Retina.it
descending into crevasse
Label: Glacial Movements Records
Format: CD (Digipack)
Veröffentlichung: Mai 2012
Fusion ist ein unbeliebter Begriff. In seiner ursprünglichen
Verwendung bezeichnet er die Verschmelzung von Rock und Jazz zu einer
hybriden Mischform. Die dem Begriff inhärente Kritik kommt von den
Puristen, die in jeder Vermischung gleichsam eine Verwässerung vermuten
und die Gebote des musikalischen Reinheitsgebots verletzt sehen. Mit „descending
into crevasse“ (dt. Abstieg in den Gletscherspalt) gelingt dem italienischen
Duo Retina.it nicht nur eine atmosphärische Reise in die akustische
Antarktis, sondern auch ein eine Fusion im Bereich der Ambient-Music.
„descending into crevasse“ ist das fünfte
Album der Musiker Lino Monaco und Nicola Buono, die darüber hinaus
allerdings auf eine weit größere Diskographie zurückblicken
können. Das erste Stück des Albums „snyth on axis“
entführt den Hörer mit seinen gleißenden Drones direkt
in die Welt des ewigen Eises. Anschwellende Synths und wummernde Bässe
treffen auf pochende Geräusche, die das Tropfen von Wasser zu simulieren
scheinen. Mit seiner immer undurchsichtiger werden Klangstruktur vollzieht
der Opener den Weg in die Tiefe eines Gletschers nach und antizipiert
die glatte, undurchdringliche und milchige Erscheinung des Eises.
Schon das nächste Stück „freezing the fourth
string“ das mit seinem Titel erneut eine kryptische Assoziation
zwischen Komposition und Thema herstellt, hebt das Tempo an. Unter einem
vibrierenden Synthesizer-Teppich beginnen sich dezente Bass-Patterns und
Violinen-Samples herauszubilden, die den Ambient-Charakter der ersten
Stückes um Elemente aus Minimal-Music und Neo-Klassik ergänzen.
Es ist eben dieser hybride Charakter, der sich auch durch die weiteren
Kompositionen zieht, der dem Album eine gewisse Fusion-Natur verleiht.
Immer wieder gewinnen die Stücke durch rhythmisch-wellenförmige
Muster an Form, die den Hörer von der akustischen Mikrotextur des
Eises zur kantigen Makrostruktur des Gletschers und zurück alterieren
lässt. Abgeschlossen wird das Album durch den monolithischen Titeltrack,
der die anderen fünf Stücke schon allein durch seine Spielzeit
von 12.30 Min. überragt.
Retina.it verbinden auf „descending into crevasse“
sehr geschickt unterschiedliche Genre-Traditionen von Ambient über
Drone bis hin zur klassischen Minimal-Komposition und führen dabei
zusammen, was eigentlich schon immer zusammengehört. Der Gletscher
wird hierbei als mythischer Gegen-Topos der Moderne zum Thema gemacht
und in den Kompositionen klanglich immer wieder aufgegriffen. Auch die
monochrome Gestaltung des Digipacks verweist auf diese Ästhetik und
vollendet das Album stilgerecht: umfassend gelungen, große Empfehlung!
Patrick Kilian
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