Schräge Musik / Six Comm

Fleischmaschine

(Hagshadow Distr.) CD 11 Tracks

„Wegen des Wahnsinns der Herrscher“... Das erste Vollzeit-Album des Six-Comm-Seitenprojekts Schräge Musik ist ein beklemmender Ausflug in die Schlachthäuser des Zweiten Weltkriegs.

Während das 100jährige Jubiläum des Beginns des 1. Weltkriegs beinahe andere, mit dem 2. Weltkrieg verbundene geschichtsträchtige Daten überschattet, konzentriert sich der Mitbegründer der umstrittenen post-punk (und späteren Neofolk-) Band Death In June, Patrick Leagas, mit der Veröffentlichung seines Nebenprojekts Schräge Musik ein weiteres Mal auf die Geschehnisse zwischen 1939 und 1945. Leagas wird die Konzeption des Bühnenauftritts von DIJ sowie deren militärisch anmutender Klang der Frühphase zugeschrieben; der Einsatz von 40er-Jahre-Frisuren, deutschen Flecktarnmustern und martialischem Schlagzeug zur Erzeugung eines unbequemen Spektakels, das die Verführungskraft ästhetisierter Ideologie in Szene setzte, gehen weitgehend auf sein Konto. Seine Obsession mit dem 2. Weltkrieg kann auf seinen Vater zurück geführt werden, der in diesem Krieg kämpfte, sowie auf seine eigenen Erfahrungen als Soldat der britischen Reserve während der 1980er Jahre und die Verwüstungen, die er als Zivilist während seiner Reisen durch Konfliktgebiete wie Afghanistan (zur Zeit der Sowjet-Invasion) und am Horn von Afrika mit ansehen musste, wo er mehr zu sehen bekam, als er erhofft hatte. Von diesem höchst individuellen Prisma aus persönlicher Erforschung, Erfahrungen und Verzweiflung über die conditio humana geprägt, hat Patrick's Projekt nach DIJ, Six Comm, seit 1986 die Hörerschaft mit zutiefst emotionaler Musik versorgt und dabei von epischem Synth-Pop (Content With Blood) über experimentelle Arbeiten (Fruits Of Yggdrasil mit der Runenmagierin Freya Aswynn) bis zu beschwörerisch-schamanistischen Balladen (Headless) ein überraschend breites stilistisches Spektrum bearbeitet und eine Reihe späterer Subgenres wie Martial Pop und Goa/Trance vorweggenommen. Neben Six Comm, das stets sein Hauptprojekt war, ist Schräge Musik (ein Begriff, der nicht nur die „schrägen“ Noten im Jazz bezeichnet, sondern auch für rückwärtig in Kampfflugzeuge eingebaute Geschütze, bzw. deren Feuer auf feindliche Flugzeuge von unten verwendet wurde) sein Ventil für Themen, die mit dem 2. Weltkrieg in Verbindung stehen und sich nicht eben für die eingängigen Melodien, tanzbaren Rhythmen und magischen Experimente anbieten, welche die Markenzeichen von 6Comm sind. Vorsicht also vor der Fleischmaschine: Wer verführerisch melancholische Songs und treibende Dancefloor-Stücke erwartet, wird enttäuscht werden (obwohl solche Wünsche von den jüngsten Veröffentlichungen Ontogeny I und II erfüllt werden, welche Bearbeitungen und Neuaufnahmen bemerkenswerter Six Comm Hymnen enthalten).

Stattdessen ist das Album eher ein Hörspiel, das die Atmosphäre von Todesangst und Bedrückung erzeugt, welche das menschliche Kanonenfutter sowohl in zivil wie in Uniform empfunden haben muss, das von dem Fleischwolf, der in Europa und der Welt zwischen 1939 und 1945 wütete, zermalmt wurde (ein musikalisches Genre, das Marcus Stiglegger in :Ikonen: als 'historical ambient' bezeichnet). Hier weist Schräge Musik Ähnlichkeiten mit dem :Golgatha:-Album 'Kydos. Reflections on Heroism' (Athanor 2005) auf, für das Leagas einst die Lieder 'Icarus' und 'Final Age of Heroism' einsang - letztes ist eine Coverversion seines Six Comm-Stücks 'Asylum', das auch auf dem neuen Album vertreten ist.

