GEHEIMES DEUTSCHLAND

4,5 / 5 Sterne

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Regie: Rüdiger Sünner
Buch: Rüdiger Sünner
Kamera: Rüdiger Sünner
Produktion: Atalante Pictures
Produktions-Land+Jahr: Deutschland, 2006
Musik: Domenico Scarlatti, Richard Wagner, Rüdiger Sünner
Sprecher: Ulrich Matthes, Sabine Wegner, Joachim Schönfeld, Frank Arnold, Helmut Gauss, Uwe Müller, Rüdiger Sünner
Texte: Hölderlin, Novalis, Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, u.a
DVD 5, PAL, codefree, Farbe, 60 Min. + Extras. Bild: 4:3, Ton: Stereo

„Es lebe das Geheime Deutschland.“ Dies sollen die letzten Worte des Hitler- Attentäters Claus Schenk von Stauffenberg bei seiner Hinrichtung am 21. Juli 1944 gewesen sein. Das Geheime Deutschland – ein Begriff aus dem elitär reaktionären Kreis um den Dichter Stefan George zu dem auch Stauffenberg zählte – verkörpert zunächst einen radikalen Gegenentwurf zur Welt der Moderne, der Massengesellschaft, des technischen Fortschritts und der zunehmenden Rationalisierung aller Aspekte des menschlichen Lebens. Die ästhetischen Fundamentalisten stellten der Moderne ein mystisches Weltbild gegenüber, in dem vor allem die Lyrik einigen Auserwählten den Zugang zu einem geistigen Reich gewähren konnte, in dem der Geist einer ins heldenhafte verklärten deutschen Vergangenheit wirkte. Für Stauffenberg bildete eben jenes Deutschland der Dichter und Denker, des Idealismus und der Romantik als Erbe eines reichen abendländischen Mittelalters, einen Gegenbegriff zur Barbarei des Nationalsozialismus.

Rüdiger Sünner spürt in seinem neuesten Film dieser anderen deutschen Vergangenheit, nicht der von Krieg und Völkermord nach, wobei er sich auf die Spiritualität der Frühromantik konzentriert und feststellt, das ein ganzheitliches Natur- und Menschenbild nicht nur in Fernost sondern eben auch in Europa selbst eine Tradition besitzt. Sünner wirft die Frage auf, welchen Beitrag dieses Denken für unsere heutige Situation, die durch ökologische Krisen und eine zunehmende Entfremdung des Menschen von seinen natürlichen Lebensgrundlagen gekennzeichnet ist, leisten kann.

Wie sehr die Romantik in Zeichen universeller Ideale steht lässt sich bereits an Begriffen wie Friedrich Schlegels Universalpoesie erahnen, und von dem junge Dichter wie Novalis, Brentano oder Tieck zu ihren neuartigen Lyrikexperimenten im ausgehenden 18. Jahrhundert inspiriert wurden. Wenn Schlegel davon spricht, dass Poesie ein „Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters“ werden soll, muss man sich das enge Verhältnis von Poesie und den Wissenschaften zu jener Zeit vor Augen halten, zweier Disziplinen, die beide darin konkurrierten, Medium wirklicher Erkenntnis über den Menschen und dessen Stellung in der Welt zu sein. Hierbei ist bedeutend, dass die romantische Naturphilosophie die Idee der Einheit der Welt im Namen eines Ganzen der Natur nicht gegen, sondern gerade mit und durch die Naturwissenschaften sichern wollte, wie etwa Novalis, der in seiner Enzyklopädie alle Fachwissenschaften mit der Poesie zu einer universellen Naturphilosophie vereinigen wollte, wobei Natur hierbei ein alles Geistige und Materielle umfassendes Ganzes bedeutet, eine Vorstellung die tief in der zeitgenössischen Philosophie verankert ist, welche von einer grundlegenden Emanzipation vom christlich orientierten Gottesbild geprägt ist.

Hatte der deutsche Idealismus etwa mit Fichte das menschliche Bewusstsein aus allen religiösen und historischen Bindungen gelöst, indem er dieses zum alleinigen Schöpfer aller äußeren Realität machte, kehrt mit Schellings Begriff der Weltseele der Gedanke des Göttlichen zurück. Aber dieses steht den Menschen nicht mehr als etwas Fremdes gegenüber, als Schöpfergott, sondern vielmehr als innerstes Prinzip allen Lebens, und ist als solches in allen Formen der Natur zu finden. Dies ist der Ausgangspunkt für Hegels Begriff des Weltgeistes, nach dem die Welt eine Entwicklungsstufe des göttlichen Bewusstseins ist, welches auf der ersten Stufe noch in einem unbewusst träumenden Zustand verharrt, sich durch das Erwachen des menschlichen Bewusstseins nun selbst als etwas Anderes gewahr wird und auf der dritten, zukünftigen, Stufe, das Bewusstsein seiner selbst gewinnt, sobald die Philosophie die Natur als göttlichen Geist erkennt.

