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Zelle
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Deutschland 2007
Regie, Produktion, Buch, Schnitt: Bijan Benjamin
Buch, Schnitt, „Tariq“: Yunus Cumartpay
Produzent: Hans W. Geissendörfer
Musik: Daniel Werner
Kamera: Yan B. Peter
„Mesut“: Erkan Gündüz
„Sarajevo“: Kasem Hoxha
„Levent“: Atilla Oener
„Marc“: Aurel von Arx
Filmlänge: 89 Minuten
Sprache: Deutsch (mit optionalen englischen UT)
Die Namen der Produktionsfirmen verschwinden
im Schwarz des Films. Das Bild hellt auf und zeigt in den digitalen, ausgebleichten
Bildern einer Überwachungskamera den Bahnsteig eines U-Bahnhofs.
Eine Explosion erschüttert das Bild, die Menschen schreien vor Angst,
sie fliehen. Eine Rauchwolke rast in die eben noch Wartenden, die jetzt
in Panik losrennen. Sie kommen nicht weit. Eine zweite Explosion macht
die Fliehenden nieder. Der Terror ist zu uns nach Deutschland gekommen,
ist nicht mehr fern in New York oder mittelbar fern in Spanien. Der Schlag
trifft auch den Zuschauer unvorbereitet. Noch ehe der Film richtig beginnt,
ist er medias in res. Umso verstörender wirkt die Gewalt, umso elender
die Opfer.
In der Realität des Films fallen die Menschen in Köln
einem Anschlag zum Opfer, dessen Drahtzieher Tariq ausgerechnet der Protagonist
des Films ist. Ihm also sollen wir folgen, ihm, der uns hasst, der uns
tot sehen will. Selten war es ungemütlicher, die Perspektive einer
filmischen Figur einzunehmen, deren Realität mit unserer Wirklichkeit
schmerzliche, angsterzeugende Berührungspunkte teilt. Aber genau
dazu zwingt den Zuschauer die Kamera, die meist Tariq folgt, die sein
Schicksal bebildert. Filmischer Konvention zufolge soll dies wegen der
frequenten Präsenz nun die Identifikationsfigur sein, du uns durch
den Film trägt. Einen Helden wird es nicht geben. Der Anschlag wird
erfolgreich sein.
Nicht ästhetische, filmisch aufgewertete Bilder zeigen
den Anschlag, sondern es sind nüchterne, faktische, die konstatieren,
wie Menschenleben ausgelöscht werden. Sind dies Originalbilder aus
den Nachrichten? Wo hört Realität auf und fängt Film an?
Die Grenzen sind verschwommen. Der Zuschauer wird gezwungen, sich auf
die psychologischen Vorgänge in einem Mann einzulassen, der einen
Typ unsichtbaren Terrorist darstellt, über den man lieber nicht nachdenkt.
Der Iraker Tariq trägt keinen Gürtel aus Dynamit, er ist nicht
vermummt, hat keine AK 47 geschultert. Er ist nicht laut, nicht unhöflich,
nicht auffällig – ganz im Gegenteil: Tariq trägt westliche
Kleidung, spricht Deutsch wie seine Muttersprache, ist zurückhaltend,
besonnen, studiert fleißig. Nur in seinen Augen flammt der Hass
auf, wenn die Sprache auf den Krieg in seiner Heimat fällt –
geführt mit Kriegsmaschinerie made in Germany.
Er ist Kopf der für den Film namensgebenden autonomen
Zelle, die den Terror nutzt, um Rache zu nehmen, aufzurütteln, bewusst
zu machen. Tariqs Mittel sind die falschen, aber sein Anliegen ist nicht
unbegründet. Hier liegt eine weitere Unbequemlichkeit. Die Männer
seiner Zelle haben teilweise Schreckliches durchgemacht. Sie sind gezeichnet
von Gräueltaten wie Mord, Vergewaltigung, ja Genozid. Sie sind als
politische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Aber haben sie
ihre Vergangenheit, ihre Kultur, ihre Traumata hinter sich gelassen? Ist
das überhaupt möglich? Heißt das folglich, dass überall
in Deutschland tickende Zeitbomben leben?
Alle Männer der Zelle sind Muslime, und alle sind
auf ihre Art gescheiterte Existenzen. Bei ihnen hat Tariq leichtes Spiel,
sie für seine Sache zu gewinnen. Doch Levents Loyalität bedarf
der Prüfung. Einen Kommilitonen kann er jedoch nicht auf seine Seite
ziehen. Hätte er den Anschlag verhindern können, hätte
er wachsamer sein müssen? Der Film erzählt in achronologischen
Episoden die Geschehnisse vor dem Anschlag. So wie sich in der Realität
nach einem Terrorschlag die Ermittler auf Spurensuche begeben, forscht
der Film nach dem Wie und Warum. Was zurückbleibt, ist ein mulmiges
Gefühl von Machtlosigkeit und schleichender Sorge.
Mit Zelle spielt Bijan Benjamin ein Horrorszenario durch,
das durch seine Ansiedlung in Deutschland ein Höchstmaß an
vorstellbarem Schrecken erzielt. Der von Kriegs- und Terrormeldungen aus
dem Ausland übersättigte Zuschauer sieht sich plötzlich
in seiner eigenen Heimat dem Massenmord gegenüber. Zelle bebildert
Ängste der Deutschen vor Terroranschlägen, die auch hierzulande
bereits geplant waren, jedoch bisher in letzter Sekunde vereitelt werden
konnten. Äußerst unangenehm bleibt der Film in Erinnerung,
weil er einen Mann zeigt, der sich anschickt, eben die Menschen zu töten,
zu denen auch der Zuschauer gehört. Den Film zu sehen heißt,
dem Protagonisten auf dem Weg zur eigenen Zerstörung zu folgen.
In den Extras melden sich die maßgeblichen Köpfe
zu Wort und berichten von ihrem Zugang zum Film. Produzent Geissendörfer
schildert seine Motivation, an diesem low-budget Film mitzuwirken. Hauptdarsteller
Cumartpay gewährt Einblick in seine schauspielerischen Vorbereitungen.
Kameramann Peter erläutert den Zusammenhang von jeweiligem Inhalt
und den gewählten Einstellungen. Komponist Werner vollzieht seine
musikalische Arbeit nach. Regisseur Benjamin erläutert sein Anliegen,
den Film zu machen. Allen jungen Männern ist gemein, dass es nach
einigen Kurzfilmen für sie der erste Langspielfilm war, in dem ihre
rohe, unverbrauchte Energie spürbar dem Gedächtnis verhaftet
bleibt.
Ingo Stelte
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