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Andreas Kraß (Hg.)
Queer denken
Gegen die Ordnung der Sexualität
Suhrkamp Verlag 2003
Queer denken, so verrät uns der Klappentext dieses Suhrkamp-Bandes,
bedeute, die Vorherrschaft heterosexueller Grundmuster in unserer Kultur
zu hinterfragen - und damit auch, wie es im Vorwort heißt, "das
Instrument der staatlichen Kontrolle über die Sexualität der
Bürger". In den USA seien Queer Studies längst eine etablierte
Forschungsrichtung, von der wichtige gesellschaftspolitische Impulse ausgingen.
Offensichtlich ist das auch notwendig in einem Land, in dem die einzige
sexuelle Handlung, die in jedem Bundesstaat legal ist, "der zwischen
Eheleuten stattfindende Akt der Einführung des Penis in die Vagina"
ist. Aber dass mit diesem Sammelband zentrale
Basistexte der Queer Studies erstmals auch in deutscher Übersetzung
zugänglich gemacht werden, ist dennoch ein sinnvoller Akt sexualpolitischer
Aufklärung. Denn auch hierzulande findet eine juristische Diskriminierung
nicht-heterosexueller Praktiken statt, auch hier belästigt die Sittenpolizei
die verschiedensten Bereiche des Sexgewerbes bis hin zu Erotik-Verlagen
und auch hier wird ein sexueller Pluralismus, der beispielsweise Homo-
und Bisexualität,
Sadomasochismus und Transgender mit einschließt, gesellschaftlich
ausgegrenzt.
Kerntext dieses Suhrkamp-Bandes ist in diesem Zusammenhang der Essay "Sex
denken" der feministischen Anthropologin Gayle Rubin. Auch sie wendet
sich zunächst gegen die bestehende Sexualgesetzgebung: "Der
Staat greift routinemäßig in sexuelles Verhalten ein, und zwar
auf einem Niveau, wie es in keinem anderen gesellschaftlichen Lebensbereich
geduldet würde. Einer Mehrheit sind allerdings Umfang und Ausmaß
dieser Gesetze genauso unbekannt wie Quantität und Qualität
illegaler sexueller Verhaltensweisen und der strafende Charakter der rechtlichen
Sanktionen." Tatsächlich laufe die sexuelle Diskriminierung
und Diffamierung aber auch auf der Basis anderer Wertordnungen ab, beispielsweise
auf der religiösen oder psychiatrischen, die mal mit dem Konzept
der "Sünde" mal mit dem der "reifen Erwachsenensexualität"
und der "Perversion" arbeiten. Gute,
normale, natürliche und gesegnete Sexualität sei demnach:
heterosexuell, ehelich, monogam, zeugungsfähig, nicht käuflich,
in Paaren, in einer Beziehung, innerhalb derselben Generation, privat,
keine Pornographie, nur mit dem Körper und vanilla. Schlechte, abnorme,
unnatürliche und verfluchte Sexualität sei im Gegensatz dazu:
homosexuell, unehelich, promiskuitiv, unfruchtbar, käuflich, allein
oder in Gruppen, beliebig, zwischen den Generationen, öffentlich,
Pornographie, mit künstlichen Objekten oder sadomasochistisch. Die
Sanktionen, mit denen "schlechte" Sexualität belegt werde,
seien nicht immer staatlicher Natur: "Menschen, die sich erotisch
unkonventionell verhalten, riskieren, beruflich unvermittelbar zu sein
oder die gewählte Laufbahn nicht verfolgen zu können. Besonders
verwundbar sind die Inhaber öffentlicher Ämter oder gesellschaftlich
einflussreicher Positionen. (...) Dass von bedeutenden Persönlichkeiten
absolute Konformität gegenüber den
erotischen Verhaltensstandards erwartet wird, hält Perverse aller
Art davon ab, sich um solche Positionen zu bewerben." (Man denke
hier nur an Michaela Lindner, den Bürgermeister der
sachsen-anhaltinischen Gemeinde Quellendorf, der sich im Juli 1988 zu
seiner Transsexualität bekannte und öffentlich verkündete,
von nun an als Frau weiterleben zu wollen, woraufhin ihn seine Bürger
sofort abwählten.)
Bemerkenswert ist, dass Rubin auch bei einem Teil ihrer eigenen, der feministischen
Bewegung, solche Ausgrenzungsmanöver erkennt, insbesondere was Sadomasochisten
angehe. Vor allem der Anti-Porno-Bewegung wirft Rubin vor, selektiv Beispiele
der
SM-Bildsprache aus dem Kontext zu reißen, um Menschen damit
aufzuhetzen: "Vom Porno heißt es, er führe zu S/M-Porno,
und dieser wiederum führt angeblich zur Vergewaltigung. (...) Die
Anti-Porno-Literatur macht eine unbeliebte sexuelle Minderheit und ihre
Lektüre zum Sündenbock gesellschaftlicher Probleme, für
die sie nicht verantwortlich ist." Rubin zufolge hat "die feministische
Rhetorik (...) die beunruhigende Tendenz, in reaktionären Kontexten
wiederaufzutauchen". Zum Beispiel bediene sich Papst Johannes Paul
II. "in seiner Verurteilung von Scheidung, Abtreibung, Ehe auf Probe,
Pornographie, Prostitution, Geburtenkontrolle, ungezügeltem Hedonismus
und Lust (...) eines Großteils jener feministischen Rhetorik, die
die Reduktion von Frauen auf Sex-Objekte anprangert. Während er klang
wie die lesbisch-feministische Polemikerin Julia Penelope, erklärte
Seine Heiligkeit, dass `jemanden auf lüsterne Weise zu betrachten
bedeutet, die andere Person als sexuelles Objekt, nicht als menschliches
Wesen mit Anspruch auf eigene Würde
anzusehen´." Auch ansonsten stimme es bedenklich, wie sehr
sich insbesondere der rechte politische Flügel der feministischen
Anti-Porno-Rhetorik bediene.
Zu den anderen lesenswerten Essays dieses Sammelbandes gehören etwa
Eve Sedgwicks Essay über die "Epistemologie des Verstecks"
und das Coming-Out sowie ein Aufsatz Judith Butlers über "Imitation
und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität". Manche
Formulierungen in diesen Essays sind diskursiv etwas opak ... zu deutsch:
für den Leser sprachlich-inhaltlich unzugänglich. Ein gewisses
Vorwissen zum Thema setzen die Autoren offenbar ebenso voraus wie die
Fähigkeit, auch unübliche Fremdworte wie "Hypostasierung"
und voluntaristisch"
zu verstehen, ohne sich durch solche Bodeschwellen im Lesefluss
aufhalten zu lassen. Etwas unzufrieden bin ich mit dem dritten Teil des
Bandes, in dem verschiedene Erzähltexte einem Queer Reading unterzogen
werden, darunter etwa eine mittelalterliche Novelle und ein französischer
Roman aus dem 19. Jahrhundert. Hier hätte ich eine entsprechende
Analyse zeitnäherer und unsere Gegenwartskultur stärker prägender
Texte sinnvoller gefunden. Beides führt meines Erachtens dazu, dass
das Thema Queer Studies nur den ohnehin schon "Eingeweihten"
vermittelt wird, obwohl es doch die Gesellschaft als Ganzes angehen sollte.
Davon abgesehen ist es sicherlich zu begrüßen, wenn Suhrkamp
dieser Forschungsrichtung jetzt auch in Deutschland weiter zu Ansehen
verhilft.
Arne Hoffmann
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