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INTIMACY
Bewertung: 3/5
Anbieter: Universal.
Originaltitel: Intimacy.
F 2001.
Regie: Patrice Chéreau.
Laufzeit: 119 Minuten.
Bild: Farbe, 1:2,35.
Ton: englisch (5.1), deutsch (5.1.).
Bonus: Trailer.
Das Ritual, von dem der Film Intimacy erzählt, beginnt an einem Mittwoch:
Der etwas heruntergekommene Barkeeper Jay (Mark Rylance) – Anfang
vierzig – wohnt, seit er seine Frau und seine Kinder Hals über
Kopf verlassen hat, in der schäbigen Wohnung eines Freundes. Kaum
hat er sich aus dem Bett gequält, klingelt eine überraschende
Besucherin an seiner Tür: Claire (Kerry Fox), eine attraktive Frau
im gleichen Alter, stattet ihm einen unerwarteten Besuch ab. Etwas unbeholfen
umkreisen sich die beiden Menschen in dem Chaos der Wohnung, bis sie sich
mit einem Mal hemmungslos lieben. Kein Wort wird gewechselt, keine Verabredung
getroffen. Später verschwindet Claire. Jay geht seinen täglichen
Verrichtungen als Barmann nach. Genau eine Woche später taucht die
Frau wieder bei ihm auf, und die Woche darauf wartet er bereits auf die
wortkarge Geliebte.
Als sie eines Mittwochs nicht zum erwarteten Zeitpunkt kommt, als gar
Jays wirrer Freund Victor (Alastair Galbraith) in der Wohnung haust, macht
sich der vereinsamte Mann auf die Suche nach der Frau, mit der ihn bislang
nur körperliches Begehren verbindet. Er verfolgt sie auf ihrem Weg
durch die Stadt, über den Wochenmarkt, durch die Geschäfte...
Er findet heraus, daß Claire Schauspielerin in einem Kellertheater
ist, zudem eine Schauspielgruppe leitet, einen halbwüchsigen Sohn
hat und einen geradezu tragisch verständnisvollen Mann, Andy (Timothy
Spall), der Stammgast in dem Pub über ihrem Theater ist und am liebsten
gar nichts mehr wissen will. Jay freundet sich allmählich mit Andy
an, lernt auch den Sohn kennen, der schmerzliche Erinnerungen an die eigenen
Kinder wachruft, die er nur noch selten sieht. Als Jay Claire einmal aus
den Augen verliert, dreht sich die Beobachtersituation um: Sie entdeckt
ihn und folgt ihm neugierig, bis sie merkt, daß er den bekannten
Pub ansteuert: Mit einem Mal wird ihr deutlich, wie viel er über
sie weiß, daß er die gemeinsame Intimität zu Gunsten
eines oberflächlichen Wissensvorsprungs preisgegeben hat. In einem
letzten Treffen drückt sie ihre Enttäuschung aus; die Enttäuschung
darüber, daß sie in ihm wenig von dem fand, das sie zu entdecken
hoffte: „Ich habe immer gedacht, du wüßtest mehr als
ich und würdest es mir irgendwann einmal erzählen.“ Statt
ihrer eigenen Neugier auf die Geheimnisse des Lebens offenbart er ihr
nur seinen besitzergreifenden Drang, ihr Leben zu durchschauen und zu
kontrollieren. In den Bewußtsein dieser Differenz verläßt
sie Jay, der in seiner Einsamkeit und enttäuschten Liebe zurückbleibt.
