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Emmanuel Carrère
Limonow
Matthes & Seitz, Berlin 2012.
414 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN: 978-3-88221-995-1
Preis: 24,90 € / 33,90 CHF
Der weiße Schutzumschlag kündigt es bereits
von Weitem an: Dieses Buch ist ein Sprengkörper. „Limonow“
ist eine Romanbiographie über den provokanten russischen Intellektuellen
Eduard Limonow (geb. 1943). Limonow, der eigentlich mit bürgerlichem
Namen Eduard Weniaminowitsch Sawenko heißt, hat sich diesen Namen
selbst gegeben. Als Blending verbindet er die Begriffe „limon“
(Limone) und „limonka“ (Handgranate) und verweist damit gleich
auf zwei Haupteigenschaften seines selbst gewählten Trägers:
seinen bitteren Humor und seinen unbedingten Willen sein eigenes Leben
wie einen Roman zu schreiben – und dazu gehört es eben auch
seinen Protagonisten selbst zu benennen. Limonow ist in seinem Leben vieles
gewesen: Außenseiter, Revolutionär und obsessiver Liebhaber.
Emmanuel Carrère, der sich diesem enfant terrible
der internationalen Schriftsteller-Szene nun mit einem aufsehenerregenden
Buch gewidmet hat, nimmt gleich in der Einleitung eine Aufzählung
der Lebensstationen seines Helden vor: „Limonow dagegen war ein
Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds,
Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller
in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt,
in diesem heillosen Chaos des Postkommunismus, ist er der alte, charismatische
Chef einer Partei von jugendlichen Desperados.“ (S. 26). Diese Liste
ist erweiterbar – Limonow hat alles gemacht, ist überall gewesen
und hat jeden gekannt, sogar Carrère selbst, der nun zu seinem
Biographen wurde, ist ihm kurz begegnet. Sehr tief hat sich diese Begegnung
in die Erinnerung Carrères eingebrannt und sich wie eine Infektion
ausgebreitet. Nach einer gewissen Inkubationszeit steht als Ergebnis nun
dieses Buch, das genau wie sein Protagonist ein intellektuell-ansteckender
„Sprengkörper“ geworden ist – hier vollzieht Carrère
eine huldigende imitatio. Der Roman berichtet jedoch wesentlich mehr als
Limonows Leben und wurde zu einer Geschichte über Ost und West, über
verschiedene intellektuellen Welten, über die Kriege in den ehemaligen
sowjetischen Satelliten, über Russland und auch über Wladimir
Putin.
Carrère nähert sich seinem Protagonisten, von
dem er sich über das gesamte Buch hinweg nicht entscheiden kann,
ob er nun Held oder Anti-Held seiner Geschichte sein solle, durch intensive
Recherche. Vier Jahre lang hat er das Leben des Skandalschriftstellers
studiert, ihn mehrfach interviewt und vor allem eines: er hat seine Bücher
gelesen. Limonow schrieb stets über sich selbst und machte sich zum
unangefochtenen Helden seiner Bücher, ob als Verlierer oder Gewinner
spielte dabei keine Rolle. Schon sein erster Roman von 1976 „Fuck
off, America“ folgt dieser Logik, nach der Limonow sein eigenes
Leben als Erzählung organisiert. Gewissermaßen als Prototyp
für Paul Ricœurs Theorie der „narrativen Identität“
ordnet Limonow sein Leben in der Rückschau, um sich selbst in der
Gegenwart zu verorten und für die Zukunft auszurichten. Seine Identität
wird dabei zur Narration und von ihm einer selbstgeschriebenen Plot-Struktur
untergeordnet. Ganz im Sinne Machiavellis wirft sich Limonow stets mit
aller virtù (Tugend/Tüchtigkeit) gegen die fortuna (Zufall/Schicksal)
der Welt, um deren Geschicke zu seinen Gunsten zu wenden. Nicht zuletzt
will er damit die Kontrolle über seine Geschichte behalten und sich
als auktorialen Erzähler seiner selbst beweißen.