Die romantische Naturphilosophie übernimmt das dialektische Geschichtsmodell Hegels, indem sie den Standort der eigenen Epoche im Geschichtsprozess reflektiert. Am Übergang zum industriellen Zeitalter begreifen die Romantiker ihre Epoche als Zeitalter der Entfremdung von den natürlichen Lebensgrundlagen.

Wälder und Wiesen, Berge oder Seen bilden immer stärker einen Gegensatz zur modernen Lebensumwelt, entwickeln sich zunehmend zu Refugien für die vom technischen Fortschritt verunsicherten Menschen. In Märchen oder Naturgedichten stellt man der unsicheren Gegenwart eine utopisch verklärte Vergangenheit gegenüber, lässt sich wie der frühe Clement Brentano von Volksliedern inspirieren, bis schließlich einige seiner Werke selbst für traditionelles Liedgut gehalten werden.
Für Novalis stellt vor allem das Märchen die geeignete Form dar, dem Spezialistentum der industriellen Gesellschaft den Gedanken einer Einheit von Natur und Mensch gegenüberzustellen. In einem echten Märchen müsse die ganze Natur „auf wunderliche Art mit der ganzen Geisteswelt vermischt sein,“ einen Zustand des schöpferischen Chaos, den der Dichter auf der Dritten Stufe seines triadischen Geschichtsmodells: Einheit mit der Natur, Entzweiung und schließlich Wiederherstellung der Einheit auf höherem Niveau wieder anstrebt, wobei alle ganzheitlichen Philosophien im Prinzip diesem dreistufigen Vorstellungsmodell folgen.

Nach den Erfahrungen des ersten Weltkriegs und seiner technologischen Vernichtungsmaschinerie wird im 20. Jahrhundert der Ruf nach einer Überwindung des kalten, rationalen Mechanismus zugunsten einer neuen Wissenschaft laut, die das Geistige in der Natur nicht ausschließt. So spricht Erst Jünger vom Hochmut der Naturwissenschaften. Er misstraut einer ausschließlich mathematisch orientierten Wissenschaft und versucht diese, um intuitive Erkenntnisse auf einer synästhetischen Erfahrungsebene zu erweitern, um die verborgenen Rätsel hinter den mathematisch fassbaren Erscheinungen aufzuspüren. Ganzheitliche Naturvorstellung koppelt sich hierbei mit einer mystischen Erfahrung des Einsseins mit der Welt.

Auch für den zeitgenössischen Philosophen Gernot Böhme ist die mystische Erfahrung der Einheit des Menschen mit der ihm umgebenden Umwelt ein zentraler Bestandteil jeder Naturphilosophie, wodurch er eine Aufnahme der Naturästetik in eine zeitgenössische Naturphilosophie fordert, einem Ansatz, dem auch Sünners Films folgt. Wie Sünner verknüpft Böhme die Notwendigkeit eines neuen Naturbegriffes aufs engste mit der ökologischen Krise und folgt letztendlich Novalis triadischem Geschichtsmodell wenn er fordert, „das Ideal des Vernunftmenschen zu überwinden – ohne die Errungenschaften des Rationalität preiszugeben“ – die Wiederherstellung der Einheit mit der Natur auf höherem Niveau.

Sünner lädt in kontemplativen Landschaftsaufnahmen zu einem mystischen Naturerlebnis ein, setzt nur spärlich Kommentare und vertraut auf weiten Strecken der Suggestivkraft, die durch die Synthese der Bilder mit den vorgelesenen Textauszügen Goethes, Novalis, Herders und anderen entsteht. Die Bilder folgen der Ästhetik romantischer Landschaftsmalerei, behutsame Überblendungen führen den Zuschauer in ruhigen Einstellungen durch Wiesen, Wälder, lassen den Blick über Flüsse und Felder dem Horizont entgegengleiten oder sich in einem Sonnenuntergang am Meereshorizont verlieren. Goethes Gedanken zum Licht werden durch lange Zeitraffereinstellung eines Sonnenauf- und Untergangs, der sich in einem See spiegelt, visualisiert, Erinnerungen an Riedelsheimers Rivers and Tides werden wach. Durch seine eindringliche Langsamkeit bewirken Worte und Bilder, unterlegt von ambienten Klangkollagen und romantischer Musik, die teils von Sünner selbst eingespielt wurde, im Zuschauer ein sanftes Gefühl des Getragenseins, ein Gefühl der Verbindung und Verwandtschaft zwischen allen Formen der Natur und deren Betrachter.

Sünners Film passt sich in seinem behutsamen Fluss den Naturformen an, den im Wind sich wiegenden Kornähren, den rauschenden Wäldern, den dahingleitenden Wolkenbildern, und lädt den Zuschauer dazu ein, teilzuhaben an der immerwährenden Bewegung allen Lebens. Ein ausführliches Interview mit dem zeitgenössischen Naturphilosophen Jochen Kirchhoff rundet die liebevoll ausgestattete DVD ab.

Matthias Abel

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