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GEH UND SIEH / KOMM UND SIEH
4,5 / 5 Sterne
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Anbieter: cestorm Entertainment
OT: Idi i smotri
UdSSR 1985
f 146 Min. (UdSSR: 142 Min, USA: 140 Min)
R: Elem Klimow
nach Adamowitschs Roman „Stätten des Schweigens“
Bereits vor einigen Jahren ist dieser russische Filmklassiker
beim amerikanischen Label KinoVideo (New York) erschienen, und zwar mit
zahlreichen Bonusdokus, Interviews und einer deutschen Untertitelung,
sowie einer schlechten englischen Synchronisation, die man getrost ignorieren
konnte. Nun liegt der Film auch in Deutschland vor, zwar ohne Bonusmaetrial,
aber immerhin einer soliden Untertitelung und unzensiert.
Idi i smotri ist der einzige Film des renommierten
russischen Filmemachers Elem Klimow, der 1985 ohne staatliche Auflagen
und Behinderungen in den Kinos gezeigt werden konnte. Wie Agonia (1978-1984),
jenes zunächst verfemte Werk Klimows über den Untergang der
Zarendynastie wenige Jahre zuvor, ist Idi i smotri ein historischer Film,
genauer ein Kriegsfilm aus der Sicht eines pubertierenden Jungen. Basierend
auf einer Romanvorlage von Aleksej Adamovitsch erzählt er die erschütternden
Erlebnisse dieses Jungen Florja (Aleksej Kravcenko) im Weißrussland
des Zweiten Weltkrieges. Die deutschen Truppen befinden sich auf dem Rückzug
und richten im Rahmen einer 'Politik der verbrannten Erde’ verheerende
Massaker unter der Zivilbevölkerung an.
Florja findet ein Gewehr und will sich fortan der
Partisanenbewegung anschließen. Doch die Partisanen nehmen den Jungen
nicht ernst und lassen ihn im Lager zurück. Dort begegnet er dem
älteren Mädchen Glascha (Olga Mironowa). Beide kommen sich zögern
dnäher, erleben jedoch bald die Vernichtung des Partisanenlagers
durch deutsche Bomben und entkommen den Fallschirmjägern nur knapp.
Zusammen mit Glascha will Florja seine Familie aufsuchen, doch das Haus
scheint verlassen. Hinter dem Haus finden sich nur noch deren Leichen.
Florjas Odyssee führt ihn ins Moor, wohin sich einige Flüchtlinge
zurückgezogen haben, und schließlich in ein Dorf, dessen Bewohner
von der Waffen-SS in einem zusehends eskalierenden Massaker gedemütigt
und vernichtet werden. Die Menschen werden in einer hölzernen Kirche
zusammengetrieben und verbrannt. Neben Florja bleibt nur eine bettlägerige
alte Frau am Leben, die auf der Dorfstraße zurückgelassen wird.
Um Jahrzehnte gealtert, mit tief zerfurchtem Gesicht, findet Florja zu
den Partisanen zurück, die nun ihrerseits die SS-Soldaten exekutieren.
Florja gehört nun zu den Männern und muss selbst erleben, wie
sich ein Junge dem Trupp anschließen will.
In einer drastischen Sequenz gegen Ende des Films schießt Florja
mit seinem Gewehr auf ein im Schlamm zurückgelassenes Hitler-Plakat.
„Hitler der Befreier“ steht darauf in russisch geschrieben.
Zu den Schüssen sehen wir eine chronologisch rückwärts
verlaufende Montage aus dokumentarischen Kriegsbildern, Eindrücken
aus Hitlers Kariere, dem Krieg, dem Holocaust und am Ende aus Hitlers
Kindheit. Als Florja so dem Kleinkind Hitler in die dunklen Augen blickt,
verharrt er, als fragte er sich unwillkürlich: Woher kommt das Böse
in der Welt, wann beginnt es? Habe ich das Recht, es bereits kurz nach
seiner Geburt zu richten? Der letzte Schuss bleibt aus.
Weniger einen Film über den Zweiten Weltkrieg
habe er machen wollen, betonte Klimow in Interviews immer wieder, sondern
einen ganz grundsätzlichen Film über den Krieg. Idi i smorti
kam heraus, als sich der Kalte Krieg zwischen Russland und den USA auf
einem neuen Höhepunkt befand. Das Wettrüsten ließ einen
atomaren Angriff immer wahrscheinlicher erscheinen. Man erlebte eine Stimmung
des latenten Krieges, der Angst und Verunsicherung, die Klimow in seinem
nur auf dem ersten blick historischen Film Bild werden lässt. Idi
i smotri mag den Krieg dokumentieren, doch zugleich macht er ihn auf intensive
Weise spürbar, schlägt zudem einen fast spirituellen Ton an,
wenn die Kamera am Ende den Partisanen ins Dickicht folgt, sie verliert,
wiederfindet und schließlich einen letzten Blick gen Himmel richtet.
Auch der biblisch anmutende Titel („Komm und sieh (das Paradies)...“)
verweist auf diese Dimension.
