TOKYO DECADENCE

4 / 5 Sterne

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Label: Asian Film Network
Laufzeit: 113 Min.
Sprachen: Deutsch DD 2.0, Japanisch DD 2.0
Untertitel: deutsch
Bild: 1,85:1 16:9 anamorph

TOKYO DECADENCE erzählt auf einer ersten Ebene das ernüchternde Porträt einer käuflichen S&M-Sklavin im Japan der frühen Neunziger Jahre. Die japanische Gesellschaft befindet sich in einer Art kapitalistischer Starre, die Straßen erscheinen leer, erst hinter verschlossenen Türen beginnt die bizarre Mechanik des teuer erkauften Vergnügens.

Ai - japanisch für „Liebe“ - (Miho Nikaido) ist jene Prostituierte, unsicher pendelnd zwischen professionalierter Schmerzlust und emotionaler Irritation. In der Konsequenz ihres Handelns wird Murakami schließlich einen unerfüllten Hang zur Romantik entdecken, der sie fast ihren Verstand kostet. In ihrer Vergangenheit verliebte sie sich in einen reichen Kunden, der sie äusserst zuvorkommend behandelt hatte. Aber der Mann verlor schnell das Interesse an ihr. Die fixe Idee dieser ‘verlorenen Liebe’ wird den ganzen Film hindurch immer wieder durchbrechen. Ihre Suche nach Glück endet immer wieder in sterilen Hotelzimmern, in denen sie zum Sexspielzeug degradiert wird.

In der ersten Szene, der Pretitlesequenz, werden auf schockierende Weise die Spielregeln geklärt: „Vertrauen ist der Schlüssel zum S&M-Spiel,“ sagt der wie ein weiser Hohepriester des Schmerzes agierende, tatsächlich aber etwas verhuschte und schmierige Kunde zu der auf einen Gynäkologenstuhl gefesselten und geknebelten Ai. Als er ihre Augen verbinden will, protestiert sie zunächst, doch er fährt zielstrebig fort: Sorgfältig injiziert er mit einer kleinen Spitze Heroin in die Innenseite ihres Oberschenkels. Zu einem traditionellen Gesang, beginnt er, ihre nackten Füße zu liebkosen, dann scheint er sie mit einem Gegenstand zu penetrieren - der Vorgang findet jedoch außerhalb des Bildkaders statt. Als er den Knebel aus Ais Mund nimmt, läuft ein Speichelfaden aus ihren erstarrten Lippen. Lange blicken wir in dieses halb betäubte, halb schockierte Gesicht...
Auf dem Weg zu einem reichen Kunden, eventuell ein Yakuza-Gangster, konsultiert sie eine mysteriöse Wahrsagerin. Nach einem Blick in ihre Handfläche bekommt sie drei Empfehlungen: Sie solle eine Telefonbuch unter ihren Fernseher legen, sich von Museen im östlichen Teil der Stadt fernhalten und einen Ring mit einem pinken Stein an ihrem Mittelfinger tragen... Dieser Topaz ist bereits im Originaltitel das Symbol für Ais zermürbende Suche nach einem bürgerlichen Glück, das diese Gesellschaft nicht für sie bereithält.

Mr. Ishioka (Masahiko Shimada), der nächste Kunde, entpuppt sich als feister, kaltblütiger Zyniker. „Japan ist reich, aber ohne Würde,“ sagt er zu Ai, die er systematisch auf einen Akt der totalen Unterwerfung vorbereitet. Er selbst wird zur Inkaranation dieser dekadenten Perspektive. Erst schmiert er ihr mit Gel die Haare zurück - wobei er darauf verweist, daß die Nazis den KZ-Häftlingen auch die Haare geschoren hätten, um sie zu demütigen -, dann läßt er sie stundenlang halbnackt vor dem Panoramafenster der Suite posieren, um in quälender Langsamkeit den Slip abzustreifen. Dieses Bild ist emblematisch für den Film geworden, zeigt es doch die Frau in der Totalen als reine Spieluhrenpuppe. Erst in Nahaufnahmen sieht man ihr den Schweiß über den Körper rinnen.