Die Fleischmaschine beginnt ihren Wahnsinn mit einem kompromisslos kriegerischen und minimalistischen Intro: Europa Gefallen ist gleichermaßen Schlachtruf wie auch Grabinschrift eines Kontinents. Niedergang und Zerstörung lauern bereits über den treibenden Trommeln, die uns in eine alptraumhafte Welt des industriellen Krieges, großer Opfer und närrischer Heldentaten jagen. Die archaisch klingenden Hörner und Bläser künden von einem kriegerischen Stamm auf dem Marsch in den Kampf und deuten auf Krieg als kontinuierliche Präsenz in der Menschheitsgeschichte hin.

Das symphonische, neoklassische Ambiente des folgenden Stücks wird von der historischen Aufnahme einer Churchill-Rede eingeleitet und bestimmt die charakteristische Atmosphäre des Albums, die an Filmmusik erinnert, die von lyrischen Erzählungen ergänzt wird, die Leagas in betont düsterem und subtil aggressivem Tonfall vorträgt.

Cassino Lost und Gran Sasso Affair erzählen von spezifischen Ereignissen, nämlich der Schlacht von Monte Cassino und der Befreiung Mussolinis durch ein deutsches Spezialkommando, das von Otto Skorzeny befehligt wurde, einem skrupellosen österreichischen Offizier der Waffen-SS, dessen Errungenschaften ihn zu einer herausragenden, aber reuelosen Gestalt in der Geschichte und Propaganda des 2. Weltkrieges werden ließen. Nach Kriegsende gelang ihm die Flucht nach Argentinien, wodurch er der Verurteilung als Kriegsverbrecher entging. Das Stück verströmt eine passende, vage mediterrane Stimmung und enthält typisch britische, dunkelhumorige Pointen, die vor nichts zurück schrecken, wie die Zeile „my big Edelweiss, with your Storch rescue him“ (der Fieseler Storch war das Leichtflugzeug, mit dem Mussolini aus den Bergen von Gran Sasso geborgen wurde), die möglicherweise auf den Körperbau des recht großen Skorzeny anspielt und eine fast homoerotische Verbindung zwischen ihm und seinem geliebten Führer andeutet.
Zwischen diesen beiden Stücken befinden sich zwei Stücke, die eigentlich ein langes bilden: Sow The Wind und Reap The Whirlwind (Säe den Wind und ernte den Wirbelsturm), welche sich auf den „London Blitz“ (die deutschen Luftangriffe auf London) und die Bombenteppiche auf Deutschland beziehen. Hier benutzt Leagas langgezogene, stehende Töne und Schichten bedrohlich (un-)harmonischer Akkorde, von denen manche auf den aus seiner ebay-Sammlung stammenden Mundharmonikas gespielt wurden, denen die Blätter entfernt wurden, was ihnen eine tiefere Resonanz verleiht (etwas, das er beim Reparieren eines Instruments entdeckte). Ergänzt wird dies durch Tupfer seiner Stimme, die sich zu schmerzerfüllten Arien der Verzweiflung empor schraubt. Die klaustrophobische Unausweichlichkeit des Todes von oben wird greifbar in Form einer packenden wie lähmenden Atmosphäre nahender Gefahr, die an „Bomber“ Harris' Schwadronen denken läßt, die ihre tödliche Fracht über Deutschland in dem „totalen Krieg“ abwerfen, den Goebbels verlangt hatte.

Das zuvor als Single veröffentlichte Eternity wurde grundlegend umgearbeitet und stellt mit seinem flotten Marschrhythmus, Trommeln und begleitender Regimentstrompete das wahrscheinlich eingängigste Stück des Albums dar. Geschwindigkeit, Blechbläser und Marschtrommeln folgen den Zuhörern in Asylum 39-45, ein Stück, das ursprünglich auf dem Six Comm Album Asylum im Jahr 1990 veröffentlicht wurde. Hier wird es mit zusätzlichem martialischen Getrommel und einer verzweifelt klingenden Orgel erweitert, die eine Stimmung ultimativer Sinnlosigkeit erzeugen und zusammen mit dem unerbittlichen Text ein weiteres Mal die Anti-Kriegsbotschaft von 6Comm verdeutlichen: „In the hands of battle we lie / for the madness of lords / deliver us unto the sword / we rest our heads in shame / we rest our heads in blood.“ – In des Kampfes Händen liegen wir / für den Wahnsinn der Herrscher / liefert uns ans Schwert / wir legen unsere Köpfe nieder in Scham / wir legen unsere Köpfe nieder in Blut.

