Tim Hecker

Ravedeath, 1972

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Label: Kranky
Format: CD, 2LP
Veröffentlichung: 14.02.2011


Mit „Ravedeath, 1972“ veröffentlicht Kranky Tim Heckers siebtes Studioalbum. Dieses stellt in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Veröffentlichung dar und wartet mit Ben Frost, als unterstützendem Musiker und Producer, sowie James Plotkin als Verantwortlichem für das Mastering mit hochkarätigem Personal auf. Aufgenommen wurde das Werk an nur einem einzigen Tag in einer Kirche in Reykjavik, was sich in der atemberaubenden Akustik des Albums widerspiegelt. Neben dem Raum wurde allerdings auch die Orgel der Kirche verwendet, die als maßgeblicher Klanggeber fungiert. Ergänzt durch Feedbacks, Loops, Computer und Piano findet eine Verschmelzung analoger und digitaler Sounds statt, die in dichter Überlagerung monolithisch verwoben wurden.

Die Thematik von „Ravedeath, 1972“ wird schon durch das Artwork der Platte antizipiert und zieht sich konsequent durch das ganze Werk. Das Cover zeigt eine Photographie von einer Gruppe Menschen, die dabei ist ein Klavier von einem Gebäude zu werfen. Das in seiner Symbolik fast an Fitzcarraldo erinnernde Motiv verweist auf ein konkretes Ereignis – den ersten „Piano Drop“ vom Baker Building des Massachusetts Institute of Technology (MIT) 1972. Dieses mittlerweile zum Ritual gewordene Schauspiel findet immer Ende April statt und markiert den letzten Tag an dem es möglich ist von Kursen zurückzutreten. Tim Hecker greift diesen Ritus direkt im ersten Stück des Albums auf, das den Titel „The Piano Drop“ trägt. Dass Hecker für „Ravedeath, 1972“ das Symbol akademischen Ungehorsams und Protest gegen Leistungsorientierung wählt, kann als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen genommen werden. In Titeln wie „Hatred of Music“ oder „Studio Suicide 1980“ wird diese Anti-Attitüde weitergeführt und vom akademischen ins künstlerische Feld übertragen. Übertragen auf das Bild des vom Dach gestürzten Klaviers ließe dies die Schlussfolgerung zu, diesen Akt als Archetypus musikalischer Destruktion zu verstehen, der allerdings im Akt der Zerstörung ein letztes Mal Klänge von sich geben wird. Ist „Ravedeath, 1972“ also ein musikalischer Todesschrei?

Die Soundästhetik des Albums variiert zwischen ruhigeren Ambient-Passagen im Stile der frühen Genre-Prototypen Brian Enos und eher aggressiveren und verzerrteren Versatzstücken. Gemeinsam ist allen jedoch eine Verweigerung gegenüber Melodien. Diese werden zwar angespielt und immer wieder als Motive vorgestellt, jedoch fast nie konsequent zu Ende geführt und immer wieder gebrochen. Begleitet werden diese Fragmente von subtil oszillierenden Bässen und dem pulsierenden Atmen der Orgelpfeifen. In diesen ordnenden und repetitiv eingesetzten Elementen fühlt man sich gelegentlich an die Kompositionen William Basinskis erinnert. Die Verweigerungs- und Kontraposition des Albums findet in der Zurückweisung gefälliger Melodien also durchaus ihren Platz und macht „Ravedeath, 1972“ zu einem Beispiel künstlerischen Protestes an gegenwärtigen Trends. Wie aus einem Guss fügen sich hierbei alle Titel lückenlos zusammen und vermitteln ein nachhaltig im Gedächtnis bleibendes Gesamthörerlebnis, das nicht unwesentlich von der offenen und live-ähnlich Akustik getragen wird.

„Ravedeath, 1972“ ist uneingeschränkt gelungen und kann schon jetzt als wichtiges Werk im Bereich Ambient/Experimental angesehen werden. Vor allem durch die konkreten Verweise erhält das Album eine semantische Tiefe und wird zu einem musikalischen Postulat. Obwohl Hecker Kanadier ist und in Montreal lebt, scheint dieses Album doch auch den Geist eines enttäuschten post-„Yes we can“ Zeitgeistes zu atmen, der von Resignation und Desillusion geprägt ist. Bildnerisch hat der Künstler Santiago Sierra mit seiner überdimensionalen NO-Skulptur schon eine Antwort auf den Wahl-Slogan gegeben, mit „Ravedeath, 1972“ scheint diese Stimmung ihre akustische Emanation gefunden zu haben.

Ein stilistisch klares und souverän konzipiertes Album das durch seinen Konzept-Charakter begeistert.

Patrick Kilian