MERZBOW

Marmo

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CD, 3 Tracks, im Digipack, Old Europa Café

Merzbows Veröffentlichungen haben bisweilen etwas beinahe Inflationäres: Hat man sich gerade noch an den neuen Stil des japanischen Krach-Großmeisters gewöhnt, erscheint bereits das nächste Werk. Was normalerweise ein Zeichen mangelnder Fokussierung und auch geringer Kreativität ist, mutet bei Masamo Akita eher wie ein ewiger Quell der Kreativität an.

Die vorliegende Veröffentlichung „Marmo“, was italienisch schlicht Marmor bedeutet, demonstriert erneut, dass der Künstler sich, was die Inspiration betrifft, gerne in – selbst für sein musikalisches Umfeld – ungewöhnlichen Bereichen befindet. Auf diesem Tonträger treffen zwei Gedankenströme zusammen: Erstens widmet sich Akita dem venezianischen Marmor, der in seiner nervös-ästhetischen Struktur durchaus bildhaft für die Lärmkaskaden, die Akita seit Jahrzehnten produziert, stehen kann. Zweitens sind die Namen der drei, jeweils mehr als viertelstündigen Stücke eine Anspielung auf die „Botanica Parallela“ des italienischen Autors Leo Lionni, der sich als fantasievoller und metaphysischer Botaniker verstand. Letzterer Fixpunkt in den chaotisch-geordneten Strukturen Merzbows erschließt sich nicht so leicht wie die Assoziation zu Marmor. Zugegebenermaßen: Die auffallend geschmackvolle und auch haptisch angenehm wahrnehmbare Gestaltung des Digipacks ist auch eben jenem venezianischem Marmor nachempfunden – so hat der Zuhörer visuell und fühlbar einen Fixpunkt für seine Gedanken. Lässt man sich einfach in seine Empfindungen zur Musik gleiten, so fallen einem selbstverständlich wie jedes Mal die hohe technische Raffinesse und ausgefeilte Strukturierung der Musik Merzbows auf. Seit er einen Laptop benutzt, ist die Musik allerdings wahrnehmbar kälter, sie ist weniger vital und atavistisch brutal im Gegensatz zu früher. Man ist eher geneigt, an neobrutalistische Bauten wie etwa in Buenos Aires zu denken als an prunkvolle Marmorschlösser.

Am ehesten ist es aber eine Mischung aus beidem, denn wie immer bei Akita kehrt nicht eine Sekunde Ruhe und Entspannung ein. Es ist müßig zu beschreiben, wie Merzbow klingt: Man kann diese Wand aus Ideen, Lärm und Abstraktion nur verstehen, wenn man sich ihr aussetzt – am besten selbstverständlich bei einer Live-Performance! Denn so aufregend, wie dieser Tonträger auch ist, nach einer Diskographie im dreistelligen Bereich und einer Aktivitätsspanne, die etwa 40 Jahre umfasst, ist der Meister schon ein klein wenig selbstgefällig geworden – Krach um des Kraches willen, intellektuelle Abstraktion jedwediger Themen bis hin zur gedanklichen Masturbation.

Das alles ist auf Konserve zwar so gut, dass selbst der Kritiker affirmativ nicken wird, gleichwohl fehlt die brachiale Wirkung, die einen eintauchen lässt in Akitas Gedanken und Ideen. Wie dem auch sei – ein schräges und nicht arg selbstverliebtes Werk. Der geneigte Bruitist wird allemal seine Freude damit haben.

Daniel Novak