Various Artists

Epicurean Escapism I

CD+DVD, 4 Tracks + Kurzfilme im Digipack
The Epicurean – cure.1, Silken Tofu – stx.23

Seit jeher finden sich im Umfeld der Post-Industrial Szene verschiedene Strömungen, solche die sich „nur“ auf Musik konzentrieren, solche bei denen die Inhalte im Vordergrund stehen und auch ein paar Künstler und Festivals, die einen gesamtheitlichen Ansatz vertreten, die weniger konkret pseudopolitisch oder poppig auftreten als ihre Szenekollegen, sondern eher multimedial verstören.

Das Epicurean Escapism Festival, das bereits drei Mal stattfand, gehört zu letzterer Gruppe. Zwar liegt der Fokus hier auf Konzerten oder musikalischen Performances, doch ist der Rahmen mit getrennten Videovorführungen und Ausstellungen größer gefasst als gewöhnlich.

Zu den ersten beiden Ereignissen wurden passende Sampler veröffentlicht, die in ihrer Aufmachung und Qualität für sich schon bemerkenswert sind. Der vorliegende erste Sampler besticht durch eine wertige Aufmachung, ein schlichtes weißes Digipack, das die Extremität seines Inhaltes nicht jedem auf die Nase bindet. Innen befinden sich dann eine CD, eine DVD und ein ausführliches Booklet.

Die CD enthält 4 Tracks, je einen von Krank, IRM, einer Kollaboration von Human Larvae und Anemone Tube, und Jarl. Jeder dieser Tracks überschreitet die zehn Minuten Grenze und ist auch inhaltlich nicht mit klassischen Industrial-Disco Gassenhauern zu vergleichen. Krank, ein Projekt von Jon Murphy, eröffnet den Sampler mit einem CutUp ähnlichem Arrangement, synthetische Geräusche verschnitten mit jazzigem Damengesang und orientalischen Elementen. Versponnen und introvertiert aber zugleich atmosphärisch und kontemplativ. Den Titel des Stückes „Eyes half closed“ kann man durchaus als Aufforderung verstehen und hervorragend darin eintauchen, nichts Verstörendes, eher etwas fiebrig Lebendiges. Ein schöner Auftakt.

Der nächste Track von IRM ist dagegen eindeutig auf Alptraum gepolt, mehr als fünfzehn Minuten annähernd durchgehend sägende Geräusche und eine wimmernde, zitternde Stimme kratzen da schon deutlich mehr an der geistigen Gesundheit. Nie wirklich laut und auch nie brachial aber schnarrend und enervierend, irgendwo zwischen Ambient und Noise, kantig und gemein, lässt einen das Stück nicht zur Ruhe kommen und fordert die volle Aufmerksamkeit des Hörers ein.

Das dritte Stück wirkt zweigeteilt, wobei der Übergang gut gelungen ist und eher assoziativ gleitet, als abrupt zu sein. Human Larvae und Anemone Tube beginnen mit kalten synthetischen Atmosphären, eine autoritäre Stimme in klassischer PE Spielart legt sich verhallt darüber und bringt somit eine direkte Aggression in die Musik. Weniger selbstherrlich erinnert das Stück anfangs im positivsten Sinne an Ex.Order, allerdings faden diese aggressiven Strukturen ungefähr in der Mitte langsam aus, so dass nur die elegische Atmosphäre übrig bleibt, die zwar nie konkrete Melodien aufgreift, aber trotzdem dunkel harmonisch klingt. Von hier an bewegt man sich in klassischem Dark Ambient Bereich und lässt den Hörer zwar zur Ruhe kommen, aber langweilt dabei nicht.

Zu guter Letzt kommt Jarl, seines Zeichens eine der Personen hinter IRM. Er schließt sich dem Ende des vorigen Stückes an und bewegt sich, auf sehr solidem Niveau, weiter in abstrakten dunklen Gefilden. Nahezu das gesamte Stück ist durchzogen von einem Herzschlag-artigen Rhythmus, der erst im letzten Teil langsam ausklingt. Ansonsten bleiben spannende, das Interesse aufrecht erhaltende Soundscapes zu nennen. Wirklich schönes Kopfkino, wobei schön hier wörtlich gemeint ist, da Jarl im Vergleich mit IRM zwar ebenso dunkel, aber nicht so schmerzvoll zerfressen sind.

Was am Ende das akustischen Teils dieser Veröffentlichung noch sehr positiv auffällt ist, dass zwar jeder Musiker seinen eigenen Stil pflegt aber sich die Veröffentlichung wie aus einem Guss anhört, dynamisch, aber homogen. So etwas ist selten und sehr zu begrüßen.

Das Booklet und die DVD beschäftigen sich ausschließlich mit Martin Bladh, ebenfalls einer der Künstler von IRM.
Schon beim Blättern wird deutlich, wie viel die Industrial-Kultur den großen Köpfen der Fluxus-Bewegung und des Wiener Aktionismus schuldet. Noch bevor man tatsächlich über den Namen stolpert, wecken die Fotos und Texte unweigerlich Assoziationen an zum Beispiel Rudolf Schwarzkogler oder auch die frühen Nitsch Filme.

Auf der DVD befinden sich fünf Kurzfilme, beziehungsweise zusammengehörige Kurzfilmzyklen. Zu jedem davon ist im Booklet ein ausführlicher Text enthalten, der Fluch und Segen ist, da er einerseits den Zugang zu den sperrigen Konstrukten erleichtert, andererseits aber auch sofort den Interpretationsrahmen einengt. Was Bladh von den Wiener Aktionisten unterscheidet ist dass seine Kunst komplett egozentrisch ist, es geht ausschließlich um ihn selbst und seine Fantasien. Seine Kurzfilme sind sehr physisch, sein eigener Körper ist Leinwand und Rohstofflieferant für seine Kunst. Das Thema des menschlichen Körpers als simples Medium für Kunst wird in einer Hommage an den englischen Mörder Dennis Nilsen auch direkt aufgegriffen.

Das prägende Sujet der Filme ist das Spannungsfeld von Masochismus und depressivem Narzissmus. Dadurch dass im Grunde immer Bladh und die Degradierung und auch Verstümmelung seines eigenen Körpers im Vordergrund stehen, wirkt fast jeder einzelne Film wie eine langgestreckte Masturbation. Ähnlich wie in „Pig“ mit Rozz Williams, der auch in einem Teil namentlich referenziert wird, wird hier nicht getrickst, die Schändung und Deformation ist ungespielt und dabei auch eindeutig von Genuss am Selbsthass gezeichnet. Man denkt mehr als einmal an John Duncans „Blind Date“, auch wenn nie dessen Radikalität erreicht wird.

So spannend und kunstfertig die Filme auch inszeniert sind wirken sie oft wie die Produkte eines unreifen, selbstverliebten Geistes irgendwo zwischen Misanthropie und Wehleidigkeit, sehenswert aber auch leicht redundant.

Zusammen genommen muss man sagen dass die gesamte Veröffentlichung dadurch besticht, eben nicht glatt gebürstetes Szenefutter zu enthalten. Jeder Künstler nutzt seinen Anteil, um tatsächlich Kunst zu machen, sperrig und kantig, keinen Industrial-Pop. Danke dafür! Da solche Veröffentlichungen viel zu selten geworden sind, ist hier eine dringende Kaufempfehlung auszusprechen.

Daniel Novak