Klangkunst 2005 * Various Artists Oscotarach (Deafborn ecords 2005) 2 x 12" Der Dichter und Liedermacher Leonard Cohen erzählt in seinem Roman "Schöne Verlierer" eine alte indinaische Legende: "Hier lebte Oscotarach, was Kopf-Aufbohrer bedeutet. Es war seine Aufgabe, bei allen, die vorbeigingen, das gehirn aus dem Schädel zu entfernen, 'als notwendige Vorbereitung auf die Unsterblichkeit'." Das deutsche Label Deafborn hat sich diese Idee zum Aufgangspunkt genommen für eine vierteilige Darkambient/Industrial-Compilation auf zwei LPs, die vier deutsche bzw. schweizer Klangkünstler zur Entfaltung bringt. Es beginnt mit Skalpell, einer neuen Ambienthoffnung, die auf zwei langen, epischen Dronetracks eine düster-bannende Atmosphäre entfalten, die dann trancig-rituelle Rhythmen gebiert... Carsten Vollmer dagegen geht weit experimenteller vor: Mit Konkretsounds und komplexen Collagen entfaltet er einen Soundtrack zum Alltag im Industriezeitalter. das klingt allerdings über weite Strecken sehr nach Störgeräuschen und CD-Schaden, so dass sich Ambient-Puristen angewidert abwenden dürften. Mirko Hendtrichs Projekt Spherical Disrupted bewegt sich souverän zwischen Darakmbientsphären und Illbient-Noise-Sounds, wobei auch zahlreiche Fieldrecordinngs zu Einsatz kommen und oft der reine Klang im zentrum steht. Am ehesten einem Industrial/Information-War-Konzept verüpflichtet sind Hidden Technology, die neben tieffrequenten Klängen vor allem Samples und auch Stimmen verwenden, wobei sie eine differnzierte sicht der medienbeeinflussten Gegenwart erzeugen. Old School Cut-Ups sind die Devise... "Oscotarach" ist eine vielschichtige, auch ästhetisch ansprechende Compilation geworden, die die gesamte Bandbreite atmosphärischer, ambienter und experimenteller Musik aufbietet. Das wird niemals langweilig und kann in den besten Momenten als bewusstseinserweiternd und visionär bezeichnet werden. Marcus Stiglegger * Shinkiro Deep Blue Athanor 2005 8 Tracks - plus MCD 4 Tracks (lim 500) Manche Labels zeichnen sich durch eine erstaunlich Verlässlichkeit aus. Das liegt nicht notwenidger daran, dass sie beständig ein bestimmtes Genres und damit einen bestimmten Markt bedienen, sondern vielmehr, dass sie bei stilistischer Varianz immer wieder Entdeckungen auf hohem Niveau herausbringen, deren Zusammenwirken ein größeres Bild hinterlässt. Das französische Label Athanor gehört zu diesen Insitutionen, die sich über Jahre einen sehr guten Ruf im experimentellen Underground erarbeitet haben. Von neuer Folkmusik bis hin zu atmosphärischen Ambientsoundtracks, von okkulter Ritualmusik bis zu martialischen Inustrialrhythmen kann man sicher immer neu überraschen lassen. Alte Bekannte (wie Ain Soph) zählen ebenso zu den Labelbands wie vergleichsweise Neuentdeckungen. Zu letzteren zählt der Japaner Shinkiro aus Osaka, der mit "Deep Blue" sein Debüt veröffentlicht. Inspiriert von seiner futuristisch anmutenden Heimatstadt und den finsteren wassern des Yodo-Flusses konstruierte er abstrakte Klanglandschaften, die von minimalistischen Rhythmen, hallenden Metallklängen und sphärischen Drones durchzogen sind. Sinnliche japanische Frauenstimmen kommen aus dem Unbekannten und verschwinden wieder. Obwohl dieses Ambiente durchaus seine Geheimnisse birgt, wird die Stimmung nie wirklich beklemmend. Ihr eignet vielmehr eine Leichtigkeit und verspieltheit, die aus diesem Genre ungewöhnlich anmutet. Das schön gestaltete Digipak arbeitet mit stark stilisierten Unterwasser-Bondage-Motiven (!, siehe oben). Diese submarine Assoziation erklärt zugleich das zeitlupenhafte, das sich im ersten Track faszinierend ausbreitet. Den ersten 500 CDs liegt noch eine Remix-Maxi bei, auf der die belgischen Hybryds vier Stücke umstrukturiert haben. Obwohl hier rituelle Strukturen dominieren, wurde die Handschrift von Shinkiro bewahrt. Wer 'wahre' Ambientmusik als Projektionsfläche verschlungener Gedankenbilder sucht, liegt bei Shinkiro genau richtig... Marcus Stiglegger * Sala shcut ente Ring worts (Autarkia 2005) CD 2 Tracks en:trance (Autarkia 2005) CD 2 Tracks Zwei neue Ritual-Alben von Sala liegen nun als limitierte (500) und im Specialcase verpackte CDs vor. Kosequent entwickeln die Klangkünstler ihre Sounds über jeweils lange Passagen von über 30 Minuten, wobei Stimme, monotone