DIE RATTE

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OT: Die Ratte
Produktionsland & -jahr: D 1992
Laufzeit: ca. 85 Min.
Genre: Krimi
FSK: 16
Regie: Klaus Lemke
Rollen / Darsteller: Sven: Thomas Kretschmann, Ricki: Marco Heinz
Barfrau: Andrea Heuer, llo: Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders,
Sekretär: Rocko Schamoni
Sprachen: Deutsch
Audio: DD 2.0
Bildformat: 1:1,66
Ländercode: 2 PAL
Specials: Regie-Audiokommentar, Trailer, Biografien, Kritiken,
Darsteller- & Crewbiografien, Klaus-Lemke-Retrospektiven-Eröffnung 2003, Presseschau & Interview mit Klaus Lemke,
Trailershows: Thomas Kretschmann, Hamburg-Film, Epix

Außer Atem geht es los in diesem Film. Mit entfesselter Kamera und rabiatem Schnitt, mit einem nervösen Saxophon-Solo und treibenden Techno-Beats: mit einem langen Fick gegen schnelle Bezahlung. Ihre Kleidung lassen die beiden an während der heftigen Nummer, sie hat ihn auf der Straße angesprochen, er ist mit zu ihr nach Hause gekommen, nicht wegen dem Sex, sondern weil er sich Bargeld erhofft von ihr, oder einen Autoschlüssel oder eine Rolex.

Der Dieb, das ist Sven, ein Irrwisch und Impresario, hustler und midnight cowboy, daheim auf dem Hamburger Kiez, zwischen Nutten und Zuhältern und Dealern und Polizisten. Ein Pano-rama seines Lebens zeigt Die Ratte, einen Tag zusammen mit seinem kleinen Bruder Ricki, der den älteren bewundert, ihm nacheifern will. Die erste Lektion lernt der jüngere schnell: „Sex ist nichts für Muttersöhnchen und Arschbackenzusammenkneifer, die den ganzen Tag Angst haben, was falsch zu machen!“.

Eine atemlose Dreistigkeit zeichnet ihn aus, diesen Film von Klaus Lemke, eine dreiste Ekstase und ein ekstatischer Elan, das kann man nicht voneinander separieren, weil es Der Ratte ganz ernst ist, mit dem Leben, mit der Liebe und mit dem Kino. Nach Rocker (1972), Sylvie (1973), Teenagerliebe (1974) und Paul (1974) ist Die Ratte der fünfte Hamburg-Film Lemkes, und noch immer sucht er das Pathos des Authentischen hinter den Blicken und Gesten, das Sichtbarmachen von Gerüche und Geschmäcken, Gefühlen und Gedanken. Nicht bloß voller Leben, das Leben selbst scheinen seine Filme sein zu wollen, in ihrer Form der Formlosigkeit. Um ein ehrliches Kino geht es ihm, auch was misslingt, wird vorgezeigt und nicht versteckt. Mit Wahrheit hat das nichts zu tun, aber sehr viel mit Wahrhaftigkeit, der Wahrheit des Kinos.

Thomas Kretschmann und Marco Heinz sind zu sehen in Die Ratte, zwei ganz wunderbare Darsteller: professionelle Dilettanten, die stets mitspielen, dass ihr Schauspiel gespielt wird, aber doch nie vor ihren Rollen stehen. Lemke zeigt seine beiden Protagonisten als frivole Outsider der deutschen Gesellschaft, ein wenig ist Die Ratte zu begreifen als kleiner Bruder von Roland Klicks Supermarkt (1973), dem Outsider-Film der Outsider-Filme. Klick und Lemke, die beiden Outsider des Neuen Deutschen Films, da gab es schon immer eine Verbindung, die Schwärmerei für das amerikanische Genre-Kino, der Traum vom großen Abenteuer, abenteuerliche Geschichten zu erzählen, im Film, mit dem Film, durch den Film. Wo aber wieder und wieder aufgebrochen wird, was an Konventionen und Regeln existiert, um wieder und wieder durch die Welt zu gehen, mit offenen Augen: um nicht nur zu betrachten, sondern auch zu sehen.
Die Ratte, das ist Kino, wie es in Deutschland eigentlich nicht existieren dürfte, taktlos und gefühlvoll, statt taktvoll und gefühllos. Lemke hat es stets verabscheut, Figuren zu erklären, zum Erraten will er einladen. Bei ihm bekommt der Zuschauer keine Botschaften mitgeteilt, er ist aufgefordert, selbst zu entdecken. Es geht um Orte, die zu erkunden sind, und um Menschen, die einem näher gebracht werden, auch wenn man ihnen nicht nahe sein will. Dabei haben die Bilder viel Raum, um zu atmen, Lemke lässt ihnen alle Zeit, die sie wollen, oft auch mehr als sie brauchen. „Der Sinn dieses Films“, hat Frieda Grafe zu Lemkes großartigem Debüt 48 Stunden bis Acapulco (1967) notiert, „liegt in seinem Rhythmus. An ihm kann man studieren, was kinematografische Metrik ist und daß der Ausdruck im Film vor allem abhängt von der Einteilung der Zeit“. Das ist eine schöne Beobachtung zum frühen Lemke, die auch noch gilt für Die Ratte.

Schnell und zugleich entspannt, wild und zugleich zärtlich, einen poetischeren Film kannte es nicht in den 1990er Jahren: das deutsche Kino.

rit