Patrice Chéreaus Intimacy, der den „Goldenen Bären“
auf dem Internationalen Filmfestspielen in Berlin 2001 erhielt, steht
aufgrund seines Stils und seiner freizügigen Inszenierung in zwei
zeitgenössischen Kino-Kontexten. Zum einen erinnert der ausgiebige
Einsatz der Handkamera, die immer nah an den Personen bleibt, sowie die
Verwendung von available light an die in den späten neunziger Jahren
populären, bewußt rauh inszenierten Dogma-95-Filme, das Breitwandformat
spricht jedoch gegen eine solche Einordnung. Vielmehr nutzen Chéreau
und Kameramann Eric Gautier dieses Bildformat, um den Schauspielern einen
erheblich größeren Handlungsspielraum zu gewähren; zugleich
verstärkt das Scopeformat bei Aufnahmen von nur einer Person deren
Isolation und Verlorenheit im Bildraum. Die Handkameraaufnahmen erzeugen
auf der großen Leinwand eine extreme Aufgewühltheit, die vor
allem mit den Sequenzen gekoppelt ist, in denen Victor auftaucht. –
Viel (unnötig) diskutiert wurden zum anderen die freizügig inszenierten
Sexszenen, denen eine „pornografische“ Deutlichkeit unterstellt
wurde. Der Film rückte somit in einen Kontext mit anderen zeitgenössischen
französischen Filmen – Cathérine Breillats ROMANCE X
(1999), Leos Carax‘ POLA X (1999) u.a. –, die ebenfalls reale
Sexualakte darstellen, zugleich täuscht diese oberflächliche
Ähnlichkeit über die völlig unterschiedlichen Stile und
Anliegen dieser Werke hinweg. Von Pornografie kann man in den erwähnten
Fällen nicht sprechen, da es sich nicht um die Ausbeutung dieser
Szenen zum Zwecke der Stimulation geht. Intimacy zumindest gibt sich als
ein betont erwachsenes‘ Drama um Enttäuschung, Einsamkeit,
Hoffnung, Verlust und die (vergebliche) Suche nach Liebe und Zweisamkeit
in der zeitgenössischen europäischen Großstadt.
Patrice Chéreau, der vor allem als Theaterregisseur Bedeutung erlangte
(„Ring“-Inszenierung 1976 in Bayreuth), arbeitet auch an seinen
Filmprojekten mit der Technik des Ensemble-Regisseurs: L’HOMME BLESSÉ
/ DER VERFÜHRTE MANN (1983) und LA REINE MARGOT / DIE BARTHOLOMÄUSNACHT
(1994) gehören zu seinen bekannten Filmen. Auch mit dem Ensemble
von INTIMACY – in dem auch Marianne Faithfull, eine Ikone der sechziger
Jahre, ein Comeback feiert – arbeitete er in äußerster
emotionaler Nähe: „Ich habe eine starke Beziehung zu den Akteuren,
ein Regisseur muß ihnen helfen, das Beste aus sich herauszuholen.
Nur wenn sie mit ihm besser sind als ohne ihn, hat er seine Funktion erfüllt.
Man führt und wird geführt. [...] Man muß Schauspieler
wirklich mögen, und man darf sie nicht fürchten,“ bemerkt
der Filmemacher im Interview mit Margret Köhler. Die handgeführte
Kamera ermöglicht eine große Nähe zu Mimik und Gestik
der Protagonisten und zugleich ein Improvisationspotential: „Ich
bereite nicht mehr bis ins kleinste Detail vor, sondern entscheide am
Set,“ sagt Chéreau. So geht es in INTIMACY, der auf Vorlagen
des Londoner Autors Hanif Kureishi (MY BEAUTIFUL LAUNDRETTE / MEIN WUNDERBARER
WASCHSALON) basiert, eben auch nicht primär um die Inszenierung von
Sexualität, sondern um eine in dieser Intensität ungewohnte
Annäherung an alltäglich, ganz durchschnittliche Großstadtmenschen,
um ihre Hoffnungen, ihre Neugier und ihre Einsamkeit, mit der alle Charaktere
ihren eigenen Kampf ausfechten. Von diesem Hoffen und Warten erzählt
auch das dem Abspann unterlegte Lied „The Motel“ von David
Bowie: „We are living in a safety zone...“
Chéreaus bemerkenswerter, melancholischer Liebesfilm ist hierzulande
bei Universal als minimalistisch ausgestattete DVD erschienen, der Reiz
dieses Films kann jedoch in der hervorragend abgetasteten Breitwandfassung
bestehen. Ein Kommentar des Regisseurs wäre natürlich interessant
gewesen. Marcus Stiglegger
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