The Director's Label

(Palm Pictures / Mute)

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Bisher erhältlich:
Chris Cunningham, Spike Jonze, Michael Gondy, Anton Corbijn, Mark Romanek. Jonathan Glazer und Stéphane Sednaoui

Bereits im letzten Jahr brachte Palm Pictures mit seiner Reihe Director's Label eine Reihe von Video- und Kurzfilmcompilationen heraus, auf denen sich international renommierte Clipregisseure in ihrer kreativen bandbreite vorstellen konnten. Die einzelnen Editionen versammelten die gesamten Musikclips - oft von prominenten Künstlern wie Björk, Madonna, Beastie Boys, Aphex Twin usw. -, Werbespots, Experimentalfilme und sogar Spielfilmausschnitte (bei Jonathan Glazer) mit kurzen Interviews, Making-Of-Dokus und einem informativen Booklet (inklusive Zeichnungen, Fotos und Interviews) zu einer umfassenden und schillernden Werkschau.

Nachdem Chris Cunningham (sieh unten), Michael Gondry und Spike Jonze bereits gewürdigt wurden, macht sich die zweite Staffel andas Werk von Anton Corbijn, Mark Romanek, Jonathan Glazer und Stéphane Sednaoui, die mit ihren Clips die Musikwelt entscheidend geprägt haben und ohne die vor allem das spezifische Image ihrer dargestellten Stars niemals dasselbe wäre. Bei Crobijn bezihet sich das auf Depeche Mode, Nirvana und sogar Joy Division, bei Glazer auf Radiohead (großartiger Clip mit Denis Lavant) und Jamiroquai, bei Romanek auf den posthum erstellten Johnny-cash-Clip "Hurt", bei Sednaoui auf Björk und die Red Hot Chili Peppers.

Anbei stellvertretend eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Werk Chris Cuninghams, das 2004 auf dem Director's Label erschienen ist. Leider ist der hier analysierte Film FLEX dort nur als kurzer Ausschnitt zu bewundern.

 

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Videoskulpturen

Die bizarren Körperbilder von Chris Cunningham

Im Frühjahr 2002 öffneten sich die Türen eines Raumes im Berliner Museum für Gegenwartskunst, dem Hamburger Bahnhof, ausschließlich dem volljährigen Betrachter. Angesichts zahlreicher Ausstellungen zum Wiener Aktionismus, zum Mythos Blut in der Kunst, angesichts auch der Fotos von Nobuyoshi Araki, Joel-Peter Witkin und Robert Mapplethorpe verwundert es doch, dass ein visuell-gestaltender Künstler heute noch an der Tabugrenze innerhalb des etablierten Galeriebetriebes rühren kann. Die Neugier des Publikums war geweckt... Besagter Raum diente einer Vorführung der 'Videoskulptur‘ „Flex“ (2000) des 1971 geborenen britischen Videoclip-Spezialisten Chris Cunningham.

Cunningham scheint seit zwei Jahrzehnten durch unerschöpfliche Besessenheit von Cyborgs, Comicästhetik und Anatomie motiviert. Bereits im Alter von 19 Jahren gelang es ihm, für britische Genrefilme wie Clive Barkers „Cabal – Brut der Nacht“ (1990) und Richard Stanleys „M.A.R.K. 13“ (1990) das Kreaturendesign zu entwickeln. Jahrelang beschäftigten ihn auch die Roboter von Stanley Kubricks unvollendetem Projekt „A.I.“, das später bekanntlich als amerikanische Produktion entstand. Berühmt wurde Cunningham allerdings durch seine eigenwilligen Musikvideoclips, die sich sehr sperrig zur üblichen Popstar- bzw. Image-Affirmation verhalten. Klang und Bild stehen zunächst ganz abstrakt im Mittelpunkt seines Werkes: „Der Ursprung meiner Ideen liegt in meinen Reaktionen auf Klänge. [...] Ich habe meine ganze Kindheit damit verbracht, mit geschlossenen Augen neben Lautsprecherboxen zu liegen, Musik zu hören und dabei zu träumen“ (Interview in Time Out).

Das Schöne und das Hässliche – beides wurde zum Markenzeichen des jungen Künstlers: In „Frozen“ (1998) stilisiert er Madonna in der surrealistisch anmutenden Mojave-Landschaft zur transzendentalen Ikone, deren Körper sich in schwebenden, eleganten Bewegungen den Schwingen der Krähen angleicht, die sie generiert. Kameramann Darius Khondji („Sieben“) fotografierte hier wie auch später die morbide Bildwelt. „Come to Daddy“ (1997) visualisiert den schrägen Industrial-Rocksong von Aphex Twin, indem die industrielle Londoner Vorstadt zur Schreckensarena überzeichnet wird: mit schwarzen Pfützen, ausgeblichenen, korrodierten Oberflächen und vereinsamten Bewohnern. Über ein Fernsehgerät belebt, sammelt eine bleiche Schreckensgestalt mit dem Gesicht des Aphex Twin-Musikers Richard D. James die Kinder der Vorstadt um sich, die letztlich alle maskenhafte Zerrbilder seines eigenen Gesichtes tragen. Diese Vervielfältigung von James findet sich auch in den verfremdeten Collagen von „Windowlicker“ (1999). „Africa Shox“ (1999) von Leftfield inszeniert die buchstäbliche Auflösung eines menschlichen Körpers, der bei Berührungen wie Glas zerbricht.