Später muß Ai bemerken, dass sie ihren Ring im Zimmer Ishiokas vergessen hat. Bei ihrem nächsten Auftrag - im selben Hotel, gleichsam einem pointierten dekadenten Mikrokosmos - will sie sich erneut in die vorangehende Szenerie begeben. - Bevor Ai jedoch an Ishiokas Tür ankommt, stürmen Yakuza-Gangster in Zeitlupe das Hotelzimmer, beschuldigen ihn des Versagens und demütigen ihn. Sie fesseln seine Frau, flößen ihr Drogen ein und lassen den hilflosen Ishioka dabei zusehen. Danach vergewaltigen und schlagen sie die Gefesselte. Ai klopft an der Tür und unterbricht das Spektakel. Ein Yakuza zieht sie in das Zimmer und sie realisiert mit wenigen Blicken die Situation. Hier bekommt das eingefrorene Geschehen die Qualität eines grausamen sadeschen Tableaus: Die gequälte Frau, wie sie in einem Netz von Bondageschnüren und Tropfkanülen hängt... Ai hetzt zum Fahrstuhl und trifft auf ihre Kollegin Miyuki, die nach dem Grund ihrer Panik fragt. Es sei nichts, Mr. Ishioka sei nicht zu Hause gewesen...

Ein schier unersättlicher, drogensüchtiger junger Kunde (Hiroshi Mikami), dessen Potenz deutlich unter übermäßigem Crack- und Kokain-Konsum gelitten hat, bittet die beiden Frauen, ihn durch langes Würgen zum Orgasmus zu bringen. „Wenn ich stop sage, drück noch fester zu!“ Sie befolgen seine Wünsche und strangulieren den nackten, körperlich sehr verweichlicht wirkenden Mann. Sein Gesicht schwillt an, seine Augen verdrehen sich, seine Blase entleert sich in das übergestreifte Kondom und sein Atem stockt. Die Frauen werden panisch, bedecken sein Gesicht mit einem Laken und beginnen, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie wollen keine Spur zurücklassen. Plötzlich erwacht der Scheintote unter dem Laken. Voller Euphorie verkündet er, er habe seine Mutter getroffen, die im Vorjahr gestorben sei. „Sie sagte: ‘Verschwinde!’“ Hier schneidet der Murakami weg: ein typischer Bruch in der fragmentierten Dramaturgie dieses Films, der immer wieder menschlich-emotionale Dispositionen zu etablieren scheint, die er nach einer unerwarteten Wendung abbrechen lässt, um letztlich das Gefühl einer zwischenmenschlichen Leer zurückzulassen. Jede Figur lebt ausschließlich in ihrer eigenen Vorstellungswelt, mit der eine Konfrontation nur befremdlich wirken kann.

Das letzte Viertel von Topâzu ist die radikale Visualisierung von Ais psychischem Zusammenbruch. Obwohl Murakami gerade diese Passagen interessiert zu haben scheinen - hier taucht u.a. eine der zahlreichen Tanzszenen auf, die für ihn typisch ist - wurde sie in der deutschen Fassung gekürzt, um den Film als ‘Softporno‘ vermarkten zu können. Ais Zusammenbruch ist so nur noch zu erahnen. In der nun endlich auch in Deutschland vorliegenden Originalfassung mit 113 Minuten geraten die sadomasochistischen Szenarien nicht zum Stimulans, sondern betonen um so mehr die Entfremdung und Einsamkeit Ais, die Mangels einer individuellen Selbstdefinition zwischen der Romantikerin und der Sklavin zerbricht. Murakamis Film benutzt das sadomasochistische Szenario durchweg als Metapher für eine durch und durch materialisierte Gesellschaft, deren erstes Opfer die Würde und Individualität ihrer Bewohner ist. Topâzu nutzt demnach die sadomasochistische Thematik, um das Leben der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft und der materialistischen Konsumgesellschaft schlechthin als schleichenden Zerstörungsmechanismus zu entlarven.

TOKYO DECADENCE, der erfolgreichste Film des japanischen Romanciers und Filmemachers Ryu Murakami (nicht zu verwechseln mit Haruki) ist hierzulande bislang nur in einer auf unter 90 Minuten gekürzten Fassung zu sehen gewesen, die das Geschehen auf die sexuellen Episoden konzentriert und als Softporno vermarktet wurde. Es spricht für den Film, dass er dennoch einen recht guten Ruf erlangt hat. Es war also lange überfällig, die ungekürzte Fasung zugänglich zu machen. Asian Film Network bringt ihn als Bare Bones-DVD mit der deutschen Synchronisation und der Originaltonspur mit Untertiteln. Sonst ist nichts auf der Scheibe zu finden. Zudem muss man deutlich sagen: Das Bild erscheint sehr körnig und verrauscht, der Ton flach. Da mir auch die japanische DVD vorliegt, kann ich im Vergleich nur sagen: Das ist nicht intendiert. Dort ist das Bild gestochen scharf. Immerhin hat man das miserable Bild der US-DVD (Image) nun hinter sich gelassen. Und wer den Film noch nicht kennt, sollte unbedingt zu greifen. Doch eine Enttäuschung ist das schon...

Marcus Stiglegger