San Babila Ore 20: Un Delitto Inutile
(dt. San Baibla, 20 Uhr: Ein sinnloses Verbrechen; Italien 1976)

Camera Obscura
Italian Genre Cinema Collection No. 14
Format: Blu-ray, DVD
Regie: Carlo Lizzani
Darsteller: Daniele Asti, Giuliano Cesareo, Pietro Brambilla, Pietro Giannuso, Brigitte Skay
Bildformat: 1.85:1, 16:9 Anamorph
Tonformat: Italienisch (Dolby-Digital 2.0 Mono)
Untertitel: Deutsch, Englisch
Laufzeit: 97 Minuten (+Extras)
Extras: Featurette „An Age of Violence“, Audiokommentar von Marcus Stiglegger und Kai Naumann, Booklet von Christian Kessler, italenischer Trailer, Fotogalarie


Tatort San Babila, Mailand 1976. Es ist zwanzig Uhr, der Platz um die historische San Babila Kirche im Herzen der norditalienischen Großstadt noch voller Leben, da geschieht ein sinnloses Verbrechen. Eine Gruppe radikalisierter, neofaschistischer Jugendlicher verfolgt ein junges Paar durch das Labyrinth der kleinen Gassen, Einkaufspassagen, Geschäfte, Cafes und Arkaden. Im Gegensatz zu den gespenstischen Gemälden des proto-surrealistischen Malers Giorgio de Chiricos sind diese Räume jedoch keine menschenleeren Geisterstädte – dennoch wirken die Passanten unbeteiligt, scheinen die Verfolgungsjagd zu übersehen oder übersehen zu wollen, und bieten keine Hilfe an. Diese Tatenlosigkeit, die der Film auch Polizei und Staatsschutz unterstellt, ist ein Symbol dafür, dass faschistische Tendenzen im Italien der 1970er Jahre in weiten Teilen der Gesellschaft mehr als nur geduldet waren. Am Ende der Hetzjagd steht das Unvermeidliche: Ein sinnloser und vollkommen unverständlicher Mord.

„San Babila Ore 20: Un Delitto Inutile“ erzählt die Chronologie dieses Verbrechens – das gleichzeitig den tragischen Klimax des Films bildet – aus der Perspektive der Täter. Geschildert wird ihr Alltag rund um ihren Lebensmittelpunkt den Piazza San Babila. Mit eigener Metrostation seit 1964, edlen Boutiquen und bürgerlich mondänen Bars ist dieser Ort nicht nur ein Sinnbild des italienischen Wirtschaftsaufschwungs nach dem 2. Weltkrieg, sondern zieht auch die finanziell gut situierten aber moralisch verwahrlosten, und von der Gleichheits-Utopie des Kommunismus angeekelten, neofaschistischen Bürgersprösslinge wie magisch an. Der Tatort Mailand war in jenen Jahren ein Schlachtfeld der politischen Kämpfe zwischen der rechten und linken Jugendbewegung. Am 12. Dezember 1969 mündete dieses immer weiter eskalierende Klima schließlich im Terror: Eine rechtsradikale Gruppe verübte einen Bombenanschlag auf die Banca Nazionale dell’Agricoltura, der 17 Menschen das Leben kostete und zahlreiche weitere schwer verletzte. Auch im Film spielt ein Bombenanschlag eine Rolle: Noch am Nachmittag vor dem Verbrechen plant die Gruppe einen letztlich misslingenden Angriff auf die Zentrale der kommunistischen Gewerkschaft. Am Abend schließlich entlädt sich dann der Frust über diesen Fehlschlag; aus politischer Gewalt wird blinde Wut, und aus ideologisch verblendetem Terror ein willkürlicher Akt – eine Enthemmungsspirale, die auch in dem ebenfalls 1976 veröffentlichten Film „Come Cani Arrabiati“ (Italien, R: Mario Imperoli) das strukturierende Narrativ der linksintellektuellen Kinematographie bildet.

So wie es Regisseur Carlo Lizzani vermeidet, seinen Film den stilistischen Stereotypen tradierter italienischer Genre-Konventionen zu unterwerfen, so entzieht sich seine Deutung des Verbrechens einfachen Psychologisierungen und Erklärungsmustern. Stattdessen entwirft er eine Collage, die mehrere Interpretationen plausibel macht, und die Gewalttaten der Gruppe einmal als sexuelle Kompensationen, einmal als großbürgerlich-dekadenten Nihilismus, oder eben als ideologischen Irrsinn entlarvt. Eine definitive Zuweisung findet nicht statt, vielmehr bleibt es dem Betrachter überlassen zwischen den möglichen Motivationen abzuwägen, selbst eine Entscheidung zu treffen, oder gerade in der Gegenüberstellung der einzelnen Erklärungsmuster deren Unzulänglichkeit zu erahnen – es ist letztlich ein sinnloses Verbrechen. Die Frage nach dem „Warum“ bleibt in San Babila eine Frage und wird von Lizzani nicht in eine – vielleicht immer zur Simplifizierung verdammte – Antwort gewendet.

Mit der Veröffentlichung von „San Babila Ore 20: Un Delitto Inutile“ ist dem Nischen-Boutique-Label Camera Obscura erneut die Wiederentdeckung einer vergessen geglaubten Perle des italienischen Genre-Kinos gelungen. Das großartig restaurierte Bild macht die knapp 40 Jahre, die seit seiner Erstveröffentlichung zurückliegen fast vergessen. Wie gewohnt wartet die Edition mit großartigen Extras auf: Neben einem kundigen und gehaltvollen Audiokommentar der beiden Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger und Kai Naumann, präsentiert die Veröffentlichung das Featurette „An Age of Violence“ mit Regie-Assistent Gilberto Squizzato sowie ein einführendes Textheft vom Filmjournalisten Christian Keßler. Eine wichtige Variante zwischen der Blu-ray und DVD Veröffentlichung kommuniziert das Label selbst: „Wir werden bei der SAN BABILA DVD im Vergleich zur Blu-ray leider wieder einen Abstrich machen müssen: Das Interview mit Gilberto Squizzato ist so interessant, dass es 63 Minuten dauern wird. Das passt allerdings nicht auf die DVD, weswegen wir eine 40-minütige, gekürzte Fassung auf die Disc machen werden. Die geschnittenen Szenen werden aber dann nach dem Release auf YouTube anschaubar sein“ (Quelle: facebook.com/CameraObscuraFilmdistribution; Post vom 24. Februar 2015).

Weil es sich bei „San Baibla, 20 Uhr: Ein sinnloses Verbrechen“ nicht lediglich um eine Dramatisierung und Verdichtung des norditalienisch-milanesischen Neofaschismus handelt, sondern weil der Film auch auf einen konkreten, ähnlich gelagerten Mordfall reagiert, der sich nur wenige Monate vor Drehbeginn in Mailand ereignete, ist er auch ein Dokument italienischer Zeitgeschichte. Er dokumentiert den Versuch eines entschieden linksintellektuellen Filmemachers sich diesem Verbrechen zu nähern, an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern auf Spurensuche zu gehen und so den Tatort San Babila als neofaschistisches Milieu zu kartieren. Eine spannende und aufschlussreiche Zeitreise in eine schwarze Zeit der italienschen Geschichte, und gerade deshalb eine der bisher wichtigsten Veröffentlichungen von Camera Obscura.

Patrick Kilian