Berühmt ist vor allem Cunninghams Vision von Björks Song „All Is Full Of Love“ (1999), wo die vorangehenden Schreckensszenarien auf einfühlsame Weise pointiert werden. In einer vollautomatisierten, lichtdurchfluteten Fabrik montieren Maschinen einen menschenähnlichen Cyborg mit dem Gesicht von Björk, der zunächst mit einer porzellan-artigen Hülle versiegelt wird und schließlich auf sein Ebenbild trifft, das er zärtlich umarmt und liebkost – die Liebe der Maschinen in einer pantheistischen Hymne: Alles sei voller Liebe, selbst der 'Geist in der Schale‘. Cunninghams Videoclips hinterfragen in assoziativen Modellen die Bedeutung des Körpers und seiner Sexualität in einem hypertechnisierten, reproduzierenden Zeitalter.

Lange schon ist Chris Cunninghams Adaption des Cyberpunkromans „Neuromancer“ von William Gibson in Vorbereitung, und es überraschte auch seine Fans, dass der nächste Karriereschritt in die Säle der internationalen Kunstmuseen führte. Als erstes präsentierte die Royal Academy in London Cunninghams 15minütigen Film „Flex“ im Rahmen der Ausstellung „Apocalypse: Beauty and Horror in Contemporary Art“ im September 2000. In langer Schlange warteten die Besucher auf eine Chance, das durch entrüstetes Feuilleton vorbelastete Werk zu begutachten. Was „Flex“ bietet, ist schwer in Worte zu fassen, da es sich um ein ausschließlich die Sinne belegendes Montagekunstwerk handelt: Ein Mann und eine Frau (meist reduziert auf ihre nackten Körper) begegnen sich hier mehrmals. Vor einem tiefschwarzen 'Nichtraum‘ tauschen sie brutale Schläge aus, gezeigt in einer rasenden Bildfolge mit verzerrten Klängen von Aphex Twin. Schließlich hat der männliche Körper die Gewalt über den weiblichen errungen und beginnt, ihn in eben solchen desorientierend-rasenden Bildfolgen zu penetrieren. Eine Phase körperlicher Erschöpfung folgt, in der sich die geschundenen Körper langsam zärtlich annähern, bis sie sich in einem grellen bläulichen Lichtstrahl aufzulösen scheinen.

Cunnighams zuvor etablierte filmische Ausdrucksmittel finden sich auf hohem Niveau wieder. Exzessiv arbeitet er in der Montage mit abwechselnder Beschleunigung und Dehnung der Zeit, wobei die verletztlichen – wenn auch straffen und fast werbeästhetisch schönen – Körper mal zu Marionetten und mal zu fließenden Landschaften generieren. Ungewohnt intensive Nahaufnahmen registrieren die Textur und Oberfläche der Haut, ihrer Härchen und Poren, aber auch ihre Wunden und organischen Flüssigkeiten, und schaffen zugleich in ihrer reduzierten Farbigkeit eine ambivalente ästhetische Ebene. Dabei treten Irritationen auf: Was zunächst wie ein muskulöser, adriger Unterarm wirkt, entpuppt sich durch leichten Perspektivwechsel als ein erigierter Penis. Cunningham kombiniert hier das muskeldefinierte Körperbild der Comic-Superhelden mit Michelangelos klassischen Skulpturen auf fast zynische Weise. So verletzlich der Körper zweifellos ist, so monumental erscheint er zugleich in solch monströsen Close-Ups.

Max Wigram, Ko-Kurator der Londoner Ausstellung interpretiert dieses pointierte Körperdrama als Studie einer weiblichen Angst vor Vergewaltigung („flex“ heißt auch „beugen“, also „zwingen“): „Viele Menschen werden es verstörend finden, das gilt auch für mich, aber der Film vermittelt eine Menge über die Dynamik von Missbrauchsbeziehungen auf sehr ästhetische Weise.“ Diese betont rationale Lesart zeigt selbst eine Art der Berührungsangst und kollidiert mit Cunninghams ignoranter Selbstaussage: „Dieser Film ist mir nicht ganz gelungen, da er stellenweise so aussieht, als würde das alles etwas bedeuten...“ Tatsächlich machen es Cunninghams radikale Körperstudien – ob nun in seinen Videoclips oder in dieser ambitionierten Videoskulptur „Flex“ – jedem Teil des Publikums schwer: Oft schweben die Szenarien in einem irrealen ‚Antiraum‘ ohne klare Bezüge, oft auch kreisen seine Filme innerhalb ihres Modells, ohne eine Lösung aus dieser Hermetik zu bieten. „Flex“ ist zunächst einmal die Nahaufnahme einer filmischen Grundkonstellation: des ewigen Kampfes zwischen den Geschlechtern, die sich hier auf unterschiedliche Weise annähern: in der Liebe, in der Gewalt, im Tod – und verschmelzen in einem merkwürdig transzendentalen Akt der Wiedergeburt... Doch auch hier entzieht sich das Werk, will allenfalls wiedergesehen werden ähnlicher einer Skulptur, die es von allen Seiten zu betrachten gilt. Letztlich kann es nur Cunninghams Konzept zugute kommen, dass ein Film immer Phantom und Simulakrum bleiben wird. Der Zuschauer wird niemals zum 'eigentlichen Kern‘ vorstoßen können. Und Cunningham schweigt.

Marcus Stiglegger