Während Klimows Film weltweit als gelungener
Antikriegsfilm gefeiert wurde, gab es auch immer wieder kritische Stimmen
(etwa in Deutschland), die jene naturalistische Drastik der Gewaltdarstellung
in Frage stellten. In den Antinazi-Filmen der Kriegsjahre galt die rückhaltlose
Darstellung von Kriegsgräuel im russischen Film als akzeptabel, doch
1985 war kaum jemand auf solch drastische Bilder von Blutvergießen,
Brandschatzung, Vergewaltigung und Irrsinn gefasst. Zweifellos liegt die
Barbarei hier vor allem auf Seiten der deutschen Invasoren, die sich dekadent
(mit einem Lemuren auf der Schulter und Prostituierter an der Seite) und
völlig verroht (mit Stahlhelm und dreckigem Unterhemd, trunken und
scherzend angesichts des Leids) ihrem Vernichtungshandwerk widmen. Doch
mitten im Massaker sehen wir einen SS-Mann weinend zusammenbrechen, später
findet Florja die Prostuierte, die vergewaltigt und schwer verwundet zurückgelassen
wurde – einer der Partisanen will die gefangenen SS-Leute gar lebend
verbrennen. Klimow ist nicht an einer Dämonisierung des einstigen
Feindes gelegen, er zeigt vielmehr, wie der Krieg aus allen Beteiligten
Bestien macht.
Als historisch orientierter Genrefilm will Idi i
smotri erst gar nicht funktionieren, wodurch er gelegentlich Andrej Tarkowskis
Iwans Kindheit ähnelt: Er vermeidet jede Objektivierung und semidokumentarische
Kennzeichnung. Wir erfahren nichts über konkrete Orte, Fronten oder
Ereignisse. Auch wenn er den SS-Kommandanten nach einem historischen Nazi,
namentlich SS-Oberführer Oskar Dirlewanger, gestaltet, und die Soldaten
tatsächlich von Deutschen dargestellt werden, spielt das letztlich
keine Rolle für den Film. Was geschieht, ist unmittelbar und existenziell
auf die Sicht und das Leben des Jungen Florja bezogen, der durch diese
Ereignisse traumatisiert wird. Die subjektive Darstellung hier geht so
weit, dass wir mit Florja beim ersten Bombenangriff das Gehört verlieren
und nur das Tinnitus-Fiepen mit dumpfen Geräuschen wahrnehmen. Das
hält der Filme lange durch, erst allmählich kehrt die natürlich
Wahrnehmung in den Filmton zurück. Steven Spielberg orientierte sich
in seiner Schlachtsequenz aus Saving Private Ryan (1996) an dieser Inszenierung,
wenn er dabei auch weit weniger konsequent vorging. Dabei verzichtet Klimow
auf jeden Pathos: In diesem Krieg gibt es keine Helden, die meisten sterben
schnell und banal, enden als nacktes und zerrissenes Fleisch im Schlamm.
Lediglich eine einsame Kuh findet einen langen blutigen Tod im nächtlichen
Hagel der Leuchtspurmunition. Man erzählt, Klimow habe die in Deckung
verharrenden Schauspieler mit echter Munition beschießen lassen.
Auch die Kuh sei dabei tatsächlich durchlöchert worden und habe
ihren letzten Atemzug in das Gesicht des jungen Hauptdarstellers gehaucht,
der von einem Psychologen vor Ort betreut werden musste.
Wie in dem thematisch ähnlich gelagerten Roman
The Pinted Bird (1965) von Jerzy Kosinski bedient sich Klimow in Idi i
smotri einer ausgeprägten Natur- und Tiermetaphorik, die die Ereignisse
kommentiert und zum Teil vorwegnimmt. So taucht während des Näherkommens
zwischen Florja und Glascha im Wald ein Storch auf, Florja dagegen zertritt
ein Vogelnest, und die Fliegen im Haus seiner Familie verweisen auf die
Nähe des Todes. Auch die Sequenz mit der sterben Kuh ist hier aufzuführen.
Stilistisch vertraut Klimow ganz auf die nahezu beklemmende Enge des ungewöhnlichen
Academy-Bildformates (4:3), das den Blickwinkel gezielt eingrenzt und
die subjektive Natur der Darstellung unterstreicht. Die Farben sind erdig
und ausgeblichen, hinterlassen fast den Eindruck von Schwarzweißmaterial.
Auch Musik wird nicht illustrativ, sondern meist kontrapunktisch oder
psycho-physiologisch manipulativ eingesetzt. So werden Musikstücke
collagenhaft eingespielt, wenn Glascha im Wald tanzt (Charleston) oder
wenn die deutschen Fallschirmjäger kommen (ein deutsches Lied). Die
elektronischen Drone-Akzente auf der Tonspur kann man eher dem ausgefeilten
Sounddesign des Films zurechnen, der kein Mittel ungenutzt lässt,
um seinen Zuschauer mit allen Sinnen zu packen. Dieses radikale Vorgehen
garantierte dem Film eine ästhetische Alterslosigkeit und bleibende
Aktualität, ließ ihn zudem zu einem wichtigen Einfluss für
spätere Filme werden, sei es zum Thema Krieg allgemein (Steven Spielberg,
Terence Malick) oder zur Holocaust-Thematik im speziellen. Zudem steht
er mit der subjektiven Erzählung vom Kind in den Wirren des Krieges
in einer osteuropäischen Erzähltradition, die mehrere Romane
(Dieter Noll, Adamowitsch, Kosinski) und Filme (Tarkowski) umfasst. Insgesamt
betrachtet dürfte es jedoch seitdem kaum einen Spielfilm geben, der
die beklemmende Intensität von Idi i smotri erreicht.
Marcus Stiglegger
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