Fritz, Jochen und Neil Stewart (Hg.)
Das schlechte Gewissen der Moderne
Kulturtheorie und Gewaltdarstellung in Literatur
und Film nach 1968
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Köln, Weimar: Böhlau, 2006. 303 S., broschiert,
€ 39,90. ISBN-10: 3-412-32805-7 / ISBN-13: 978-3412328054
Der ernsthafte Diskurs über Horror und Gewalt
in der Kunst hat gerade im neuen Millennium einige erstaunliche Früchte
getragen. Nachdem man sich lange in der deutschsprachigen Kulturwissenschaft
um das Thema herumgemogelt hat, sind in den letzten Jahren einige aufschlussreiche
Untersuchungen erschienen, die den langen Schatten der Moderne aufarbeiten.
Konsequente Vorstöße sind aus der Filmwissenschaft
zu verzeichnen, aber auch die Literaturwissenschaft ist hier gefragt:
An der Universität Bonn versammelten Jochen Fritz und Neil Stewart
einige Forscherinnen und Forscher, um unter dem inspirierenden Titel „Das
schlechte Gewissen der Moderne“ Kulturtheorie und Gewaltdarstellung
in Literatur und Film nach 1968 in Einklang zu bringen. Bereits die an
einer Geschichte von Stephen King orientierte Einleitung nimmt sich dabei
sehr gut aus. Hier werden die wesentlichen Diskurse elegant angerissen,
um schließlich auf die folgenden Texte neugierig zu machen. Und
darunter finden sich einige wirklich spannende Perspektiven: Volker Pantenburg
etwa untersucht den Kannibalismus als Metapher in Jean-Luc Godards WEEKEND,
während Christian Moser am Beispiel von Ruggero Deodatos CANNIBAL
HOLOCAUST den Horror-Film im Dialog mit der Ethnologie zeigt – einer
der originellsten und stärksten Texte des Buches. Herausgeber Jochen
Fritz widmet sich in dem originell betitelten „Der Zombie im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit“ dem Zombiefilm als modernistischer
Konsummetapher – das repetiert einige bekannte Thesen, die Romeros
Zombie-Werken mittlerweile als latenter Subtext mitgegeben wurde. Rar
sind erstaunlicherweise die Literaturtexte, und Lutz-Henning Pietschs
Ausführungen über die „Bücher des Blutes“ von
Clive Barker ermitteln Erstaunliches bezüglich einer Lesrat mit Deleuze
und Guattari. Spannend ist auch der Text über den russischen Extremwortkünstler
Vladimir Sorokin von Neil Stewart, dessen Werk in Deutschland vermutlich
schon deshalb wenig erschlossen ist, da sich seine Rap-artigen Konstruktionen
schwer übertragen lassen.
Die übrigen Beiträge widmen sich dem zeitgenössischen
Film: von David Cronenberg üder den unvermeidlichen Serial Killer
bis hin zu den gender-Diskursen des neuen Horrorfilms. Takashi Miikes
AUDITION (1999) gehört hier ebenso her wie der Rape-Revenge-Klassiker
BAISE-MOI (2000). Arno Meteling, Heike Klippe u.a. bewältigen ihre
Themen in diesem Kontext mit angemessenem Tiefgang, ohne jedoch grundlegend
neue Aspekte zu erarbeiten. Man bewegt sich auf halbwegs sicherem Terrain
– was bei diesen Themen eigentlich erstaunlich ist. Aber vermutlich
liegen die bearbeiteten Diskurse auch schon einige Jahre zurück,
so dass hier eher ein unfreiwillig restrospektiver Charakter durchscheint.
Es ist leider nicht zu bestreiten, dass diese Textsammlung
vor allem eines nicht ist: Eine umfassende oder erhellende Einführung
in die Thematik. Wesentliche Bereiche der Diskussion, vor allem viele
künstlerische Werke des Diskurses bleiben ausgespart. Interessant
sind hier vor allem Details, genaue Beobachtungen im Kleinen, Anwendungen
der Theorien auf unerwartete Sujets. Für Eingeweihte also eine lohnenswerte
Lektüre.
Marcus Stiglegger
Inhalt
• Jochen Fritz und Neil Stewart: Einleitung:
Das schlechte Gewissen der Moderne.
• Volker Pantenburg: Faim de Cinémas. Jean-Luc Godard: hungrig.
• Christian Moser: Kannibalismus als Metapher des Verstehens. Der
Horror-Film im Dialog mit der Ethnologie.
• Jochen Fritz: Der Zombie im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
• Lutz-Henning Pietsch: The Fall of the Empire. Der post-freudianische
Körper bei Deleuze / Guattari und in Clive Barkers Books of Blood.
• Arno Meteling: Revolte des Neuen Fleisches. Die Metakörper
des David Cronenberg.
• Beate Ochsner: Serial Killer oder: Zum Prinzip der Serialität.
• Tilo Renz: Gewalt weiblicher Figuren als resignifizierendes Sprechen.
Thelma und Louise, Baise-moi und Judith Butlers Politik des Performativen.
• Heike Klippel: Das Unwesen. Subjektivität und Geschlechtlichkeit
im Horrorfilm.
• Neil Stewart: ›Ästhetik des Widerlichen‹ und
›Folterkammer des Wortes‹. Die russische Konzeptkunst von
Vladimir Sorokin.
• Ansgar Thiele: Ende des Horrors. Diskurse der Gewalt und Sexualität
im japanischen Gegenwartskino am Beispiel von Takashi Miike: Audition
und Visitor Q.
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