Dave Thompson

Schattenwelt

Helden und Legenden des Gothic Rock

Hannibal Verlag 2003, ISBN 9-783854-452362, 424 S., zahlreiche SW-Abb.

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Ich habe mich immer gefragt, was die Band Nine Inch Nails mit Musikströmungen wie „Gothicwave“ oder „Industrial“, denen sie sich selbst mehr oder weniger zuordnet, zu tun hat. Nach Jahren, in denen ich von der unmittelbaren Abneigung schließlich zur völligen Ignoranz solcher Bands wie Nine Inch Nails, Marilyn Manson und ihrer (Sound-)Ästhetik übergegangen bin, verrät mir Dave Thompson in seinem jüngst im Hannibal-Verlag erschienen Buch Schattenwelt die Hintergründe dieser meiner spontanen Reaktion. Denn Trent Reznor, Frontmann und Sänger der Nine Inch Nails, war mit seinem 1989 erschienen Debutalbum „Pretty Hate Machine“ in eine gut zu vermarktende Lücke amerikanischer „Abklatsch“-Reflexe auf britische (Musik-)Kulturen gerutscht. Eine Lücke, “die sich zwischen der reinen Wut von Ministry und der aufstrebenden Kultur des Alternative Rock auftat“ (Thompson). Nach Ansicht des Autors gehen bei dieser amerikanischen Adaption während der „Übersetzung“ wesentliche Elemente ihrer britischen Originale verloren, ohne die letztere kaum die Durchschlagkraft bekommen hätten, welche diese Originale schließlich kennzeichneten: Elemente wie Ironie, Spaß und Übermut. Ähnlich wie Bob Dylan die verzerrte (Zwillings-)Antwort Amerikas auf die Beatles gewesen sei, so habe sich aus dem ursprünglichen Britain-Gothic-Wave eine amerikanische Variante entwickelt, die aus der dortigen Death-Metalszene hervorgeganen ist. Nine Inch Nails sind ein – freilich noch recht kreatives - Produkt dieses „überseeischen“ Reflexes auf ein spezielles britisches Musik-Phänomen. “Wir Briten gaben ihnen vier witzige Pilzköpfe, sie gaben uns Bob Dylan, wir gaben ihnen Glam, sie gaben uns Kiss, wir gaben ihnen Punk, sie gaben uns Black Flag, ....wir gaben ihnen Def Leppard, sie gaben uns Metallica“ (Thompson), und vielleicht gaben sie uns für Joy Division oder Sisters of Mercy die Nine Inch Nails als etwas ausgefallenere amerikanische Reaktion auf eine britische Schwärze, in der Selbstmitleid und plötzliche aggressive Trotzreaktion, die auch bei Nine Inch Nails unüberhörbar sind, zu den markantesten Ausdrucksmerkmalen gehören.

Wie sich diese Merkmale zu einem ganzen Musikstil organisierten und im Gothicwave der 1980er Jahre schließlich ein inzwischen legendäres Genre prägten, kann man in Schattenwelt auf etwa vierhundert Seiten nachlesen. Teilweise fließend ineinander übergehende Kapitel über die einzelnen damals wichtigen und häufig auch persönlich miteinander verbundenen Künstler geben einen detaillierten Einblick nicht nur in den Gothicwave-Rock der ersten Stunde, sondern auch die sich - zum Beispiel in einigen Comebacks und Reunions manifestierende - weitere Entwicklung seiner Väter. Wer wusste denn oder erinnert sich noch daran, dass ohne G.P.Orridges (Throbbing Gristle) Insistieren „Unknown Pleasures“, ein Album von Joy Division - dessen Sänger Ian Curtis i.Ü. ein häufiger Hörer von Throbbing Gristles Sound war - zumindest zum damaligen Zeitpunkt niemals veröffentlicht worden wäre. Wer weiß oder erinnert, dass Bauhaus-Sänger Peter Murphy in Manchester der schweren Körperverletzung angeklagt wurde, weil er bei einem Konzert jemanden aus dem Publikum tätlich angegriffen hatte, der ihm beim Singen in den offenen Mund gespuckt hatte. Nach Zahlung eines Bußgeldes wurde Murphy schließlich wieder auf freien Fuß gesetzt.
Unweigerlich hat man beim Lesen von Schattenwelt das Gefühl, „vor Ort“ zu sein und mit nahezu jeder bevorstehenden Zeile dieser Publikation –ob nun als Neuheit oder erinnertes Ereignis- etwas Interessantes aus der damaligen Gothicmusikszene (wieder-)zu entdecken, sodass die Aufmerksamkeit beim Lesen des Buches selten nachlässt.

Allerdings vermisst man in Schattenwelt eine Band, die zwar im strengen Sinne nicht eigentlich dem Gothicwave zuzurechnen ist , aber nicht nur „durch und durch schwarz“, sondern vor allem auch darkwavender, weil elektronischer gewesen ist als die in Dave Thompsons Buch reichlich Erwähnung findende Siouxsie-Freundin Nico (Velvet Underground): Die Band Suicide, die sich 2003 mit einem meines Erachtens nicht sonderlich gelungenen Album (“American Supreme“) wieder auf der Ton-und Bildfläche zurückmeldete und seit Ende der siebziger Jahre mit narzisstischen, düster erotisierenden Minimal-Electro-Beats bekannt wurde, darf meiner Meinung nach in einem Buch über wavige Schattenwelten der 80er Jahre nicht fehlen, zumal (mir) mehr als fraglich erscheint, ob sie nicht nur weniger dem sogenannten Darkwave zuzurechnen ist als Nico, sondern auch der in „Schattenwelt“ ebenfalls häufig auftauchenden Band Alien Sex Fiend.

Aber vielleicht ging es dem Autor Dave Thompson letztlich gar nicht so sehr darum, vorab die Merkmale eines Musik-Stil akribisch genau herauszufiltern und von anderen Genres abzugrenzen, um daraufhin über alle ihm bekannten, diesem Stil subsumierbaren Bands zu schreiben, sondern vielmehr um die lebendige Vermittlung der Ereignisse und Beziehungen einer an vielen Stellen auch persönlich in sich verzweigten Musik-Szene, zu der Suicide trotz aller sujetähnlichen und musikalischen Affinitäten letztlich nicht gehören.

Der ausführliche chronologische Anhang über die damaligen Ereignisse in der Gothic-Szene komplettiert diese historisch-dokumentarische Mammut-Publikation, die, so ist anzunehmen, zur Kultlektüre sowohl für Nostalgiker als auch für „Ursprungs-Archäologen“ des Gothic-Wave –Rock werden wird.

Wolfram Hasch (www.lucid-zoom.de)