Rui Nogueira Kino der Nacht Alexander Verlag Berlin 2002 In meinen Augen ist das Kino eine
heilige Sache, und es ist das Ritual, die Messe, die bei den Dreharbeiten
zelebriert wird, die alles andere bestimmt, obwohl ich - wie Sie wissen
- die Idee, das Drehbuch und den Schnitt für wichtiger halte als
das eigentliche Drehen. Aber es steht außer Frage, dass die Dreharbeiten
der Altar sind und alles andere die Sakristei. Der nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Interviewband aus dem Jahr 1973 ist bereits eine Legende: Zahlreiche Filmfans der siebziger und achtziger Jahre hatten ihn in einer bearbeiteten englischen Übersetzung gelesen, in einer Zeit, als die meisten Filme des legendären französischen Filmemachers Jean-Pierre Melville nicht einmal verfügbar waren. Herausgeber Robert Fischer verweist selbst auf den Umstand, dass sich die Rezeption dieses großen Pessimisten primär auf dessen letzte Filme stützte: DER ZWEITE ATEM, DER EISKALTE ENGEL, VIER IM ROTEN KREIS und DER CHEF - allesamt stilisierte Varianten des französischen Film noir. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, es handle sich hier um ein mit Francois Truffauts Interview-Band "Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht?" vergleichbares Werk, doch wo dort der britische Regisseur über die Feinheiten der Inszenierung spricht, liegt in "Kino der Nacht" der Fokus deutlich auf der Weltsicht Jean-Pierre Melvilles, seiner vision du monde. Das soll nicht heißen, dieser Band biete keine Fülle an brauchbaren Informationen zu allen Filmen Melvilles (einschließlich des letzten, der in der Originalausgabe noch fehlte) - Melville präsentiert sich einfach anders: Er ist in jeder Wendung eines bestimmten Imagos bedacht, das er nicht zuletzt mit seinem Pseudonym Melville etablierte, einem Namen, den er von seinem verehrten Lieblingsschriftsteller Herman Melville ("Moby Dick") ableitete. So spricht Melville schonungslos über seine Kollegen, seine Kriegserfahrungen in Frankreich und seine amerikanischen Einflüsse und Vorbilder. Da geht es um die artistische Verwandtschaft zu Jean Cocteau, dessen Roman "Kinder der Nacht" er verfilmte, oder um das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Volker Schlöndorff, das sich später trübte... Obwohl er für seine Gangsterfilme bekannt ist, spielt die französische Besatzungszeit eine wichtige Rolle für ihn: in DAS SCHWEIGEN DES MEERES, EVA UND DER PRIESTER und vor allem in ARMEE IM SCHATTEN erzählt er von tragischen Ereignissen jener Jahre. Der Interviewer Noguiera kommt immer wieder auf diesen ideologischen Kontext zu sprechen, in dem es vor allem um die Résistance geht, aber auch um die breite Kollaboration der Franzosen mit Nazideutschland. Im letzten Kapitel offenbart Melville seine ambivalente Haltung: Nun, es macht mir Spaß zu behaupten, ich sei ein Mann der Rechten, da es mir auf die Nerven geht, daß alle Welt sich als links bezeichnet. Ich hasse es, mich der Masse anzuschließen. Im übrigen gibt es nichts Lächerlicheres, als sich als komplett rechts oder komplett links zu bezeichnen - ich halte das schlichtweg nicht für möglich. Philosophisch gesprochen ist meine Position im Leben komplett anarchistisch. Ich bin extrem individualistisch. Um die Wahrheit zu sagen, möchte ich weder rechts noch links sein. Ich bin ein rechter Anarchist... Melvilles Künstlerbild schließt letztlich eine ideologische Programmatik aus. Sein Weg ist die Ambivalenz, die seine Filme noch heute lebendig erscheinen lässt. So wählte er in DAS SCHWEIGEN DES MEERES einen kultivierten deutschen Soldaten als Protagonisten, in ARMEE IM SCHATTEN dagegen die mutigen Vertreter des franzöischen Widerstandes. Mit dem engelsgesichtigen Killer in DER EISKALTE ENGEL (Alain Delon) erschuf er sich ein einsames, stoisches Alter ego, einen "Schizophrenen", der sein blutiges Handwerk nicht als verbrecherisch empfindet, der nach dem Kodex der japanischen Samurai lebt: "Es gibt keine größere Einsamkeit als die des Samurai, es sei denn, die eines Tigers im Dschungel." Dieses Zitat schreibt der Vorspann dem "Bushido", der japanischen Kriegerethik zu, tatsächlich aber hat es Melville erfunden, und es beschreibt möglicherweise seine Selbstdefinition innerhalb der französischen Filmgeschichte, deren nouvelle vage er beeinflusste und prägte ohne ihr jemals nah zu sein. Er bleibt der "Anarch" des französischen Film noir, eine Filmemacher, der das Kino nie als 'Spielfeld' begriff, sondern als existenzielle, sakrale Basis seiner Kunst. Das zu verstehen, hilft dieses hervorragende Interviewbuch, das den Originaltext um Vor- und Nachworte, zusätzliche Interviews und eine ausführliche Filmografie ergänzt. Und zugleich schafft es das dringende Bedürfnis, diese Klassiker des französischen Kinos endlich (neu) zu entdecken. Christoph Donarski
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