Dominik Graf

Schläft ein Lied in allen Dingen
Texte zum Film. Herausgegeben von Michael Althen

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376 Seiten
Alexander Verlag Berlin
Klappenbroschur, 11 sw-Abb.
ISBN: 978-3-89581-210-1

19.90 €

Filmessayismus ist die Kunst, sich dem künstlerischen Medium mit künstlerischen Ausdrucksmitteln zu nähern. Filmessayismus würdigt die Kunstform Film, indem er experimentell eine angemessene Form sucht, sich dem Werk zu nähern. Das kann vorsichtig erfolgen oder im Überschwang, von Skepsis oder Begeisterung getragen sein, immer aber ist das Ziel, dem filmischen Werk etwas an die Seite zu stellen, das dieses erhellt und in Kontext rückt – mal überraschend, mal irritierend. Im Idealfall ist Filmessayismus der journalistischen Kritik und der wissenschaftlichen Analyse gleichermaßen überlegen.
Die 1980er Jahre boten den erfreulichsten Nährboden für Filmessayisten. Hans Christoph Blumenberg zählte dazu, Norbert Grob, Michael Althen, Georg Seeßlen zweifellos – und der Filmemacher Dominik Graf. Das Wandeln auf der Grenze zwischen Täter und Mitwisser des Filmgeschäfts, zwischen Regie und Essay hat Tradition – die Cahiers du cinéma hatten diesen Weg vorgelebt. Doch selten fand man ihn fruchtbar fortgesetzt. Die Schönheit der Worte und Gedanken durfte der Schönheit der Bildern und Klänge ins nichts zurückstehen.

Dominik Graf also, jener Genre-auteur und Splitter im Gewebe der deutschen Filmlandschaft, hat sich von je her vom Medium mitreißen lassen und feierte es in Wort und Bild. Das von seinem Weggefährten Michael Althen herausgegebene Buch "Schläft ein Lied in allen Dingen" (benannt nach einem Film von Graf) ist der schillernde Beweis. Dabei demonstriert der Filmemacher wie stets erfrischende Exzentrik und belegt, dass es einen Weg jenseits des konsensuellen Kanons von Fellini-Bergman-Welles gibt. Zu den renommierten Klassikern einer Filmgeschichte der Sieger äußert er sich kaum. Und wenn, dann ist es eher Godard, nicht Truffaut. Lieber aber entdeckt Graf das Übersehene, das Unterschätzte und Verfemte. So feiert er in lebhaften Texten einen französischen Professional wie Claude Sautet, aber auch Randfiguren wie die Schauspielerin Corinne Cléry (aus KLEINHOFF HOTEL, 1976) oder Musiker und Darsteller David Hess aus Wes Cravens DAS LETZTE HAUS LINKS (1972) und Ruggero Deodatos DER SCHLITZER (1980). Beide trafen zusammen in dem wilden Road Movie WENN DU KREPIERST, LEBE ICH (1975) von Pasquale Festa Campanile, ein vergessenes Glanzstück der italienischen 1970er Jahre. Auch der oft verfemte Lucio Fulci hat es Graf angetan: In dessen Mafiaopus DAS SYNDIKAT DES GRAUENS (1980) entdeckt er einen zügellosen Anarchismus, der ebenso bizarr wie authentisch inszeniert wird. Selten erfuhr dieses Kino der 'zweiten Reihe‘ eine aufrichtigere Würdigung. MALASTRANA (1973) von Aldo Lado ist eine wahrhafte Entdeckung, ein traumwandlerischer Psychothriller aus dem nebligen Prag. Das ist wahre Cinephilie. Das sind Juwelen im exploitativen Sumpf jener unvergesslichen Jahre.

Wenn es um die Größen des Filmgeschäfts geht, wählt er deren vergessene Werke: David Cronenberg wird nicht mit DEAD RINGERS (1988) oder VIDEODROME (1982), sondern mit THE DEAD ZONE (1983) gewürdigt, Arthur Penn nicht mit BONNIE & CLYDE (1967) oder LITTLE BIG MAN (1970), sondern mit NIGHT MOVES (1974). Da vermisst man noch Curtis Harrington. Doch mit Nicolas Roeg und Donald Cammell sind zwei weitere Legenden präsent: In spannenden Miniaturen rettet Essayist Graf deren zu Unrecht als missglückt verrufene Thriller EUREKA (1982) und WHITE OF THE EYE/DAS AUGE DES KILLERS (1987). In Deutschland sind es dann auch nicht Fassbinder und Herzog, die Graf inspirieren, sondern Klaus Lemke (ROCKER, 1973) und Wolfgang Büld, der in den letzten Jahren einige grotesk-erotische Schauerstücke auf Digitalvideo gedreht hatte (u.a. PENETRATION ANGST, 2002). Das ist kleines Kino ganz groß, anschaulich geworden in Grafs mal spröder, mal sinnlicher Prosa. Man wird von den Worten mitgerissen und verführt, wie es Graf selbst durch diese Filme erfuhr. Man erwischt sich dabei, Fiona Horsey zu vermissen, Corinne Cléry wieder zu entdecken und Lemkes DIE RATTE (1994) neu sehen zu wollen. Grafs Filmprosa gibt sich als Abenteuer, nicht als Affirmation.

Auch das eigene Werk kommentiert Graf, jedoch indirekt - in Nachrufen auf verstorbene Freunde und Mitarbeiter wie Klaus Wennemann, mit dem er zahlreiche Folgen der Serie DER FAHNDER gedreht hatte. Skeptisch äußert er sich zum eigenen Debütfilm: DAS ZWEITE GESICHT (1982), einen unheimlichen, wenn auch langsamen Mystery-Thriller. DVD-Tips vom Cineasten und Sammler Graf beschließen den spannenden Band, den man lesen kann wie einen Roman. "Schläft ein Lied in allen Dingen" ist ein schönes und erfrischendes Buch – die ehrliche Liebeserklärung eines Filmemachers an das Kino.

Marcus Stiglegger