Während die sinnlose Schlachterei in dem Irrenhaus weiter tobt, das die Welt ist, bietet die Ballade von Tommy Atkins Sweet 16 mit ihrer Mundharmonika und einfühlsamer Lyrik eine kurze Kampfpause. Sie ist ein melancholisches Lied voll Heimweh und verlorener Unschuld, die alle „Tommys“ betrauert, und in diesem konkreten Fall auf die vielen jungen Männer von 16 Jahren und darunter anspielt, denen es gelang, das Rekrutierungssystem zu überlisten und sich dem Wahnsinn anzuschließen, um dann ihr Leben auf dem sogenannten „Feld der Ehre“ zu verlieren. Es ist einfach, sich eine junge Wache vorzustellen, die während der Nachtschicht im Schützengraben versucht, die Angst durch das Singen dieses kleinen Schlafliedes zu vertreiben, dem ein Stück folgt, das tatsächlich von britischen Soldaten im Einsatz gesungen wurde:

We're here because we're here, eine Zeile, die gleichzeitig Mut gibt und die Unfreiheit wiederspiegelt, der sowohl die Einheiten in Uniform als auch die Zivilbevölkerung unterlagen, die den Machenschaften der Mächtigen und den Schrecken des Krieges und der Gewalt ausgesetzt waren. Obwohl diese beiden letzten Stücke direkte Referenzen an den (unbekannten) britischen Soldaten darstellen, der von der Fleischmaschine zu Brei zerrieben wurde, betont Patrick Leagas, dass weder dieses Stück noch das Album als anti-deutsch aufgefasst werden sollten:

„Obwohl mein Vater gegen die Deutschen gekämpft hat, war er ihnen gegenüber nie eingebildet oder betrachtete sie per se als schlechte Menschen, sondern schlicht als Teil des Weltsystems unter der Kontrolle der Herrschenden, so wie wir das alle waren. Ich habe diesen Krieg nie als Krieg zwischen Völkern empfunden, sondern als, wie wir alle wissen, Krieg der Machthungrigen und Selbstgerechten, ob in Politik oder Religion, die von den industriellen Komplexen auf allen Seiten profitierten. Daher der Titel Fleischmaschine: Ein hoch technisierter Vorgang, der menschliches Fleisch verschlingt, um weitermachen zu können und seine unmenschliche Gewalt wie eine enorme H.R. Giger-Maschine auszuüben und weltweit Grausamkeiten zu begehen, sich dabei sowohl selbst zu verzehrene wie zu erneuern in einem ekstatischen Fick schamanischer Zerstörung und Selbsterneuerung, und dadurch Entwicklungen zu beschleunigen und unseren technologischen Fortschritt zu erzeugen, für den wir alle zutiefst dankbar sind oh Herr.“