Trommeln, Konkretsounds, Keyboards und Drones zum Einsatz kommen. "shcut ente Ring worts" ist dem verstorbenen Jhonn Balance gewidmet und beschäftigt sich mit Traumzeit und Visionen, wobei die zweite Hälfte wohl von William S. Burroughs inspiriert ist ("Last Words of Hassan Sabbah"). Während auf ersterer CD der monotone Ritualcharakter überwiegt, bedient sich "en:trance" einer größeren Varianz an Mitteln: gequälte Schreie, ekstatisches Trommlen, industrialorientierte Noiselemente (wen auch dezent) werden hier zu einem intensiven Klanggebilde verdichtet. Sehr gelungen. Beide CD weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem frühen L.A.Y.L.A.H.-Platten auf, speziell zu Current 93's "Lashtal"-Single und "Nature Unveiled". Marcus Stiglegger * Miles Faber Next Age Songs for Marching Armies (Fugur Music / Tesco 2005) CD 8 Tracks Beachtet man nur Titel und Songs dieser eigenwilligen CD, landet man umgehend auf der falschen Spur: was wie ein Trendprodukt der Military-Pop-Welle klingt ("Songs for Marching Armies") bietet schon visuelle einen deutlichen Widerspruch: leuchtendes rot und psychedelische Muster sprechen die Sprache des Pop. Miles Faber erinnert zwar an Jumi Tenor, ist aber ein ambitionierte KlangkünstlerIN aus New York City. "No samples were used..." steht deutlich im Innencover, und das Klangbild, das sich hier entfaltet, verschmilzt mit streng elektronischen Mitteln Minimalelektro, Old School-Industrial, Trance und Soundtrackmusik zu einer höchst persönlichen Mischung, zu der sich gelegentlch einige Lagen symphonischer Frauengesang gesellen. Mit anderen Worten: Wer hierbei an die Tonspur von GHOST IN THE SHELL denkt, kommt der Wahrheit nah... Es erscheint mutig und ambitioniert von Tesco Distribution, einem primär 'konservativen' Industrialpublikum diesen 'Futuresound of New York' anzubieten, doch es könnte funktionieren. Für sich betrachtet funktioniert Miles Fabers Musik zumindest ziemlich gut. Wer sich einen Eindruck verschaffen will: www.fulgurmusic.com. :ms: * Desiderii Marginis The Evergreen Tree (Kaosthetik Konspiration 2005) LP 6 Tracks Das schwedische Ritual/Ambient-Projekt Desiderii Marginis, das sonst auf dem bekannten Cold Meat Label veröfentlicht, ist in den letzten Jahren durch die gelungene Mischung unterschiedlicher Strömungen und Genres aufgefallen: aus Darkambientdrones, Ritualtrommelpassagen, Folkgitarre, Samples und Konkretsounds entsteht hier eine eklektische Klangwelt, die sich den genannten Kategorien beständig entzieht, ohne sie letztlich zu dekonstruieren. Die sechs Stücke auf "The Evergreen Tree" entfalten einen hypnotischen Sog, der vor dem Hörer eine mythische, düstere Welt entstehen lässt. Obwohl das vorliegende Werk als "Konzeptalbum" bezeichnet wird, finden sich nur wenige Hinweise auf die eigentliche Thematik. Covergestaltung und Titel lassen jedoch auf einen tiefgründigen Naturmystizismus schließen, der auf verschiedenste Weise ausgelotet wird. Insofern haben wir es mit einem düster-ästhetischen und spannenden Tonträger zu tun. Das letzte Stück "The vale of tears" stammt ursprünglich von einer Ambient-Compilation (Bleak Records 2001), könnte also dem geneigten Fan bekannt vorkommen. Es fügt sich jedoch nahtlos ins Gesamtwerk. Fazit: Eine gelungene Miniatur, die die drei vorangehenden CDs gelungen ergänzt. CD * Herbst9 Buried under Time and Sand (Loki 2005) 10 Tracks, erste 100 mit DVD Im Rahmen ihrer Performance auf dem Wave-Gotik-Treffen 2005 in Leipzig flimmerte über der Band Inade der Begriff "Audio Mythology" über die Leinwand. Ebensogut hätte er im Rahmen des vorangehenden Auftrittes von Herbst9 erscheinen können - es ist das Konzept des Labels Loki mit seinen wenigen - aber durchweg faszinierenden - Bands, sich mittels Klangkunst und düster-atmosphärischer Ambient/Ritualmusik vergessenen Mythen zu nähern und diese über den Weg der auditiven Kunst spürbar zu machen. "Begraben unter Zeit und Sand" ist der programmatische Titel des dritten CD-Werkes von Herbst9, das zugleich deren komplexestes und reifstes ist. Eine musikalische Reise zur "Wiege der Menschheit", nach Assur, Babylon und Sumer breitet sich hier 10 spannenden Farcetten aus. Zu jedem Track findet sich ein assoziativer Text im Booklet, der verschüttete, untergegangene Städte beschwört, vergessene