Kraushaar, Wolfgang; Wieland, Karin und Jan Philipp Reemtsma

Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF

Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft. ISBN 3-936096-54-6 Euro 12,-- 149 Seiten

Späte Abrechnung mit 68: Rudi Dutschke und die „RAF als attraktive Lebensform“

Auch sieben Jahre nach der Selbstauflösung ist das künstlerische und publizistische Interesse an der RAF ungebrochen. Anfang des Jahres sorgten die Kunstausstellung „Zur Vorstellung des Terrors“ und ein kleines rotes Bändchen für viel – kalkulierte (?) – Aufruhe in den deutschen Feuilletons. Dieser schmale Band über „Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF“ umfasst lediglich drei Aufsätze von Wolfgang Kraushaar, Karin Wieland und Jan Philipp Reemtsma. Vor allem in der taz entbrannte darauf hin eine Debatte um die Deutung Rudi Dutschkes, der RAF und der 1968.

Die drei Aufsätze werden lose durch das Thema „gewalttätiger Widerstand“ zusammengehalten. Wolfgang Kraushaar will beweisen, dass Rudi Dutschke bereits im Februar 1966 ein Konzept Stadtguerilla theoretisierte und dem „bewaffnetem Kampf“ somit näher stand, als allgemein angenommen. Karin Wieland beschreibt den kleinkriminellen Narzissten Andreas Baader, dessen Macht über die Frauen der RAF daraus resultiere, dass „er deren phallischen Wünsche ernst nahm“ (S. 93). Jan Philipp Reemtsma hingegen beantwortet die Frage „Was heißt 'die Geschichte der RAF verstehen’?“ vor allem mit der Beschreibung der RAF als 'attraktive Lebensform’. Man merkt diesem Aufsatz an, dass er vermutlich aus zwei Vorträgen zusammengeschrieben wurde. So ist der erste Teil des Artikels zunächst eine Auseinandersetzung mit und Kritik an Horst Eberhard Richters (vielleicht wirklich zu unkritischen) Analyse der Lebensgeschichte von Birgit Hogefeld. Im zweiten Teil stellt er diesem psychoanalytischen Vorgehen eine Handlungsanalyse gegenüber, in der er sich jedoch kaum noch auf Richter bezieht.
Reemtsma definiert bereits in der Einleitung die RAF als unpolitische „Terrorgruppe“, die „nur im Medium des terroristischen Kampfes existier[t]“ (S. 7). Abgesehen von der Frage, wie man den terroristischen Kampf als Medium verstehen soll, wird hier bereits deutlich, dass Reemtsma die RAF nicht aus sich heraus verstehen will, sondern eine ganz eigene Sichtweise zur Interpretation des Phänomens RAF heranzieht. So befasst er sich in seinem Aufsatz dann auch in erster Linie mit der RAF als attraktive Lebensform; einer Lebensform jedoch, die so attraktiv gar nicht gewesen sein kann, bedenkt man die relativ geringe Anzahl an Mitgliedern: „Manche Menschen sind gern gewalttätig, manche sind es nicht. Wer sich ohne Zwang in eine Gruppe begibt, deren selbsterklärter Daseinszweck es ist, Menschen zu töten, findet zumindest des Gedanken daran so attraktiv, daß er sich seiner Verwirklichung bis zur Tat nähert“ (S. 9). In diesem Zitat sind zwei Punkte fraglich: a) sind die Mitglieder tatsächlich „ohne Zwang“ in die RAF gegangen und b) war das Töten Daseinszweck der RAF. Und da wir es zu einem Problem, dass Reemtsma das Selbstbild der RAF und ihrer Mitglieder nicht akzeptiert. Ohnmachtserfahrungen als Motivation zum Beitritt in die RAF (die einen gewissen Zwang durchaus implizieren lassen würden) lässt Reemtsma nicht gelten. Er argumentiert hingegen mit den Machterfahrungen, die in den Anschlägen, Morden und Geiselnahmen gemacht worden sind (und unterschlägt dabei sämtliche Eskalations- und Entscheidungsprozesse, die zu einem Leben in der RAF führten sowie die Veränderung durch ein Leben im Untergrund): “Man versteht nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewaltlockung erkennt, die in der Idee eines nichtentfremdeten, authentischen Lebens liegt. Nur unter dieser Perspektive versteht man, wie es zu einem ‚Mythos RAF’ kommen konnte, wie dieser Gruppe Desperados, die sich in Brutalität und Vulgarität gefielen, die Aura des Rätsels zuwachsen konnte“ (S. 141). Reemtsmas Auseinandersetzung mit der RAF folgt bekannten Mustern: Kritisiert wird die Form (die Morde), die im Umkehrschluss auch die Motive diskreditieren. Er geht jedoch noch einen Schritt weiter, in dem er der RAF andere Motive als eine Faszination an der Gewalt abspricht. Er verkürzt dabei die Perspektive und definiert das angewandte Mittel zum Zweck.