In einem Akt der Überschreibung verfasst Carrère
Limonows Geschichte nun erneut. Er setzt seinen Roman wie ein Palimpsest
über dessen Erzählung und reichert sie mit Kommentaren und Bewertungen
an. Immer wieder schaltet er sich selbst in die Erzählung ein und
versucht sich seinem Helden über die eigene Biographie, oder ihre
gemeinsame Begegnung zu nähern. Carrère berichtet von eigenen
Erlebnissen, von seinen Anfängen als junger Filmkritiker, wie zum
Beispiel einer für ihn wichtigen Begegnung mit Werner Herzog in Cannes
(S. 188ff), die scheinbar nichts mit Limonow zu tun haben, für ihn
jedoch unweigerlich auf ihn verweisen. In seiner Überschreibung alteriert
er dabei zwischen Auslöschung und Mystifizierung, ohne sich jedoch
einer Seite hinzugeben. Kult und Ikonoklasmus sind bei Carrère
nur millimeterweit von einander entfernt und wechseln von Satz zu Satz.
Mit diesem Drahtseiltanz ist es ihm gelungen Limonows Leben, das stets
dasjenige eines Grenzgängers gewesen ist, nachzufühlen und erzählerisch
greifbar zu machen.
Carrère schreibt aber auch die Geschichte der in
sich zusammenbrechenden Sowjetunion, die Limonow als Söldner auf
dem Balkan, und als revolutionärer Unruhestifter mit seiner links-/rechtsextremen
Nationalbolschewistischen Partei Russlands begleitet hat. Gerade in dem
Kapitel in dem Limonows aktives Engagement für Serbien und seine
Sympathie für den ungeheuerlichen Radovan Karadic thematisiert
wird, oder Carrère von einer Fernsehdokumentation berichtet, die
den Schriftsteller beim Abfeuern einer MG auf die Stadt Sarajewo zeigt,
tritt die Biographie zugunsten einer historischen Kontextualisierung zurück.
Carrère versucht seinen Helden zu retten, der ihm soviel Schwierigkeiten
macht, will erklären und verweigert sich letztlich dennoch jeder
Form der Relativierung. An diesem Punkt ließ er die Arbeit an dem
Buch für ein ganzes Jahr ruhen. Er gesteht sich seines Helden geschämt
zu haben, der wie „ein kleiner Junge“ inmitten der ganzen
Kriegsverbrecher „den starken Kerl markiert“ (S. 271). Aber
er macht weiter und erzählt von Limonows politischer Karriere in
Russland, dem Ende Boris Jelzins bis zu dem Aufstieg Wladimir Putins,
in dem Carrère eine Art Anti-Limonow zu erkennen glaubt.
„Limonow“ ist ein großes Buch und
vollkommen zu Recht 2011 in Frankreich mit dem „Prix Renaudot“
und dem „Prix de la langue française“ ausgezeichnet
worden. Carrère ist das Portrait eines Mannes gelungen, der von
sich selbst gesagt hat, er „gehöre zu den Leuten die nirgendwo
verloren sind“ (S. 378) – Limonow hat sich überall zu
Hause gefühlt und auch fast überall gelebt: Moskau, New York,
Paris und immer wieder in der Einöde heruntergekommener Vorstädte.
Seine Biographie bildet dabei ein Netz, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts
in besonderer Weise verknüpft und Krieg, Literatur, Kommunismus,
Kapitalismus, Untergrund und sogar Punk in gemeinsamen Knotenpunkten verbindet.
Carrère hat diese Geschichte, die Limonow aus seinem Leben geformt
hat, neu erzählt und mit seiner eigenen Biographie überschrieben.
Angesteckt von seinem Protagonisten beginnt sich nun auch Carrères
Leben in eine Narration zu verwandeln, in der er sich seiner Identität
in Relation zu Limonow versichert. Indem sich Carrère mit seinem
Roman selbst in Limonows Erzählung einschreibt, wechselt er von der
Beobachter- zur Teilnehmerperspektive, in einer Geschichte, in der Fiktion
und Realität schon lange die Plätze getauscht, und sich in ihr
gegenseitiges Double verwandelt haben. Nachdem „Limonow“ –
die zitronensaure Granate – letztes Jahr in Frankreich explodiert
ist, liegt das Buch nun bei Matthes & Seitz vor, um auch hier einzuschlagen.
Ein großartiges Buch, das nicht nur eine Biographie, sondern auch
zu seiner eigenen Reflexion geworden ist.
Patrick Kilian |