Der Alptraum schließt mit State Laughter 39-45, das als Nachspiel oder wie der Nachspann eines Films fungiert und zusammen mit Europa Gefallen eine akustische Klammer bildet, die sich ein weiteres Mal Kriegstrommeln und Trompete bedient und dabei noch trostloser und anklagender klingt, als die Originalversion, die als Death In June's erste Single 1981 erschien, und Bilder von Erschießungskommandos heraufbeschwört, die nichts zurück lassen außer „Löchern in der Mauer“. Die minimalistische Umsetzung und der Kontext, in dem es präsentiert wird, beschließen nicht nur eine außergewöhnliche Errungenschaft was die musikalische Bearbeitung eines schwierigen und empfindlichen Themas angeht, sondern verschafft auch einen Einblick in das Konzept jener weithin missverstandenen Gruppe, die Patrick 1985 verließ. Obwohl er mal durchblicken ließ, dass „manche der fieseren Gerüchte wahr gewesen“ seien, besteht kein Zweifel daran, dass trotz der üblen Faszination, die der 2. Weltkrieg und Nazi-Ästhetik auf die damals jungen Männer ausübte, Patricks fortgesetzte Behandlung des Krieges als Thema, so offen für Missverständnisse sie (wie jedes außergewöhnliche Kunstwerk) sein mag, im Kern von einem Gefühl der Betroffenheit, der Trauer und des Leides getragen wird, die in der Musik ihresgleichen sucht. Sie ist die anhaltende Auseinandersetzung mit einem (kollektiven) Trauma, das nie überwunden werden kann und darf, diese aber vonnöten macht und sich dazu der Kunst bedient, um sowohl ein Denkmal der Vergangenheit als auch eine Warnung an die Zukunft hervor zu bringen, welche auch außerhalb der Gettos der „Underground“-Musik gehört werden sollten. Daher ist Patrick Leagas' Arbeit weit von den jämmerlichen Versuchen dümmlicher Kriegsverherrlichung, pseudo-kontroverser Heldenverehrung und der Vorliebe für ewiggestrige Ideologien entfernt, die in vielen der weniger niveauvollen Arbeiten virulent sind, die jüngere Gruppen in Martial Industrial und Neofolk hervorbringen, zu denen er, wie er betont, wenig bis keine Verbindung hat, trotz der Tatsache, dass diese vor dem Hintergrund eines Korpus von Motiven und Themen entstanden sind, dessen Vorreiter er war, und zu dem er mit Fleischmaschine zurückgekehrt ist.
Insgesamt ist dies ein schwer zu rezensierendes Album, da es sich jeder stilistischen Kategorisierung widersetzt und nicht mal im Ansatz versucht, ein angenehmes Hörerlebnis zu sein. Stattdessen beschwört es alptraumhafte Visionen von drohendem Untergang, sinnloser Zerstörung und überflüssigem Leid herauf, ohne auch nur einen schwachen Silberstreif der Hoffnung am Horizont erahnen zu lassen. Gerade zu Beginn einer neuen Ära globaler Machtkämpfe und kontraproduktiver militärischer Interventionen, zu einer Zeit, wo zynische Ermahnungen, aus der Geschichte zu lernen, von den selben Leuten geäußert werden, die sich gleichzeitig in politischer Säbelrasselei ergehen, während Zivilisten von skrupellosen Milizen religiöser Fanatiker abgeschlachtet und versklavt werden, sollte dieses Album als psychologische Kriegsführung und Therapie mittels wiederholten Hörens bei hoher Lautstärke bei jenen angewendet werden, die sich immer noch zu willentlichem Blutvergießen als Mittel zum Zweck entscheiden. In bescheidenerem Maßstab stellt es eine zeitgemäße Erinnerung von jemandem dar, der in den letzten 20 Jahren das Leben und die Welt zumeist außerhalb irgendwelcher speziellen Musikszenen bereist hat, dass die Genres, deren Geburtshelfer er war, einst die direkten und persönlichen Auswirkungen von Krieg auf das Individuum behandelten, und dass die kollektiven Traumata des 20. Jahrhunderts etwas sind, das gleichermaßen geschmäht und doch erinnert werden muss, und nicht etwas, an dem man sich ergötzt.

Auf diesem Album gibt es keine Heldenverehrung; wer von siegreichen europäischen Rittern in glänzenden Rüstungen träumt, die gottlose Untermenschen unterwerfen, welche vermeintlich darauf aus sind, die abendländische Kultur zu unterwandern und zu zerstören, sollte sich verpissen und in irgendeinem nutzlosen Krieg verrecken, denn letzteres haben die Führer, die unsere feinen Europäer im 20. Jahrhundert gewählt haben, bereits erreicht. Derweil wird der Rest von uns – widerstrebend und voller Verachtung – weiter zur Melodie der goldenen Flöten tanzen.

© Alexander Nym, September 2014. Mit besonderem Dank an Patrick L. für Detailinformationen, Ergänzungen und Korrekturen. Weitergabe/Veröffentlichung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers.