|
Alan Moore, Melinda Gebbie
Lost Girls
BESTELLEN
(Cross Cult) Hardcover
Die Frage nach der Pornographie ist so alt wie die Darstellung
von Sex. Was Porno ist, wie er definiert wird und welche Zensurmaßnahmen
im Namen der Moral und der Sittlichkeit ergriffen werden, hängt immer
von den herrschenden Paradigmen und der Herrscherklasse ab. Heute hat
sich eine sehr zwiespältige Haltung eingebürgert: Pornographie
wird auf der einen Seite immer wieder bekämpft und mit Zensurmaßnahmen
belegt, wie es in den USA oder den skandinavischen Ländern der Fall
ist, oder über eine recht laxe laissez-faire Politik fast ohne größere
Hürden erhältlich gemacht. Paradox wird die Situation, wenn
man die rigiden Gesetze auf der einen Seite und die Produktionsbudgets
auf der anderen Seite besonders in den Vereinigten Staaten sieht. Die
Schranken brechen ohnehin ein: Mittels des Internets ist Pornographie
in allen Formen und Abstufungen (noch) recht frei verfügbar, Jugendschutz
ist derzeit nur angedacht und nicht effektiv ausgeführt. Was jedoch
im Namen des Jugendschutzes oftmals geschieht, sind reine marktpolitische
Absicherungen, die Pfründe einer Industrie sollen damit verteidigt
werden. So wurde unter anderem ein deutscher Provider abgemahnt, dazu
angehalten pornographische Seiten zu sperren – ausgerechnet von
einem deutschen Anbieter pornographischen Materials.
Um Jugendschutz ging es dort weniger, vielmehr um die Erhaltung
eines Marktes. Es gilt also immer noch: Was dem einen Erotik, ist dem
anderen Pornographie. Den an sich abwertenden Begriff nehmen Alan Moore
und Melinda Gebbie für sich ein und sagen offen heraus, dass ihr
Buch „Lost Girls“ genau unter diese Kategorie fällt:
„Ich halte das für weniger prätentiös als „Lost
Girls“ als „Erotica“ zu bezeichnen,“ sagt Alan
Moore. Ob nun also Erotica oder Pornographie ist unerheblich: „Lost
Girls“ von Moore und Gebbie überzeugen mit einer stimmigen
Kulisse, und einem ästhetischen Anspruch. Sex, so die Moral hinter
„Lost Girls“ kann in seiner Darstellnung auch von künstlerischer
Eleganz und einer reichen Sinnlichkeit geprägt sein, auch oder vielleicht
gerade in einer sehr offenen Darstellung. Die Protagonistinnen setzten
sich dabei aus bekannten literarischen Figuren zusammen: Alice aus den
Büchern von Lewis Caroll ist die treibende Kraft hinter den erotischen
Eskapaden, ihr gesellt sich noch Dorothy aus dem Zauberer von Oz sowie
die anfangs etwas prüde Wendy aus Peter Pan hinzu. Aus dem Werk von
James Matthew Barrie stammt auch der Titel des drei Bände umfassenden
Werkes: Wie die Lost Boys sind auch die Lost Girls ganz in ihrer sinnlichen
Welt verloren, in einem Hotel mit dem sprechenden Namen Himmelsgarten
frönen sie kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs nur ihrer Lust,
ihren eigenen Neigungen.
Dabei greifen Moore und Gebbie auf die drei Werke zurück,
aus denen die Damen entsprungen sind und füllen die Nicht-gesagten
Stellen der entsprechenden Bücher aus. Die Coming-Of-Age-Geschichten
über Alice hinter den Spiegeln, den Zauberer von Oz und Peter Pan
werden uminterpretiert, ganz im Sinne Freuds, in eine sexuelle Initiation.
Zudem greifen die beiden Autoren auf eine Geistesgeschichte voller sündiger
Abenteuer zurück, ebenso in Text wie Bild: Oscar Wilde, Egon Schiele,
Aubrey Beardsley und viele weitere werden in diesem eklektischen Werk
harmonisch miteinander verbunden, immer die reine Sinnlichkeit, die haptische
Körperlichkeit der jeweiligen Künstler vor Augen. Lost Girls
ist aber mitnichten zusammengeflickte Zitatenware, sondern ein breit gefächertes
und ebenso intelligentes Werk voller Anspielungen. Doch funktionieren
die Bände auch ohne interpretatorische Leistungen und können
als reine szenenhafte Pornographie goutiert werden. Ein gewagtes Projekt
– ob nun Pornographie oder nicht scheint unerheblich, denn die Frage
ist vielmehr, ob man sich auf die schwelgerische Kunst einlassen will.
Am Ende nämlich – und auch das macht „Lost Girls“
klar – steht nach dem Eros der Thanatos. Sinnlichkeit ist nur ein
ephemerer Ausstieg, der von der Realität eingeholt wird: Jeder Genuss
hat seinen Preis.
Martin Kreischer
Die Illustrationen wurden freundlicherweise vom
Verlag zur Verfügung gestellt.
|