MARS Sons of Cain Label: :Ikonen: Media Da es keinen Gott mehr giebt Friedrich Nietzsche Dieser vielzitierte Ausspruch Nietzsches steht emblematisch für das Bedürfnis des Menschen, Sinn in die Welt zu setzten. Der Kultur kommt in diesem Prozess eine Verdopplerfunktion zu, die die Leerstelle, an der Gott gestanden hatte, füllen soll. Immer wieder verbindet sie sich hierbei in ihren ästhetischen Erscheinungsformen mit mythischen Erzählungen, also jenen Ursprungserzählungen die genuin zur Orientierung des Menschen in der Welt dienen. Auch MARS wagen den Spagat zwischen kultureller und mythischer Erzählform und besingen auf ihrem Erstling „Sons of Cain“ die Dekadenz unserer Tage. Im Genre-Gewand von Neo- und Apocalyptic-Folk wählen sie die negative Historie als geschichtsphilosophische Matrix, die sich schon im Albumtitel niederschlägt. Der Bruder-Mord als Menschheitserbe: hier kündigt sich ein dunkles Album an! „Sons of Cain“ beginnt mit einer elegischen Synthesizer-Melodie, aus der sich ein sanftes Gitarren-Arppegio erhebt, das von der ruhigen gesprochenen Stimme von Sänger und Percussionist Marcus S. getragen wird. Nach einem kurzen gebetsartigen Film-Sample schlägt die Stimmung im zweiten Stück „Hymn to Mithras“ um. Rituelle Trommeln, die hypnotisch geschlagene Akustik-Gitarre von Oliver F. und der teils abwechselnd, teils unisono arrangierte Gesang der beiden Musiker erzeugen eine düstere und bedrohliche Atmosphäre. Während „Hymn to Mithras“ die mythische Dimension in der Bezugnahme auf die römische Mysterienreligion transportiert, findet der Mythos im nächsten Song „Memories“ eine sehr persönliche Interpretation. Die Zeile „Memories don’t care, if they’re good or evil – they haunt you“ verweist im Kern auf die psychologischen Mechanismen der Erinnerung, und deren unkontrollierbare Eigendynamik. So wie der Mensch keine umfassende Kontrolle über seinen Erinnerungshaushalt hat, so steht er auch im Kollektiv der Geschichte bzw. ihrer zum Mythos gewordenen Erzählung davon nicht selten ohnmächtig gegenüber. Das geistige Erbe wird dabei zur gespenstigen Hypothek. Auch die folgenden Stücke bewegen sich in der fragilen Schwebe, die durch die beiden ersten Lieder angekündigt wurde. Eher zurückhaltende Kompositionen treffen auf wummernde Percussions und düstere Soundscapes. Im sechsten Titel „(It was never the) Darkness“ gewinnt der Gesang von Oliver F. eine klagende Tiefe, die auch im Gitarrenarrangement antizipiert wird. Insgesamt gilt für das Album eine sehr harmonische Aufeinanderbezogenheit von Gesang/Text und Komposition – diese gegenseitigen Referenzen werden durch die direkte und schnörkellose Produktion, die die Band selbst erledigt hat, noch weiter unterstrichen. Einen Ausbruch aus der Dramaturgie des Albums markiert „Woodpath“, das durch eine sehr kraftvolle und mit verzerrter E-Gitarren-Stimme und mehr gerufene als gesungene Vocals eine Brücke zum Punk schlägt – eine gattungsspezifische Verwandtschaft, die auf die Anfänge (Death in June) wie aktuellen (Cult of Youth) Entwicklungen des Neo-Folks hinweist, die so häufig übersehen werden. Das Stück „Grain“ beschließt das Album mit einer melancholischen Grundstimmung, die nach einem Arpeggio und Spoken-Word Beginn in einem Mittelteil aus vereinzelten, rhythmischen Akzenten, dezenten Chören, Gitarren und minimalistischen Bass-Einsätzen aufgelöst wird. Ein kunstvoller Abschluss für das Album und gleichzeitig eines der Highlights der Platte. MARS überzeugen mit „Sons of Cain“ auf ganzer Linie und bewegen sich in ihrem Wechsel zwischen düsterem Nihilismus, schwärmerischer Melancholie und klagender Enttäuschung an der Schnittstelle der ästhetischen Dekadenz-Diskurse. Die mythische, mit dem Blick nach hinten gerichtete Erzählweise wird in diesem Zusammenhang auch zu einer Kulturkritik der Gegenwart – die sich auch in den archaischen Arrangements und der spröden Produktion widerspiegelt. Das stilvolle Artwork macht das Album perfekt. Im Angesicht des von Nietzsche beschworenen „Tod Gottes“, der heute im „Tod des Kapitalismus“ sein düsteres Surrogat gefunden hat, entfaltet sich die Sinnstiftung von MARS in der Vermittlung zwischen Vergangenheit und Zukunft; in der Pflege („cultura“) des Gewesenen als Rettung für das Kommende... Patrick Kilian |
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