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Ghédalia Tazartès
Diasporas
Label: Dais Records Format: LP Veröffentlichung:
Juni 2011
Mit „Diasporas“ veröffentlicht das
amerikanische Nischen-Label Dais Records das lange verschollene Erstlingswerk
des französischen Avantgarde Musikers Ghédalia Tazartès
neu. Damit verfolgt Dais erneut konsequent den Kurs unzugängliche
und meist obskure Platten wieder zugänglich zu machen. Neben Genesis
P-Orridge, Deviation Social und Maurizio Bianchi reiht sich nun auch Ghédalia
Tazartès in die Riege der wiederentdeckten Klassiker ein. Erstmal
wurde „Diasporas“ – zwei Jahre nach seiner Produktion
– 1979 von dem französischen Label Cobalt herausgegeben: schon
der lange Zeitraum zwischen Aufnahme (1977) und Veröffentlichung
spricht dafür, dass „Diasporas“ auch zu seiner Entstehungszeit
schwer vermittelbar war.
Ghédalia Tazartès hat auf diesem Debüt
seinen einzigartigen Stil definiert, der vollkommen entrückt von
seiner Zeit auf musikalische Wurzeln verweist, die teils mehrere Jahrtausende
zurückliegen zu scheinen. Das Album beginnt mit dem fast zehnminütigen
„Un Amour Si Grand Qu’il Nie Son Objet“, das den Hörer
sofort aus seinen gewohnten Hörgewohnheiten entreißt und mit
Kehlkopfgesang in eine mythische Zeit zurückversetzt. Kombiniert
wird die Melodiestimme mit Schreien, deren flatterndes Vibrato an indianische
Stammesgesänge erinnert, sowie mit Stimmfragmenten, die als Tape-Loops
moduliert wurden. Im Arrangement und der Collage dieser unterschiedlichen
Elemente entwickelt sich so eine rituelle Atmosphäre, die Opfer-
und Stammesmythen zu simulieren scheint. Auch im weiteren Verlauf des
Werkes wird dieser beispiellose Synkretismus beibehalten und nur durch
den relativ klassischen Chanson „Casimodo Tango“ von Michel
Chion konterkariert. Dieser sticht wie ein Fremdkörper aus den unartikulierten
und archaischen Kompositionen hervor und holt den Hörer für
kurze Zeit wieder in die eigene Zeit zurück, nur um schon im nächsten
Stück wieder in der Frühgeschichte zu verschwinden. Vielleicht
einzig mit dem amerikanischen Komponisten Moondog vergleichbar, rekonstruiert
Tazartès so den Klang einer Zeit die eigentlich unwiederbringlich
verloren schien, und deren Gesänge ebenso wie die Menschen, die sie
sangen längst verstorben und verstummt sind.
Jedoch nicht nur die verwendeten Klänge, sondern auch
die gewählte Form der Stücke antizipiert die Rückbesinnung
auf die musikalische Wiege der Menschheit – so wirken die Kompositionen
auf eine fremde und sperrige Art fast formlos und sind über die bekannten
Lied-Strukturen erhaben. Ähnlich wie Mantras werden einzelne Laute
immer wieder rhythmisch wiederholt, von vereinzelten Pecussions unterstützt,
nur um dann von neuen Klangbausteinen überlagert und langsam durch
diese abgelöst zu werden. Hierbei lässt Ghédalia Tazartès
eine tranceähnliche Stimmung entstehen, die schnell in ihren Bann
zieht. Auch der lautmalerische Einsatz der Stimme, der wie der Philosoph
André Gluckmann in den Liner-Notes zu dem Album schreibt eine Zeit
beschwört, die vor dem Erlernen der Sprache liegen muss, verweist
auf den mythischen Kern des Werkes. Lediglich an einigen Stellen, tauchen
Zeilenfragmente in französischer Sprache auf, die jedoch sofort wieder
durch das Heulen und Schreien überdeckt werden. Im Gegensatz zu Derridas
Theorie gewinnen diese Bruchstücke ihre semantische Bedeutung somit
nicht durch ihr Referenzsystem, sondern gehen in diesem unter!
Die Kombination afrikanischer, indianischer, ja sogar arabisch
und tibetischer Einflüsse und Zitate, kombiniert mit dem Chanson
und den vereinzelten Text- und Liedfragmenten, lässt ein assoziatives
Netzwerk entstehen, das nach gemeinsamen Ursprüngen zu suchen scheint.
So wie Aby Warburgs mnemosynischer Bilderatlas oder Georges Batailles
diachrone Kunstgeschichte „Die Tränen des Eros“ steht
„Diasporas“ für einen essayistischen Ansatz der Spurensuche
im akustischen Gedächtnis des Menschen: Obwohl es für die vormittelalterliche
Musik keinerlei dokumentierte Notationen gibt, scheinen die Klänge
der Urzeit im kollektiven Unterbewusstsein verhaftet geblieben zu sein.
Ghédalia Tazartès präsentiert, im Rückgriff auf
noch rituell praktizierte Überreste, einen sehr subjektiven Versuch
um deren gemeinsame Herkunft zu finden. Wie Warburg oder Bataille scheint
ihm hierbei daran gelegen zu sein, eine Art Ursprache zu erforschen und
für den Hörer erlebbar zu machen. Der Titel „Diasporas“,
der aus dem griechischen stammt und soviel wie „Verstreutheit“
bedeutet, kann in diesem Kontext gedeutet, und auf die Verstreuung der
von Tazartès zitierten Stile und Kulturräume angewendet werden.
Ob er als mythischen Ausgangspunkt auf die alttestamentarisch überlieferte
babylonische Sprachverwirrung rekurriert bleibt bloße Spekulation.
Erneut ist es Dais Records gelungen ein geheimes und fast
verlorenes Stück Musikgeschichte wieder zugänglich zu machen,
das nun in einer hochwertigen Edition gewürdigt wird. In stilvoller
Gestaltung und um Liner-Notes ergänzt, wurde für dieses Werk
zweiunddreißig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung nun endlich
die angemessene Form gefunden. Auch heute hat das Werk nichts von seiner
Aktualität verloren, ist wesentlich mehr als nur ein musikhistorisches
Dokument und in seinem nicht-kolonialen Umgang mit fremden musikalischen
Traditionen geradezu vorbildlich. Dennoch handelt es sich weniger um ein
‚World-Music’ Album, als vielmehr um eine Reise in ein fiktives,
der Menschheit gemeinsames, musikalisches Ur-Erbe.
Schon jetzt ist „Diasporas“ eine der ganz
großen Veröffentlichungen dieses Jahr und wirft endlich Licht
auf einen zu unrecht unbeachteten Künstler.
Patrick Kilian
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