|
Georg Seeßlen & Fernand Jung
Horror
Grundlagen des populären Films
1135 S., geb., lieferbar, ISBN: 3-89472-430-7, Preis:
45,00 €
BESTELLEN
George Seeßlen und Volker Roloff hatten in den
frühen 1980er Jahren mit ihren schwarzen Bänden bei Rowolth
buchstäblich Genregeschichte geschrieben. In einzelnen Bänden
untersuchten sie die 'Grundlagen und Mytholgie des populären Films'.
Wer sich damals den Band "Kino des Phantastischen" kaufte, war
vermutlich enttäuscht, denn es wer das mit Abstand dünnste und
kursorischste der Bücher. Umso erstaunlicher mutet die Tatsache an,
dass die nun im Schüren-Verlag vorliegende Neuauflage mit über
1100 Seiten das mit Abstand umfassendste Buch zu diesem Thema bislang
ist. Es hat den Anschein, als wollte Seeßlen zusammen mit seinem
Koautor Fernand Jung nun die damaligen Versäumnisse ausgleichen -
und der Verlag wird sich über die aktuelle Popularität des Horrorgenres
im Kino und auf DVD freuen. Wobei es fraglich ist, ob dieser Erfolg eines
langlebigen Genres bei einem jungen Publikum auch gleich dem Buch entsprechende
Aufmerksamkeit garantiert... Vorsichtshalber hat man also dezidierte Klassikerfotos
(Dracula, Die Vögel) aufs Cover genommen. Der momentane Erfolg des
Genres basiert dagegen eher auf der harten Linie des Genres: SAW 2, CABIN
FEVER, LAND OF THE DEAD, HOSTEL.
Was bietet nun Seeßlens Buch auf 1100 dünnbedruckten
Seiten? Am Anfang steht wie einst die Einführung in eine Mythologie
des Genres. Das ist sehr erhellen und nimmt immerhin 100 Seiten in Anspruch.
Nachdem wir die wesentlichen Motive und Mechanismen des Genres vorgeführt
bekamen (durchaus orientiert an den literarischen Vorläufern), folgt
auch schon die filmgeschichtliche Abhandlung. Und 1000 Seiten wollen gefüllt
sein: eine unüberblickbare Fülle an Beispielen wird nun aufgereiht,
meist allerdings lediglich mittels einer mehr oder weniger ausführlichen
Inhaltsbeschreibung. Eher selten folgen einige Anmerkungen zur Stilistik,
was mitunter ein drastischer Mangel des Buches ist, denn gerade eine ausführliche
Darstellung ganzer Produktionsoeuvres wie der Hammer Studios hätte
nach einer eigenen Systematik verlangt. Statt dessen erfahren wir allenfalls,
das hier oder dort mal mehr oder weniger Sex oder Blut zu sehen war, wie
sich diese Tendenzen jedoch genau gestalten, wird ausgespart. Auch vermisst
man einen genauen Blick auf die Inszenierungen, die eine Stilistik fassbar
machen würden. Was zeichnet die Hammer-Filme denn nun gegenüber
Roger Cormans Poe-Filmen aus?
Ebenfalls enttäuschend für einen renommierten
und nachweislich originellen Autor wie Seeßlen ist der ständige
Rückbezug auf längst überholte Wertungen. So werden Filme
wie TO THE DEVIL A DAUGHTER (1974) scheinbar vor allem deshalb erneut
bagatellisiert, weil sie das in der bisherigen Literatur auch waren. Dabei
ließe sich in diesen trüben Gewässern durchaus fischen...
Bereits ab ca. S. 250 beginnt die filmhistorische Darstellung wild in
der Chronologie hin- und herzuspringen, was durch die Einzeldarstellung
von Themenkomplexen bedingt ist, dieses Vorgehen aber zugleich in Frage
stellt. Warum ist man dann nicht gleich nach Motiven vorgegangen und kehrt
immer wieder zur Chronologie zurück? Macht es Sinn, von KWAIDAN (1964)
einfach zu RINGU (1997) überzugehen - in einem Kapitel über
die 1970er Jahre?
