Charlotte Roche

Feuchtgebiete

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DuMont 2008, 220 Seiten

Ein "Feuchtgebiet", so lehrt uns das Lexikon, sei ein Gebiet, das im Übergangsbereich von trockenen zu dauerhaft feuchten Ökosystemen liege. Der Begriff des Feuchtgebiets umfasse verschiedene Lebensraumtypen wie Sumpf, Moor, Feuchtwiese, Aue oder Ried, die nur zum Teil an den ganzjährigen Überschuss von Wasser angepasst seien. Der gleichnamige Debüt-Roman der Grimme-Preisträgerin und Berlinale-Moderatorin Charlotte Roche wendet diesen Titel als zentrale Metapher auf die Lieblingsbeschäftigungen ihrer 18-jährigen Erzählerin Helen an: Die liegt mit einer Risswunde im Analbereich im Krankenhausbett und vertreibt sich die Zeit mit ungeschönten Reflexionen über Sekrete und Körperflüssigkeiten.

Als Gegenentwurf zu einer 'Amerikanisierung' des Körpers sei das gedacht - die radikale Antwort auf Sagrotan-Spray und Reinigungstücher, auf ph-neutrale Intimseife und allerlei Tabuzonen. Charoltte Roche legt als locker-coole Erzählerin den Finger in die Feuchtgebiete. Man kann nicht sagen, dass Helen unter ihrem Überfluss an Vaginalsekret leide, wie das noch in Shohei Imamuras Film "Wasserspiele" (2002) der Fall ist. Das bettlägerige Mädchen füttert vielmehr die Neugier auf das Innere des Anderen - und des Selbst.

Charlotte Roche sei Feministin - das lässt sich nicht bestreiten. Heute nennt man das vermutlich Post-Feministin (oder Neo?). Wie ihre französischen Kolleginnen Virginie Despentes, Ovidie, Cathérine Breillat usw. richtet sich ihr Augenmerkt ganz auf das Begehren des weiblichen Subjekts. Hier wie dort gerät das zur Provokation für manche, zum Befreiungsschlag für andere. Dabei ist der Plauderton dieser adoleszenten Nabelschau nicht bestrebt, in die Gefilde der großen Literatur vorzudringen, sondern will vor allem einmal eines: Tabus brechen, das Abjekte zum Thema machen.

Mit fast de Sadeschem Überbietungsgestus reihen sich hier Gedanken und Beobachtungen aneinander, die immerhin eines leisten: die Aufmerksamkeit des Lesers wird atemlos herausgefordert. Das macht nicht immer Spaß, denn die schiere Zahl an Tabus, die hier gebrochen werden, hält für jeden die richtige Stelle parat.

Dabei gewinnt die Figur Helen erst langsam an Tiefe, denn im Grunde ist sie ein nach Liebe hungerndes, sich verraten fühlendes Scheidungskind, das sich nichts sehnlicher wünscht, als die Eltern wieder zusammen zu bringen. Das ist nicht originell, aber auf eine naive Weise wahrhaftig. Und als sie dafür in einem irrwitzigen Akt der Autoaggression fast ihr Leben opfert, lässt das die vorangehenden Seiten mit genüsslichem Verzehr von Körperausscheidungen und bizarren Selbstkategorisierungen (Blumenkohl-Hämorrhoiden, Perlenrüssel-Klitoris) fast vergessen.

Charlotte Roche reiht sich übrigens in ihrem Blick auf Pornografie ebenfalls neben die genannten französischen Kolleginnen ein: Die Nahaufnahme der gedehnten, penetrierten oder sonstwie erkundeten Körperöffnungen tritt bei ihr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Schließlich seine wir alle "Tiere, die sich paaren wollen". Das erscheint in der deutschen Literatur erfrischend und unverkrampft, wird sich aber manche Feinde machen. Was soll's?

"Feuchtgebiete" ist in all seiner Spontaneität und seinem literarischen Leichtsinn der richtige Weg zu einem neo-feministischen Manifest - jenseits von besserwisserischer Moralisierung und muffiger Sexfeindlichkeit.

Maria Nicoli