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Andreas Sudmann
Dogma 95
Die Abkehr vom Zwang des Möglichen
Hannover: Offizin-Verlag 2001, 209 S., ISBN 3-930345-30-7,
17 Euro
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Dogma 95 und kein Ende. Dieser Eindruck könnte entstehen
angesichts der Tatsache, dass der Strom der unter dem Dogma-Label firmierenden
Filme offensichtlich weit davon entfernt ist abzureißen. Noch nicht
einmal eine qualitative Erschöpfung scheint in Sicht, was jüngst
Susanne Bier mit ihrer großartigen, das inflationär gebrauchte
Attribut 'schonungslos' nun wirklich rechtfertigenden Breaking the Waves-Variation
Open Hearts (2002) einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis stellte. Die
mittlerweile auf Hochtouren laufenden filmwissenschaftlichen Bemühungen
um Dogma 95 sind demnach in jeder Hinsicht gerechtfertigt, wenn auch freilich
nicht alle Beiträge das beachtliche Niveau der hier zur Diskussion
stehenden Untersuchung erreichen, die als die erste deutschsprachige Monographie
zum Thema gelten darf und der man – dies sei bereits an dieser Stelle
gesagt – den Status eines, noch dazu sehr gut lesbaren Standardwerkes
schwerlich wird absprechen können.
Sudmann legt seinem Argumentationsgang eine dreischrittige
Struktur zugrunde. Hierbei widmet er sich – in dankenswerter Weise
um die Kontextualisierung seines Gegenstandes bemüht – im ersten
Abschnitt zunächst den filmgeschichtlichen Bezugspunkten von Dogma
95, namentlich dem italienischen Neorealismus, der Nouvelle Vague (obgleich
sich Lars von Trier und Thomas Vinterberg im Dogma-Manifest dezidiert
vom auteur-Prinzip distanzierten) sowie dem Direct Cinema, um im Anschluss
daran einige klassische filmtheoretische Positionen (André Bazin,
Siegfried Kracauer und Bertolt Brecht) hinsichtlich ihrer Nähe zur
Dogmaästhetik zu befragen. Wenn Kracauer in seiner Theorie des Filmes
erklärt, das Kino sei "besonders dazu befähigt […],
die Errettung physischer Realität zu fördern", so scheint
die Affinität zur "Rettungsaktion" Dogma 95 in der Tat
auf der Hand zu liegen, doch behält Sudmann zu Recht die offenkundigen
Unterschiede im Blick, wenn er erklärt: "Entsprechend dem Programm
Kracauers der 'Errettung der äußeren Wirklichkeit', wie letztlich
auch der Untertitel seines theoretischen Werkes lautet, ist auch im dänischen
Manifest von einer 'Rettungsaktion' […] die Rede, wobei darin weniger
das, 'was' gerettet werden soll, spezifiziert wird, sondern eher das,
'wovor' man den Film retten will, und wie dies zu erreichen ist."
(S. 50) Und zwar ist es – so deuten von Trier und Vinterberg im
Manifest recht unmissverständlich an – vornehmlich das von
Sudmann im zweiten Untersuchungsabschnitt genauer in den Blick genommene
(digital aufgerüstete) Illusionskino US-amerikanischer Provenienz,
das den Film bedrohe und dem allein mit einem rigorosen Purismus zu begegnen
sei. Dieser präsentiert sich laut Sudmann nur auf den ersten Blick
als Selbstkorsettierung, erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch
– und hierauf zielt der Untertitel der hier zur Diskussion stehenden
Studie ab – als "Befreiungsschlag aus dem wesentlich mächtigeren
Korsett, das das konventionelle (Hollywood-)Kino mit all seinen trügerischen
Möglichkeiten vorschreibt." (S. 71) Ist diese These auch zweifellos
bedenkenswert, so könnte dem Verfasser möglicherweise der Vorwurf
gemacht werden, dass er hierbei in gewisser Weise die unter anderem von
Boris Groys in Über das Neue bzw. Logik der Sammlung so treffsicher
beschriebenen, freilich auch für Dogma 95 geltenden Zwänge der
Avantgarde etwas unterschätzt.
Im dritten, möglicherweise gelungensten Abschnitt
legt Sudmann schließlich eine ausführliche Beispielanalyse
von Vinterbergs 1998 angelaufenen Das Fest vor. Und zwar rückt der
Verfasser sowohl die Figurenkonstellation und -charakterisierung als auch
die Kameraarbeit, die Montage und die Soundebene des Filmes in den Fokus
und kommt hierbei zu einigen hervorragenden Ergebnissen, etwa wenn er
den Kamerablick mit der im Film so prominenten Kindheitsthematik in Beziehung
setzt (S. 109) oder aber, die in einigen Kritiken bereits angesprochenen
Hamlet-Anleihen wesentlich vertiefend, den Protagonisten Christian als
Nachfahren des shakespeareschen Dänenprinzen profiliert (S. 125f.).
Auch die Mitberücksichtigung anderer Dogma-Filme, und zwar vor allem
der radikalen Idioten (1998) von von Trier sowie des in vielerlei Hinsicht
konventionelleren bzw. 'undogmatischeren' Mifune (1999) von Søren
Kragh-Jacobsen, erweist sich in diesem Zusammenhang als gleichermaßen
lohnend wie informativ.
Als Fazit sei angemerkt, dass Sudmanns Studie, deren
Abschluss ein ausführlicher Interviewteil bildet (auch Vinterberg
kommt auf zehn Seiten zu Wort), in jeder Hinsicht als lesenswert zu gelten
hat. Hierbei sind es speziell die wissenschaftliche Sorgfalt sowie der
scharfe, auch vermeintlich unbedeutende Details erfassende Blick des Autors,
die für den durchweg positiven Gesamteindruck verantwortlich zeichnen.
Wer sich in Zukunft also mit Dogma 95 beschäftigen wird, der wird
um Sudmanns Untersuchung nicht herumkommen.
Jörn Glasenapp (Universität
Lüneburg)
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