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Nikolai Wojtko (Hrsg.)
Alfred Hitchcock – der Filmverführer.
Un-Schuld im Spannungsfeld von Ethik und
Ästhetik
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Schriften zur Medienwissenschaft Band 11, Hamburg
2005, 152 Seiten, ISBN 3-8300-2148-8
In den letzten Jahren wird wiederholt die verführerische
(sprich: seduktive) Qualität des Kinos gewürdigt, am bislang
Weitgehendsten wohl in Patrick Fuerys New Developments in Film Studies
(1999), wo er Jean Baudrillards Thesen aus Von der Verführung (1979)
für das Kino frucht bar machen möchte. Beleuchtet wird dabei
nicht die Verführung als inhaltliches Sujet, sondern der Prozess
zwischen Film und Zuschauer: der Film wird zum Seduktionsakt am Rezipienten
selbst. Der Kölner Medienwissenschaftler Nikolai Wojtko knüpft
an diese Idee an, bezieht sich jedoch nicht auf Baudrillard, sondern bemüht
ganz grundsätzlich die Philosophie Sören Kierkegaards als Grundlage,
namentlich das „Tagebuch eines Verführers“ aus Entweder-Oder.
Wojtkos Beispiel ist Alfred Hitchcock, der bereits im Titel als „Film-Verführer“
gekennzeichnet wird. An einigen klassischen Thrillern des Regisseurs erproben
Wojtko und seine Kolleginnen und Kollegen ein Re-Lektüre von Hitchocks
Werk nach der Vorgabe, diese Filme als seduktive Kunstwerke zu begreifen.
Wojtko stellt dabei im Vorwort fest, dass Hitchcock nicht
nur innerhalb seiner Inszenierung, sondern auch als Interviewpartner (gegenüber
Francois Truffaut) als Verführer agiere. Der Regisseur gesteht seinem
Interviewer nur jene Erkenntnisse und Aspekte zu, die er benötigt,
um diesen in die gewünschte Richtung zu bringen. Ähnlich –
so die Annahme – gehen auch Hitchcocks Filme vor. Es ist also ein
durchaus aufregendes Unterfangen, das sich hier andeutet: während
Autoren wie Patrick Fuery oder auch meine eigenen Arbeiten (etwa in Perspektiven
interdisziplinärer Medienphilosophie, 2003) in der Reflexion von
Film und Verführung primär auf Baudrillards bereits postmodern
gebrochene Seduktionstheorie verweisen, knüpft Wojtko direkt an der
Quelle bei Kirkegaard an. Mustergültig wendet er diese klassische
Verführungstheorie („Die Kunst der Verführung oder die
vollendete Form eines ästhetischen Lebensentwurfes“) auf den
Film DER FREMDE IM ZUG an. Er zeigt die Praktikabilität des Modells
in einer kundigen Parallellektüre von Buch und Film auf, wobei er
zunächst die wesentlichen Thesen von Kierkegaards ästhetischer
Philosophie zusammenfasst, um dann mit Arbeitsbegriffen wie Schuld, „Sehn-Sucht“
und Freuds Idee des „Unheimlichen“ an Hitchcocks Film heranzugehen.
„Kierkegaard, der erste psychologisierende Philosoph konnte seine
eigenen Ängste reflektieren, war jedoch unfähig, sie in einem
allgemeinen System jenseits individueller Grenzen zu denken. Hitchcock,
der Kenner persönlicher Ängste und ihrer gesellschaftlichen
Verortung, schafft es nicht nur mit diesen zu spielen, er verortet sie
stets im Heimeligen, das er zum wahren Ort des Unheimlichen macht“
(S.50).
