VINYAN

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(OT: VINYAN)
Regie: Fabrice De Welz / GB, F, Belgien 2008 / 96 Min.
Darsteller: Emmanuelle Béart, Rufus Sewell, Julie Dreyfuss u.a.
Produktion: Michael Gentile
Freigabe: FSK 16
Vertrieb: Koch Media
Start: 16.10.2009

Der Film beginnt im Chaos: Dröhnen, Schreie, wild wirbelnde Bläschen, betäubendes Rot. Dann idyllische Ruhe. Das Meer. Die Frau. Paradies und Hölle. Schönheit und Grauen. All das liegt nah bei einander in Fabrice Du Welz neuem Horrorfilm VINYAN...

Das Grauen. Dieser Satz steht im Zentrum der legendären Dschungel-Novelle von Joseph Conrad „Herz der Finsternis“, die Francis Ford Coppola 1979 kongenial verfilmte (APOCALYPSE NOW). Viel wurde spekuliert, was dieses Grauen im Herz der Finsternis letztlich sei, und der Philosoph Rüdiger Safranski fand eine erstaunliche Antwort: Das Nichts. Im Herzen der Finsternis herrscht das Nichts. Die absolute Abwesenheit von Sinn und Sein. Das Ende der Vernunft. Ein Bild dieser Abwesenheit von Sinn ist das Chaos des Dschungels. Chaos regiert dort.

In den letzten Jahren nehmen die Reisen ins Herz der Finsternis wieder zu. Und nicht nur der Dschungel bleibt als ein letztes Bild jenes Reiches, das sich dem Verstand wiedersetzt. Für Cathérine Breillat ist es ein anderes Bild, das die ‚Anatomie der Hölle’ verkörpert: In ihrem gleichnamigen Film L’ANATOMIE D’ENFER ist das der weibliche Körper, vielleicht auch die weibliche Psyche. Sie bringt den Mann (Rocco Siffredi!) im wahrsten Sinne um den Verstand. Am Ende bleibt ihm nur die letzte Revolte im sinnlosen Mord – der weibliche Körper muss zerstört werden, um die Integrität der Männlichkeit zu bewahren. Auch das eine Reise ins Herz der Finsternis: Blicke in den Abgrund, in das Zentrum des Nichts. Absolute Angst angesichts des nicht Begreifbaren. Und schließlich: Der ewige Krieg der Geschlechter. Lars von Trier baute daraus sein Schauermärchen ANTICHRIST, und Fabrice du Welz, dessen homoerotisches Groteske CALVAIRE bereits die Abwesenheit der Frau in der fatalen Feminisierung des Protagonisten beschwor, inszeniert diese ewige Tragödie in VINYAN. Dabei sind ANTICHRIST und VINYAN beide Geisterfilme. Und in beiden Filmen hat der Mann mit dem geheimen Band zwischen Frau und Kind zu kämpfen, das gewaltsam zerstört wurde. Doch während der Mann in ANTICHRIST selbst das Grauen beschwört (durch die Psychoanalyse), zieht es in VINYAN die Frau immer tiefer in den burmesischen Dschungel, wo sie zu sich selbst findet. Und den Mann verliert.

Sechs Monate, nachdem ihr einziges Kind während der Tsunami-Katastrophe in Thailand verschwand, glaubt die Französin Jeanne (Emmanuelle Béart), den tot geglaubten Sohn in einem Video über obdachlose Kinder in Burma wieder zu erkennen. Gemeinsam mit ihrem Mann Paul (Rufus Sewell) begibt sie sich auf eine Reise in ein Land jenseits aller Zivilisation und landet inmitten eines heimtückischen Dschungels, der von verwilderten Wesen bewohnt wird, die keine Eindringlinge dulden. Wenn ein Mensch einen grausamen Tod stirbt, so erfahren wir, findet seine Seele keine Ruhe und wird böse. Das nennt man „Vinyan“.

Emmanuelle Béart ist ein französisches Sexsymbol. Spätestens in DIE SCHÖNE QUERULANTIN von Jacques Rivette lernte man ihren Körper umfassend kennen. In DIE HÖLLE von Claude Chabrol bewies sie schauspielerisches Talent. In VINYAN mutet es merkwürdig an, ihr maskenhaftes Gesicht, ihre reduzierte Mimik zu betrachten, während Rufus Sewell die expressiven Emotionen zeigt. Diese weibliche Maske aber ist zugleich eine Metapher der Undurchdringlichkeit des Weiblichen, mit der Paul zu kämpfen hat. Während sich seine Frau in die obsessive Suche nach dem verlorenen Kind hineinsteigert, beginnt er, sich mit Alkohol bis zum Delirium zu betäuben und erschreckende Visionen zu imaginieren. Der düstere Schatten des abwesenden Kindes wird das Paar ersticken. Und obwohl Paul klar ist, dass ihre Reise ins Herz des burmesischen Dschungels die letzte sein wird, folgt er Jeanne. Aus der kapitalistischen Unterwelt Thailands geraten sie geradewegs in die grüne Hölle von Burma, eine Welt, die nach undurchschaubaren Gesetzen funktioniert und in der das Leben keinen Wert darstellt.

So ist VINYAN wahrhaft ein Horrorfilm, doch kommt das Grauen schleichend und mit steigender Gewissheit. Kalt und unausweichlich. VINYAN spielt sich irgendwo zwischen existenziellem Ehedrama und psychedelischem Kannibalenfilm ab, zwischen Angst vor der Frau und Angst vor dem Fremden – und ist ganz nebenbei einer der stärksten Dschungelfilme, die je gedreht wurden. Beachtlich für den belgischen Filmemacher Fabrice Du Welz, Jahrgang 1972, der am Institut National Supérieur des Arts du Spectacle et des Techniques de Diffusion in Brüssel absolvierte und hiermit erst seinen zweiten Spielfilm vorlegt. Bereits sein Debüt CALVAIRE reihte sich in die eindrucksvolle Welle transgressiver Horrorfilme aus Westeuropa ein, mit VINYAN geht er einen mutigen Schritt weiter.

Horrorfilme behandeln von je her die Urängste der Menschen. Und eine der tief verwurzeltsten Urängste ist die Angst vor der Frau, dem unbekannten Wesen. So mag Jeanne aus Sicht Pauls letztlich wahrhaftig das Böse verkörpern, den absoluten Verrat am Mann. Doch für Jeanne ist nur das Ende einer langen Reise erreicht, die Paul nicht mehr teilen kann. Es ist dem Zuschauer überlassen, wie er (oder sie) dieses Ende deuten möchte. Und folgerichtig bleiben nur noch die diffusen Laute des Dschungels unter dem Abspann. Chaos regiert. Die Natur bleibt. Auch ohne den menschlichen Geist.

Koch Media bringt VINYAN auf DVD und Blu-ray heraus. Die körnige, düstere Qualität der Breitwandbilder lässt die Blu-ray nicht in gewohnter Brillanz strahlen, daher lohnt sich ebenso die DVD-Version, die dem Film voll gerecht wird. Neben dem englischen Originalton, der der akzeptablen Synchronisation vorzuziehen ist, liegt ein faszinierendes Drehtagebuch vor, das in 53 Minuten die wilden Dreharbeiten dokumentiert und tiefe Einblicke in die Marotten des Teams gewährt.

Das ist Alptraumkino mit höchstem Anspruch – und SAW-Fans bleiben natürlich zu Hause.

Marcus Stiglegger