Was fehlt der RAF in Reemtsmas Augen, um sie politisch zu nennen? Intellektuelle Tiefe? Oder die Weltdeutung? Also ist sie unpolitisch, weil sie den Auffassungen des Kritikers widerspricht? Schon 1978 wies Hermann Lübbe darauf hin, dass eine solche Entpolitisierung der RAF falsch ist:

„Als die ersten Terror-Toten auf der Straße lagen, beeilte sich ein progressiver Kommentator zu versichern, nunmehr seien die Aktivitäten unserer 'Roten Armee Fraktion’ zu 'schlichter Kriminalität’ heruntergekommen. Auf der Ebene des Strafrechts betrachtet […] ist das natürlich richtig, aber zugleich auch banal. Auf der politischen Ebene ist der zitierte Kommentar jedoch falsch. Er verharmlost den Terror, indem er ihn entpolitisiert. Schließlich sind unsere Terroristen zu Bankräubern nicht in der Absicht geworden, sich einen feinen Tag zu machen. Ihre Absicht ist, unsere Sorte von Demokratie zu liquidieren, und man kann dieser Absicht politische Qualität nicht deswegen absprechen, weil sie in der Tat extrem unrealistisch ist.

Man kann sich natürlich fragen, ob es sich nicht um eine wortgebrauchspolitisch schädliche Aufwertung des Terrors handelt, wenn man ihn 'politisch’ nennt. Ich bin nicht dieser Meinung. Die Qualität des Politischen verhält sich indifferent zur moralischen und auch zur taktisch-strategischen Qualifikation, die einer Politik zukommt. Im übrigen würde unsere Reaktion auf den Terror unverständlich, wenn er tatsächlich nichts anderes als ein Tun 'gewöhnlicher Kriminalität’ wäre“ (S. 96f.).

Momentan ist jedoch gerade dieser Versuch der Entpolitisierung wieder zu beobachten. Und so bemüht man sich – siehe z.B. den Artikel von Karin Wieland – eben das Bild von Baader zu zeichnen, das Bild des Lebemanns, des Dandys, der sich eben nur „einen feinen Tag“ machen wollte; mit Seidenhemden und Samthosen. Baader wird zum Kronzeugen der Anklage: „Unpolitisch“ heißt das vorgeblich aufklärerische Urteil. Was bewirkt dieser Urteilsspruch? Der Kleinkriminelle Baader denunziert all die, die aus anderen Motiven zur Waffe griffen und verstellt den Blick auf eine differenzierte Auseinandersetzung mit der RAF und der Gesellschaft, die sich in dieser Konfrontation herausgebildet hat. Ist das die Historisierung, die Wolfgang Kraushaar im Umgang mit der APO und der RAF fordert?
Andreas Baader gefiel sich sicherlich in der Rolle des Rebellen. Für ihn mag die RAF eine „attraktive Lebensform“ gewesen sein, weil er hier seinem Narzissmus frönen konnte. Doch es ist fatal, von ihm auf den Rest der RAF zu schließen. Viele andere hatten politische Motive, auch wenn sie uns heute absurd erscheinen. Wie stark muss die Ohnmachtserfahrung sein, dass Pazifisten zur Waffe greifen und zu Mördern werden? Dass dann auch Machterfahrungen eine wichtige Rolle spielen, sei unbestritten. Doch diese dann zur eigentlichen Motivation der Täter zu stilisieren, überzeugt nicht.

Auch von der menschenverachtenden Diktion der RAF Bekennerschreiben auf die Motivation der Terroristen zu schließen, greift zu kurz, da hier eine Verengung der Perspektiven und vermeintliche Entscheidungsalternativen im Untergrund eine Rolle spielen. Die RAF war nicht unmoralisch. Im Gegenteil: Sie war hoch moralisch, das ist das Paradoxon. Daran sieht man aber auch, wohin es führen kann, wenn der Zweck die Mittel heiligt. Das Mittel jedoch zum Zweck umzudeuten – wie Reemtsma es tut – verschließt den Zugang zum Verständnis und zur Beurteilung der RAF, die in sich sicherlich widersprüchlich und mehrdeutig sein muss. Die RAF war hoch moralisch mit zutiefst unmoralischen Folgen. Der vorliegende Band sucht aber nach der Eindeutigkeit, die keinen Platz mehr hat für Widersprüchlichkeiten kennt.

Historisierung kann keine Entpolitisierung der RAF bedeuten, aber eine Differenzierte Auseinandersetzung mit ihr. Und in einer Gesellschaft, in der allgemein der Werteverfall angeprangert wird, sollten Utopien vielleicht nicht so leichtfertig als absurd und unpolitisch abgetan werden.

Und so passen auch Wolfgang Kraushaars Ausführungen über Dutschkes Hang zur Gewalt in dieses Konzept der Entpolitisierung, denn sie suggerieren, dass er schon lange vor dem ersten Toten, schon lange vor dem Zerfall der APO, zur Gewalt aufrief. Dies schließt implizit an Reemtsmas Entpolitisierung der RAF an, denn es legt nahe, dass es der Studentenbewegung immer (nur) um Gewalt ging. Doch Kraushaars Belege sind recht dünn. Das größte Problem ist jedoch, dass Dutschke sich zwar für Gewalt gegen Sachen, nicht jedoch gegen Personen aussprach. Wenn er also im Februar 1966 ein Konzept der Stadtguerilla entwickelte, so bleibt m.E. fraglich, ob sich dies wirklich auf eine mordende RAF bezog, oder aber um eine Gruppe, die zwar in der Illegalität leben würde, aber Gewalt nur gegen Gegenstände einsetzt. Dies wäre ein gravierender Unterschied.

Christian Hißnauer

Literatur:
Lübbe, Hermann, 1978: Endstation Terror. Rückblick auf lange Märsche. In: Geißler, Heiner (Hrsg.): Der Weg in die Gewalt. Geistige und gesellschaftliche Ursachen des Terrorismus und seine Folgen. 2., durchges. Aufl., München und Wien.