und seinen Nachfolgern in Gang. Heute haben wir es mit einer Liaison dieser beiden Typologien zu tun, die ich als Transsadismus bezeichnen möchte“ (S.191). Hier sind Heitmüllers Thesen in der Tat konsequent und spannend: Im streng ritualisierten Rollenspiel des lederbekleideten, peitschenschwingenden Szene-Sadomasochisten sieht sie keine Überschreitung ('Transgression‘), sondern lediglich eine Formgebung, die jene Konzepte des machtbezogenen Sexes erstarren lässt. Die Ausführungen gipfeln in einer herausfordernden wenn auch plausiblen Kritik, in der Heitmüller die Faszination analysiert, die Sades Souveräne auf die Surrealisten sowie einen (post)modernen Denker wie George Bataille haben: „prämoderne Kunstfiguren meeting postmoderne Rest-Subjekte. Der Reiz dieses Stelldicheins liegt darin, dass die Menschen von heute jener Idee von Subjektivität nachhängen, die Sades Wüstlingen als Schrecken vor Augen steht, den sie mit ihren Orgien und Metzeleien auf Distanz zu halten trachten. Während die libertins kopulieren und philosophieren, um dem nivellierenden Fluch der Subjektivität zu entwischen, tut der postmoderne Mensch ebendies, um den gegenteiligen Effekt herzustellen: er will sich beweisen, dass er es geschafft hat, ein zerrissenes, zweifelndes, analysierendes und gerade darin sich findendes und gelingendes Subjekt zu werden“ (S.203). Dass dies in keinem Fall etwas mit jenem umgangssprachlichen „Sadismus“ zu tun hat, der auf schlicht alles angewendet wird (vom Mobbing über Misshandlungen in der Ehe bis zu rassistischen Übergriffen und Folter), liegt auf der Hand. Aber eine Frage bleibt: Was hat jener ritualisierte Sadomasochismus noch mit Sade zu tun, handelt es sich dabei doch allenfalls um einen selbstgestalteten, ritualisierten Freiraum in einem streng reglementierten gesellschaftlichen Gefüge – die kleine Freiheit im Privaten. Vom grand sadisme (Hubert Fichte) von de Sade über den pathologischen Sadismus der Sexologie sind wir also in der „dritten Generation“ gelandet, dem individuell praktizierbaren Sadomasochismus, der vom Masochismus untrennbar ist und mit diesem in einer dialektischen Verbindung steht. Einen Bezug zu Sade gibt es natürlich: das Theater, die Überschreitung als Schauspiel mit selbst gesetzten Regeln. Die Befreiung von der bürgerlichen Alltagsexistenz wird also zelebriert, indem in einem privatisierten Rahmen die üblichen Regeln abgelegt und durch neue ersetzt werden. Dabei soll die eigene Existenz und Individualität in der Interaktion der Körper neu erlebbar werden. In Sades übertriebenen Beschreibungen erscheint dieses Schauspiel bereits als grotesk. Aber es geht im Sadomasochismus nicht um einen revolutionären Gedanken, sondern um die kleine, ganz persönlich Revolte. Gerade diese Tatsache veranlasst Elke Heitmüller zu einer nachhaltigen Kritik an jenem letzten Aufbäumen gegen ein Verschwinden von Sex und Körpern in einem Ozean der Überinformation. Man mag nicht alle Schlüsse dieser Autorin teilen, doch die innere Logik ihrer Argumentation in Zur Genese sexueller Lust. Von Sade zu SM ist bestechend und fesselnd. Es bleibt die zeitgemäße und nicht verklärende Betrachtung eines vermeintlichen Modephänomens „Sadomasochismus“, das ungeachtet einer gewissen medialen Präsenz noch immer mit den Augen des regulativen Sexologen der Jahrhundertwende betrachtet wird, obwohl es sich dabei eigentlich um ein zutiefst bürgerliches und vermutlich gesellschaftlich notwendiges Phänomen handelt. Weiterführende Literatur: Angela Carter: Sexualität ist Macht. Die Frau bei de Sade (1979, dt. 1981) – Simone de Beauvoir: Soll man de Sade verbrennen? (1955, dt. 1964) – Christine Deja: Frauenlust und Unterwerfung. Geschichte der O und 9 ½ Wochen (1991) – Michael Siegert: De Sade und Wir. Zur sexualökonomischen Pathologie des Imperialismus (1971) – Monika Treut: Die grausame Frau (1984) Marcus Stiglegger |
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