|
Susan Sontag
Das Leiden anderer betrachten
Hanser 2003, ISBN 3-446-20396-6, geb., 151 S.
BESTELLEN
Kriegsbilder haben eine politische oder moralische Funktion.
Daher werden sie manipuliert oder als manipuliert diffamiert, wenn sie
nicht zur eigenen Überzeugung passen. Allein auf-grund der Bildunterschrift
kann die Wirkung und Aussage eines Bildes variieren. Natürlich sind
solche Erkenntnisse wenig originell. Genauso wenig wie Sontags Hinweis
darauf, dass Fotos nicht grundsätzlich authentische Realität
abbilden, sondern immer einen interpretierenden Eingriff des Fotografen
bedeuten. Doch Susan Sontag geht es in ihrem nun in deutscher Übersetzung
erschienen Essay über die Kriegsfotografie weniger um die Frager
nach der Authentizität als um die Wirkung und Funktion der Bilder.
Natürlich können die Reaktionen ganz unterschiedlich sein. Der
Ruf nach Frieden und der Schrei nach Rache sind vielleicht die häufigsten.
Besonders kritisch steht Sontag dem Mitfühlen des Betrachters
gegenüber: „Die imaginäre Nähe zum Leiden anderer,
die uns Bilder verschaffen, suggeriert eine Verbindung zwischen den fernen,
in Großaufnahme auf dem Bildschirm erscheinenden Leidenden und dem
privilegierten Zuschauer, die in sich einfach unwahr ist – nur eine
Täuschung mehr, was unsere wirklichen Beziehungen zur Macht angeht.
Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen
dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde.“ (S.119).
"Das Leiden anderer betrachten" ist ein Essay
über Macht und vor allem über Erinnerung. Sontag meint vor allem
ein Erinnern an Bilder – auch beim sogenannten „kollektiven
Gedächtnis“. Gerade des kollektive Gedächtnis Amerikas
ist derzeit von den Bildern des 11. Septembers bestimmt, doch: „Strenggenommen
gibt es kein kollektives Gedächtnis [...].Was man als kollektives
Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen
– darauf, daß dieses wichtig sei, daß sich eine Geschichte
so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe
die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.“ Dabei kritisiert
sie nicht, dass man sich anhand von Fotos erinnert, sondern dass man sich
nur an Fotos erinnere und andere Formen des Erinnerns und Verstehen verdrängt
würden. Wie eine politische Aussage zu einem Amerika nach dem 11.
September 2001 lesen sich dann auch schlichter Sätze wie: „Vielleicht
mißt man dem Erinnern heute zuviel Wert bei – und dem Denken
nicht genug.“ (S.134) An solche Stellen verwundert es nicht, dass
Sontag in Amerika wegen ihrer „antipatriotischen“ Einstellung
kritisiert wird, und in einem Deutschland des 'alten Europas‘ den
Friedenspreis bekommt.
Schon kurz nach dem 11. September beklagte Sontag, dass
den Betrachtern Bilder der zerfetzten Körperteile nicht gezeigt wurden.
Die eigenen Toten werden auch im Irak-Krieg nicht präsentiert. Diese
Selbstzensur wird mit „den Grenzen des gute Geschmacks“ und
den Rech-ten der Opfer und ihrer Familien begründet. Doch im Zeigen
fremder Opfer – den und dem Anderen – kennt man keine Scheu:
„der andere, selbst wenn er kein Feind ist, gilt uns nur als jemand,
den man sehen kann, nicht als jemand, der (wie wir) selbst sieht“
(S.86). Susan Sontag fordert die Grausamkeit der Bilder. Sie verbindet
mit ihnen aufklärerische, demokratische und vielleicht etwas idealistische
Tugenden. Und dann wird deutlich, dass sie kein Buch über Fotografie
oder über den Krieg geschrieben hat, sondern eine machtkritische
Aufforderung nach gelebter Demokratie: „Solche Bilder können
nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken,
zum Lernen – dazu, die Rationalisierungen für massen-haftes
Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch
zu prüfen. [...] Haben wir eine bestimmte Situation bisher fraglos
akzeptiert, die in Frage gestellt werden sollte?“ (S.136) Ein
wichtiges Buch.
Christian Hißnauer
|