Gottheiten in Erinnerung ruft oder einfach die Dimensionen der Geschichte im Fluss der Zeiten vergegenwärtigt. Schleichende, vibrierende Klänge - oft mit orientalischen Akzenten - strömen daraus hervor, verhallende Stimmen (siehe vor allem den Frauengesang auf Track 3), dumpfe Drones, akustische Instrumente und immer wieder rituelle Beats, die einen inneren Film in der Vorstellung des Hörers entstehen lassen (Anspieltips 1 und 10). Wer die vorangehenden CDs von Herbst9 schätzte, wird mit dieser CD garantiert glücklich werden. Manchmal nähert sich das Klangbild unmittelbar einer Filmmusik, was den Werken von Atrium Carceri und Sepiroth ähnelt, aber doch einen ganz eigenen, glasklar differenzierten Sound bietet. Die ersten 100 Exemplare enthalten noch eine DVD mit drei Videoclips, die teilweise den Projektionen der Liveperformance entsprechen. Hier dominieren gespiegelte Strukturen, bearbeitete monochrome Bilder, die die Musik symbiotisch ergänzen. "Causa mortis 2004" verbreitet mit den Ikonen der Vergänglichkeit gar einen gepflegten Neo-Gothic-Touch, was man von der Gruppe kaum erwarten würde. "Buried under Time and Sand" ist - so das Fazit - für eine Vielzahl von HörerInnen interessant: für die einen das Tor zu einer unentdeckten, aufregenden Welt, für die anderen das ersehnte Reifewerk einer ohnehin hervorragenden Band. Und als Soundtrack für das "Inner Cinema" funktioniert das allemal. Ein großartiges Werk! CD * Novy Svet / His Divine Grace Nachtfang (T.u.T./R.u.R. 2005) 10" 2 Tracks Ein relativ junges französisches Label mit dem merkwürdig-komplexen Namen "Treue um Treue/Reue um Reue" bringt uns diese 10", auf der jeweils eine Kollaboration zwischen den Österreichern Novy Svet und den Franzosen His Divine Grace (beide ehemals auf dem österreichischen Label HR vertreten). Wer chaotisch-schrägen Mediterranfolk erwartet, wie ihn Novy Svet einige Jahre praktizierte, wird hier erstaunt sein: Im Stil von HDG stehen lange klingende Soundscapes in Mittelpunkt, hohe, filigrane, manchmal fast gläserne Klänge, die vor allem auf Seite 1 von einer etwas jenseitigen Stimme überlagert werden. Wer hier an Coil denkt (etwas: Astral Disaster) liegt absolut richtig. Eine sehr schöne Vinylscheibe, eine willkommene Annäherung beider Projekte - sehr gelungen. Für Infos: http://eys.online.fr/tutrur/. CD * The Other Method No Bridges No Walls Wooden Finger 02 CD-R Aethr Myth'd A Night Outside Wabana 2004 CD Was einst an künstlerischer Energie in die weltweite
Tapeszene einfloss, breitet sich nun auf einer inzwischen unüberaschaubaren
Menge an selbstbespielten CD-rs in bester Tonqualität vor dem Hörer
aus: experimentelle Klangkunst in liebevoll selbstgestalteten - streng
limitierten - Auflagen, die sowohl die Materialität des Auditiven
wie auch der Verpackungskunst betonen. Ganze Labelreihen haben sich darauf
spezialisiert und beglücken ein abenteuerlustiges Publikum mit unberechenbaren
Fusionen... Zwei solcher überraschenden kleinen Klangkunstwerke haben
wir mit den aktuellen CDrs von Aethr Myth'd
und The Other Method vorliegen. Zu beiden
Tonträgern finden sich keine spezifischen Informationen, der Hörer
ist angewiesen auf die reizvolle individuelle Covergestaltung und natürlich
die Musik. Beide Projekte verbinden ausufernde instrumentale Improvisationen
mit Konkretsounds und Fieldrecordings. Während bei The
Other Method zunächst deutlich ein Freejazz-Gestus dominiert,
der mittels Gitarre und Blasinstrumenten so klingt, als hätten sich
16 Horsepower mit einem disziplinierten
John Zorn zusammengetan - erst in der zweiten
Hälfe vernehmen wir fast ambiente Strukturen -, konzentrieren sich
Aethr Myth'd ganz auf die Kreation eines
Klang-Raums. Wie das handbesprühte Cover andeutet, haben wir es dabei
eher mit einer Art Naturmystik zu tun, einem postmodernen Animismus. Hier
wurden die Fieldrecordings in Brattleboro Vermont aufgenommen. "Meditations
on lost animals, birds in bare trees, spring sprouts poking through the
melting ice, recalling softer times and the bitter edge around those times,"
sagt das Label Wabana dazu. Für alle, die Freude am individuellen
Raum-Klang haben, wird sich die mühsame Suche nach diesen Kleinoden
der Soundart rentieren. Marcus Stiglegger |
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