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Aris Fioretos
Die Wahrheit über Sascha Knisch
Roman
DuMont Verlag, 2003, 330 Seiten, ISBN 3-8321-7829-5, €
22,90
Die libertinen Jahre des Berlins der Weimarer Republik,
nur kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, jene Zeit der
Dekadenz und Ausschweifung, inspirierte zahlreiche Romane, Theaterstücke
und Spielfilme: CABARET etwa, oder DAS SCHLANGENEI von Ingmar Bergman.
Im glühenden Jahrhundertsommer des Jahres 1928 scheinen die Triebe
ein unheimliches Eigenleben zu entwickeln in dieser von radikalen Umwälzungen
erschütterten Stadt. Die „Stiftung für Sexualforschung“
des Sanitätsrates Fröhlich, deutlich orientiert an Magnus Hirschfelds
sexualkundlichen Studien, bastelt an einem neuen Bild des Menschen, entdeckt
die Aufsplitterung des Geschlechtes in eine schier endlose Vielfalt der
Abtönungen zwischen Mann und Frau. Am Ende stehen Menschenversuche,
Operationen zur Gewinnung des Männlichkeitselixiers Andrin etwa,
ganz in düsterer Prophetie der Experimente des Dritten Reiches. Und
zwischen diesem Chaos von (Pseudo-)Wissenschaft und politischer Macht
steht der Kinovorführer Sascha Knisch, der seine Leidenschaft für
Frauenkleidung gemeinsam mit der undurchschaubaren Prostituierten Dora
Wilms entdeckt. Doch bis Sascha Knisch die Wahrheit über sich entdeckt
– und wir mit ihm, denn er ist unser wenig objektiver Erzähler
–, sind zahlreiche Wendungen und Katastrophen zu absolvieren.
Zum ersten Mal begegnen wir dem jungen Mann, als er in
Mädchendessous, mit abgebundenen Genitalien vor einem Spiegel posiert.
Dora hat ihn dazu gebracht, das ‚ungezogene Mädchen‘
in sich entdecken, doch hier ist sie bereits tot – vermutlich ermordert,
doch selten bleibt hier der erste Schein... Auch der ermittelnde Kommissar,
Meisterhirn Manetti, erweist sich später als Frau, doch das war bis
dahin nur dem Helden – und damit uns – verborgen. Detektivgeschichte,
Agentenparanoia, verrückte Wissenschaft, Lebensreform und totalitäre
Machtbehauptung durchdringen sich in endlosem Mäandern und formen
das Porträt einer Gesellschaft am Abgrund – und im Aufbruch.
Und es erscheint nur allzu sinnvoll, diese Reise von einem absolut unzuverlässigen
Erzähler kommentieren zu lassen, dem die 'Wahrheit‘ selbst
immer wieder zwischen den Händen zerfällt. „Die Wirklichkeit
kann so verschieden sein.“
Autor Aris Fioretos (geb. 1960) ist griechisch-österreichischer
Abstammung, wuchs aber im schwedischen Göteborg auf und lebt und
arbeitet nun in Stockholm und Berlin. Nach mehreren Übersetzungen
und Prosaarbeiten könnte dieser scharfsinnige Roman Die
Wahrheit über Sascha Knisch dem Autor eine weitreichende Aufmerksamkeit
bescheren. Selten hat sich ein Roman in den letzten Jahren unverkrampfter
der unerschöpflichen Wunderwelt menschlicher Triebe genähert,
selten bot sich ein treffenderes Modell dafür an als jene sexuell
bewegten Jahre der Weimarer Republik, deren Libertinage mit der Machtergreifung
der Nazis ein so abruptes und erschreckendes Ende gesetzt wurde. Und doch
wird auch hier bereits deutlich, wie nah sich sexuelle Hygiene der Nazis
und radikales Freidenkertum kommen können, wenn sich die zeitgenössische
Sexualforschung zum religiösen Wahn ausweitet. Die Experimente der
'Gesellschaft für Sexualforschung‘ gemahnen nicht selten an
die Menschenversuche in den Konzentrationslagern. Mit Die
Wahrheit über Sascha Knisch hat Fioretos ein ebenso faszinierendes
wie erschreckendes Sittengemälde der späten zwanziger Jahre
entworfen.
Marcus Stiglegger
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