La Orca
Label: Camera Obscura
Laufzeit: 99 Min.
Regionalcode: 2
Produktionsjahr: 1976
Produktionsland: Italien
Regie: Eriprando Visconti
Bildformat: 1.85:1, 16:9 Anamorphic Widescreen
Ton: Italienisch, Deutsch (Dolby Digital 2.0)
Untertitel: Englisch, Deutsch
Extras:
Audio-Interview von Christian Keßler mit Rena Niehaus
Featurette „A.K.A. Prandino“
Featurette „Dissecting La Orca“
Trailer (Italien, Deutschland)
Foto-Galerie
Booklet von Marcus Stiglegger
Welche Beziehung entsteht bei
einer Entführung, wenn Kidnapper und Opfer lange auf engstem Raum
miteinander leben müssen? Wie verhält es sich, wenn der Kidnapper
ein Mann und das Entführungsopfer eine Frau ist? Gibt es Entführungen,
bei denen die klassische Rollenverteilung von Täter und Opfer nicht
mehr eindeutig bestimmt werden kann? Auf Überlegungen wie diesen
basiert Eriprando Viscontis Film „La Orca“.
Die junge Alice, Tochter aus wohlhabendem Hause, wird auf
ihrem Schulweg von drei Männern entführt. Das Lösegeld,
das die Täter von Alice' Eltern fordern, wird nicht gezahlt. So beginnt
für das Mädchen eine wochenlange Gefangenschaft, in der sie
schließlich begreift, dass nur sie selbst sich helfen kann. Sie
startet ein Spiel der Verführung mit ihrem Bewacher Michele, der
sich sehr von ihr angezogen fühlt...
Der reißerische deutsche Zusatztitel von „La
Orca“ - „Gefangen, geschändet, erniedrigt“ - rückt
den erstaunlich ruhigen Film zu Unrecht in die Nähe exploitativer
Genrekollegen der damaligen Zeit. Wie Marcus Stiglegger in seinem der
DVD beigefügten Kurzessay feststellt, „wird Alice zwar gefangen
und erniedrigt, nicht jedoch explizit geschändet“. Vielmehr
thematisiert der Film die historische Welle von Entführungen, mit
denen Italien in den siebziger Jahren zu kämpfen hatte, und legt
den Fokus der Geschichte auf die Beziehung zwischen einem Entführungsopfer
(Alice) und dessen Aufpasser (Michele).
Der Film scheint zunächst eine klischeehafte Männerphantasie
zu befriedigen: So unterliegt die hübsche, ans Bett gefesselte, leicht
bekleidete Frau ganz den Regeln ihres maskulinen Entführers. Jedoch
dient diese Exposition lediglich als Basis für einen radikalen Bruch
mit den Erwartungen des Zuschauers. Je mehr Michele der Verführung
durch Alice erliegt und sich in sie verliebt desto mehr verliert er seine
Souveränität und entwickelt sich zu ihrem Sklaven. Alice, die
sich scheinbar in einem sprichwörtlich gewordenen Abhängigkeitsverhältnis
zu Männern befindet – die Entführer auf der einen und
ihr nicht kooperierender Vater auf der anderen Seite – , erweist
sich letztlich als die autonomste und stärkste Person im Film. Die
Kidnapper, allen voran Michele, geraten so paradoxer Weise zu den tragischen
Figuren der Geschichte, und besonders in dem tief-taurigen Endbild des
Films kommt diese Tragik unverstellt zum Ausdruck.
Mit „La Orca“ legt Camera Obscura die Nr.4 der
„Italian Genre Cinema Collection“ vor, die sowohl in Sachen
Bild- und Tonqualität als auch besonders durch ihr Bonusmaterial
überzeugt: Neben dem informativen Booklet von Marcus Stiglegger und
solchen Standardbeigaben wie Trailer und Foto-Galerie beleuchten zwei
ausführliche Featurettes die Hintergründe des Films. „A.K.A.
Prandino“ dient dabei quasi als Poesiealbum des Filmemachers Corrado
Colombo, der sich an „La Orca“-Regisseur Eriprando Visconti
(den Neffen des großen Lucchino Visconti) erinnert. In „Dissecting
La Orca“ fasst der C.O.-Routinier und leider inzwischen verstorbene
Filmhistoriker Antonio Bruschini die wichtigsten Eckdaten, Themen und
Querverbindungen rund um „La Orca“ in gewohnter Qualität
zusammen.
Das eigentliche Herzstück dieser DVD ist aber das
Audiointerview von Christian Keßler mit der deutschen Hauptdarstellerin
Rena Niehaus. In dieser Unterhaltung, die sich über die gesamte Spielfilmlänge
erstreckt, erfährt der Zuhörer so gut wie alles über die
Karriere von Niehaus im Allgemeinen (so z.B. ihre Arbeit mit Alberto Lattuada,
ihre Erinnerung an Eriprando Visconti und ihre Beinahe-Kollaboration mit
Pier Paolo Pasolini für seinen Klassiker „Salò“)
und ihre Darstellung in „La Orca“ und dessen Fortsetzung „Oedipus
Orca“ im Speziellen. Die ohnehin schon hervorragende Präsentation
des Films wird durch diese Fülle an Zusatzinformationen perfektioniert.
Inzwischen kann man sich darauf verlassen: Der Name
Camera Obscura bürgt für Qualität. Bei „La Orca“
ist das nicht anders – ein Klassiker des italienischen Genre-Kinos
in einer makellosen Veröffentlichung. Jeder Filmsammler kann wie
immer bedenkenlos zugreifen.
Kai Naumann
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