Interessant wird der Text immer, wenn er über das rein
Summarische hinausgeht, und so findet sich etwa im Porträt von H.G.Lewis
(S. 255ff.) durchaus einiges Spannendes - oder in den soziopolitischen
Überlegungen zum frühen US-Splatterfilm (S. 347ff.). Und einige
gewagte Thesen kommen auch vor - durchaus sympathisch: "DUST DEVIL
ist die 'Gnosis' des modernen Horrorfilms." (S. 429)
Etwas merkwürdig muten einige zynische Bildunterschriften
an (etwa 412: "Wer fällt denn da von der Brücke?"
- naja, wenn man den Film nicht gesehen hat, weiß man es eben nicht...).
Klassisch konservativ geht Seeßlen dann mit dem tatsächlichen
Splatterkino um. In "Zombies unter Kannibalen, oder wie ein Genre
sein Maß verliert" (S. 430ff.) wird deutlich, dass die Autoren
beiweitem nicht alle Beispiele, die sie besprechen, selbst gesehen haben.
Von daher verlassen sie sich auch hier auf zum Teil ebenso zweifelhafte
Quellen und übernehmen unzitiert deren Wertungen - bzw. konstruieren
neue Wertungen aus dem pulizistischen Recherchematerial. Mit Romero kann
man natürlich noch etwas anfangen, aber ausgerechnet WOODOO - SCHRECKENSINSEL
DER ZOMBIES, der in Deutschland noch erfolgreicher als Romeros ZOMBIE-Hit
war, wird in diesem Kapitel nur am Rande erwähnt. Dafür tauchte
er ausführlich auf S. 274-75 auf, wo die berühmte Haifischsequenz
auf so ungenaue Weise beschrieben wird, dass die Fotos diese Beschreibung
gar zu widerlegen scheinen. VIRUS / DIE HÖLLE DER LEBENDEN TOTEN
wird dann erst im nächsten Kapitel behandelt. Fehler tauchen auch
im Kannibalen-Kapitel auf: Hier geht Seeßlen großzügig
über den einzigen wirklich brauchbaren Klassiker dieses Subgenres
hinweg: CANNIBAL HOLOCAUST / NACKT UND ZERFLEISCHT sei "selbst unter
Fans des Splatter-Films umstritten" - das mag stimmen, aber auffällig
ist doch, dass es kaum einen Splatter-Horrorfilm gibt, der weltweit mehr
Inkarnationen auf DVD und VHS erlebte als dieser (jüngst als Doppel-DVD
auf Grindhouse Releasing). Hier hätte man wirklich die Mechanismen
dieses - zugegeben unangenehmen - Subgenres analysieren können. Zudem
kommt dann noch eine falsche Bildzuweisung vor (Abb. 146 zeigt ein Bild
aus EAT THE RICH). In der Filmografie wird der Film auf S. 1057 mit Deodatos
eigenem MONDO CANNIBALE 2 - DER VOGELMENSCH als ULTIMO MONDO CANNIBALE
vertauscht und fälschlich 1976 zugeordnet (tatsächlich 1979).
Das mögen kleine Fehler sein, doch stößt man, wenn man
in dem Buch recherchiert, auf zahlreiche solcher Probleme.
Ungeachtet dieser Ungenauigkeiten und gelegentlicher
Ausfälle ins Umgangssprachliche (auch das nicht untypisch für
Seeßlen), ist das Buch natürlich eine Materialsammlung von
enormer Fülle und enthält auch für den eingeweihten Genrefan
wertvolle Hinweise. Ob es jedoch als ultimatives Werk zum Horrorgenre
durchgeht, ist zu bezweifeln. Eine amüsante Lektüre ist allemal...
Christoph Donarski
|