Pier Paolo Pasolini Collection DVD 1: ACCATTONE Originaltitel: Accattone / Comici D'Amore / Uccellacci
e Uccellini / Edipo Re Pier Paolo Pasolini war zu Lebzeiten eine Legende: vielseitig aktiver Intellektueller und multimedialer Künstler, trieb er quer zu allen teablierten Ströumngen Italiens, wurde aufgrund seiner Homosexualität von linken und rechten Kräften beargwöhnt und schließlich, nach seiner rätselhaften Ermordung im November 1975 doch als nationale Ikone beweint. Zu Lebzeiten waren viele Filme Pasolinis umstritten und diskutiert, sei es aufgrund ihrer religiösen Aspekte (LA RICOTTA), ihres schonungslosen Sozialrealismus (ACCATONE), ihrer primordialen mythischen Tendenzen (EDIPO RE, MEDEA), ihrer sexuellen Frezügigkeit (die TRILOGIE DES LEBENS) oder ihrer grundsätzlichen Radikalität (SALÓ). Zahlreiche Werke sind bei Kinowelt-Arthaus und Legend Home Entertainment bereits auf DVD erschienen, doch mit der endlich vorliegenden Pasolini-Box schließt die Filmgalerie 451 gleich mehrere schmerzliche Lücken. Zunächst fällt der schlicht wie stilvoll gestaltete Pappschuber auf, der im mehrfach gefalteten Digipak die Panels der 5 DVDs enthält. Ein umfangreiches Booklet bietet ein sehr informatives Interview mit Pasolini sowie zeitgenössische Filmkritiken, die die Filme hervorragend dokumentieren. DVD 1 zeigt Pasolinis Debüt, das in harten Bildern erzählte Unterweltdrama ACCATTONE, das die Geschichte eines jungen Mannes in einem römischen Vorstadtviertel, der sich als Zuhälter betätigt und schließlich zum Dieb wird. Wie auch in MAMMA ROMA gestaltet Pasolini diese Fabel zu einer modernen Passionsgeschichte, bevölkert von rauen Charakteren, die von Laien gespielt werden. Der Film liegt in (dem Material entsprechender) kontrastreicher Abtastung vor, in italienisch mit dt. Untertiteln bzw. in der gelungenen und bekannten deutschen Synchronisation. Ein merkwürder italienischer Originaltrailer zeigt die relative Unbeholfenheit, mit der man diesen Film zum Kulturereignis stilisierte - das er tatsächlich war. Auf DVD 2 finden wir die hoch interessante cinéma-verité-Dokumentation GASTMAHL DER LIEBE, in der Pasolini durch Italien reiste, um das Verhältnis der Italiener zu Liebe, Erotik, Prostitution und Homosexualität, und der Frage nach Konventionen und Moral eines Landes quer durch die sozialen Schichten und Generationen zu ergründen. Das ist ungeachtet der 90-minütigen Laufzeit ebenso amüsant wie spannend und zeichnet ein aufschlusreiches Porträt der damaligen italienischen Gegenwart. Nicht zuletzt in diesem Film wird Pasolinis erstaunliche Modernität deutlich, die ihn fast zu einem Propheten zukünftiger sozialer Entwicklungen machte. Das zumindest bezeugene einige seiner Mitarbeiter (u.a. Bernardo Bertolucci) in der Dokumentation DER SANFTE RADIKALE (D 2005, ZDF/3sat) von Hennig Burk, Bettina Oberhause und Boris von Brauchitsch, die man im Bonusmaterial findet. 35 dichte Minuten sehen wir hier Impressionen aus Pasolinis vielschichtigem Leben. Bezüge zwischen Leben und Film werden einleuchtend belegt und machen erneut Lust auf das gesamte Filmwerk... DVD 3 macht mit GROSSE VÖGEL, KLEINE VÖGEL Pasolinis vielleicht typischsten italienischen Film zugänglich. Die - wie er selbst zugibt - eher unkomisch Komödie mit dem bekannten Komiker Toto erinnert stark an die Filme Federico Fellinis. Der Film erzählt von einem Vater, der mit seinem Sohn leichten Sinnes durch Italien reist. Ein sprechender Rabe gesellt sich zu den beiden und versucht, sie mit philosophischen Fragen über den Sinn des Lebens aufzuklären. David Bordwell beklagte einmal an Fellini, dessen Filme wollten stets, dass der Zuschauer sich 'italienisch' fühle. Pasolini war nie näher an dieser Geste als hier. Zugleich ist das sein leichtester Film, wenn man so will. Doch das war nie wirklich Pasolinis Qualität. EDIPO RE – KÖNIG ÖDIPUS, der in Deutschland einst in den Bahnhofskinos als BETT DER GEWALT gezeigt wurde, liegt gleich auf zwei DVDs vor. In der gelungen synchronisierten deutschen Kinofassung und in der restaurierte Originalfassung, die den Film ungekürzt, in Bild und Ton restauriert in der italienischen Originalfassung und in neuer digitaler Abtastung präsentiert. Pasolinis betont moderne und anachronistisch stilisierte Verfilmung der Sophokles-Tragödie um Ödipus, in der dieser unwissend seinen leiblichen Vater tötet und seine Mutter heiratet, parallelisiert Szenen aus dem gegenwärtigen Italien mit einer mythischen Vorzeit, die er in nordafrikanischer Landschaft inszenierte. Wer den Film noch nicht kennt, sollte sich erst die deutsche Fassung ansehen, die ein gutes Verstzändis des Konzeptes ermöglicht, um dann das Erlebnis mit der neuen version zu vertiefen. Interessant ist ein Statement aus dem Booklet: "Die deutsche Kinofassung ist nicht nur wegen der sehr guten Synchronfassung auf einer Extra-DVD, sondern auch, weil sich der Vergleich mit der neuen digitalen Abtastung lohnt. Bei aller Brillanz verliert die restaurierte Fassung leider auch an Geheimnis." Das gilt tatsächlich für einige neue Versionen alter Filme, die vermutlich gerade aus dem lebendigen Korn des Filmmaterial heraus existieren. Filmgalerie 451 hat mit dieser einzigartig und liebevoll gestalteten DVD-Kollektion einen glänzenden Markstein in der deutschen DVD-Landschaft gesetzt, die zusammen mit MEDEA und SALÓ jede ernsthafte Filmsammlung ergänzt. Marcus Stiglegger
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