Es folgen in chronologischer Reihenfolge der Entstehung
der Filme Aufsätze zu einigen Hitchcock-Klassikern – und hier
offenbart sich ein großes Problem des Buches: Die Autorinnen und
Autoren, die hier leider biographisch nicht vorgestellt werden, beziehen
sich kaum oder gar nicht mehr auf Wojtkos einleitende Ideen. Eine löbliche
Ausnahme ist Sebastian Lauritz mit seinen Ausführen zu IM SCHATTEN
DES ZWEIFELS, die sich zumindest mit dem Schuldbegriff aus Entweder-Oder
auseinandersetzen. Einige Grundmotive des Hitchcockschen Oeuvres kommen
zur Sprache (der Unschuldig/Schuldige als Protagonist etwa, die Ambivalenz
des oberflächlich idyllischen Handlungsortes...), und Lauritz’
Fazit wird überzeugend hergeleitet: „dass wir als Zuschauer
durch seine Lektion unwiderruflich zu einem reflektierteren Sehen gelangt
sind und damit zu einem Blick jenseits der Unschuld“ (S.27). Interessant
ist dabei auch der Blick auf aktuellere Filme, die Hitchcocks Konzept
fortführen (SEVEN, DEAD RINGERS).
Sebastian Schefflers Text über VERTIGO – AUS
DEM REICH DER TOTEN offenbart ebnfalls ein Problem, das fast alle folgenden
Beiträge betrifft: filmische Stilmittel geraten bei der Analyse in
den Hintergrund, die Filme werden vor allem auf einer inhaltlich-narrativen
und – da wird es problematisch – auf einer psychologischen
Ebene der Protagonisten betrachtet. So erfahren wir in ausufernden Spekulationen,
warum der „nicht vollkommen entwickelte“ Charakter Scottie
(James Stewart) wie handelt und begehrt, als hätten wir es mit einem
vollwertigen menschlichen Charakter zu tun. Mit Kierkegaard hat das wenig
zu tun, und er wird hier auch nicht mehr zitiert. Ebenso psychologisiert
wird die Identitätsfrage in Florian Steinackers Aufsatz zu DER UNSICHTBARE
DRITTE: „Roger Thornhill ist verblüfft“, beginnt er seine
'Figuren-Psychoanalyse’ über die „Entwicklung des O.“
Beschreibungen von Verhaltensweisen werden fast nie filmischanalytisch
kontextualisiert, so dass man keine Vorstellung für tatsächliche
Inszenierung entwickelt. Noch weiter entfernt sich Agnes Frey vom Kierkegaard-Konzept
und konzentriert sich in einer kulturhistorischen Betrachtung auf die
Motive der Vögel in PSYCHO – auch hier in einem psychologischen
Kontext. Hier wird nur noch ein Bezug zu kulturanathropologischen Herleitungen
geknüpft, filmanalytische Aspekte verschwinden aus dem Blick. Natália
Wiedmann beschwört dagegen direkt das „mentale Bild“
nach Gilles Deleuze, wobei ihr Versuch einer Definition (S. 124-126) etwas
fragmentarisch bleibt, und auch der Nachweis von dessen „Manifestation
im Materiellen“ (S. 126ff.) verharrt in der Skizze, die eine Durchführung
am Beispiel DIE VÖGEL nicht durchweg nachvollziehbar gestaltet.
Obwohl die grundsätzliche Idee des Herausgebers
Nikolai Wojtko spannend und ergiebig sein könnte, verzettelt sich
der gesamte Band Alfred Hitchcock – der Filmverführer zu sehr
in den unterschiedlichen Interessen der mitarbeitenden Autorinnen und
Autoren, die vor allem auf figurenpsychologischer Ebene zu liegen scheinen
und keine befriedigende filmanalytische Perspektive zu bieten haben. Das
Buch kann also als ein fruchtbarer Ansatz wahrgenommen werden, die präsente
umfangreiche Hitchcock-Forschung um den Aspekt der Verführung zu
erweitern, dem Buch selbst fehlt es jedoch in großen Teilen an argumentativer
Stringenz, um die Grundidee zu formulieren. Zudem wurde der Band leider
bei dem etwas nachlässigen Verlag Dr. Kovac herausgegeben, ist also
weder illustriert noch im Buchhandel präsent.
Marcus Stiglegger
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