Louis-Ferdinand Céline

Reise ans Ende der Nacht
Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel

Reinbek bei Hamburg: Rowolth 2003, gebunden, 736 Seiten, ISBN 3-498-00926-5

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Von dem umstrittensten Klassiker der modernen franzöischen Literatur - Louis-Ferndinand Céline - blieb bis heute vor allem ein negativer Mythos: Céline als ein zerrissener Mensch und ambivalenter Künstler, der Widerstandskämpfer schützte und zugleich mit der Vichy-Regierung kollaborierte, der ebenso antisemitische Pamphlete verfasste wie auch monumentale moderne Romane. Zu seinen Bewunderern zählten Henry Miller und Günther Grass, auch Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Damals wie heute gilt es zu überprüfen, ob der Autor seinem legendären Ruf als konsequenter - wenn auch kulturpessimistischer - Sprachkünstler gerecht wird.

In ihrem analytischen Standardwerk Pouvoir de l’horreur widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva ganz dem Werk dieses Schriftstellers, der zu den großen Ausgestoßenen der französischen Literaturgeschichte gehört. An Céline efiniert sie das 'Abjekte‘, jenen aus uns selbst verstoßenen, ausgegrenzten Bereich, den wir zu einer Art indirekten Selbstdefinition benötigen. In Célines drastischsten Texten, vor allem dem antisemitischen Pamphlet Bagatelles pour un massacre, erschafft sich Céline das 'Abjekte‘ in einer rassistischen und menschenverachtenden Projektion. Und als sich das politische Klima wandelt, wird er selbst zum 'Abjekt‘ der Literaturwelt: einem politisch verirrten Künstler, dessen Ruf durch nichts zu retten ist. Fast im Trotz schreibt er drei Romane über seine lange Flucht ins dänische Exil, in denen er noch einmal jene heute legendäre Kunstsprache kultiviert, seine atemlose Mischung aus französischem Argot (Gossensprache), philophischen Geistesblitzen und ironischer Hochsprache. Heute, über 40 Jahre nach seinem Tod, ist es vor allem sein erstes Buch, das sich halten konnte und jüngst in einer authentischeren Übersetzung vorliegt: Die Reise ans Ende der Nacht (1932).

Zu Beginn der Reise geht Céline ausdrücklich mit sich selbst ins Gericht (S.9), klagt sich selbst an: „Wegen Ihrer Verbrechen da krepieren Sie, da gibt es nichts! Das ist Ihr selbst heraufbeschworener Fluch! Ihre Bagatellen! Ihr ungeheurerliches Geschäume! Ihre bunte, ulkige Schändlichkeit. [...] das einzige wirklich böse von meinen Büchern ist die Reise ...“ Ein Reiseroman klassisch-monumentalen Zuschnitts ist diese Werk, und zugleich eine zeitgenössische Variante des moralischen Stationendramas Candide von Volatire, über einen gutmütigen Narren, der auszieht, die „beste aller Welten“ zu finden, und überall nur mit Schrecken und Tod konfrontiert wird. Der Medizinstudent Ferdinand Bardamu meldet sich auf der Suche nach einem klaren Sinn und Ziel freiwillig als Soldat zum Ersten Weltkrieg. Bar jeder Illusion erlebt er das „Stahlgewitter“ nicht als Jüngersches 'Erweckunserlebnis' sondern als „apokalyptischen Kreuzzug“, der allenfalls dazu diene, die Armen der Gesellschaft zu vernichten. Diese Gedanken teilt er mit dem Deserteur Robinson, dem er auch später noch begegnen wird. Baradmu setzt sich in die afrikanische Kolinie ab, um dort leichter zu Geld zu kommen, doch auch dort erlebt er einen dratsischen Klassenkonflikt, der die Menschen zu habgierigen Bestien macht. Auch hier sieht er in den Afrikanern keine Hoffnung auf Veränderung, kein revolutionäres Potential. Voller Vorbehalte geht er ihnen aus dem Weg, beargwöhnt sie wo es geht aus der Ferne. Als er schwer erkrankt, verkaufen sie ihn auf eine Galeere, auf der es Bardamu in die „Neue Welt“ verschlägt (S.263): „Dies ganze Amerika setzte mir zu, stellte mir gewaltige Fragen und flößte mir jede Menge scheußliche Vorahnungen ein.“ Die Höhen und Tiefen dieser Gesellschaft lernt er vornehmlich aus Perspektive der Gosse kennen...

Wie Céline selbst kehrt Bardamu nach Paris zurück (knapp nach der Hälfte des Buches) und eröffnet dort eine Arztpraxis für die verarmte Bevölkerung. Liebe zum Leben, mitleidige Verachtung der Menschen und eine manische Sucht nach Hygiene kommen hier zum Tragen. Dort trifft Baradmu auch sein Double Robinson wieder: „Dass ich Robinso wiederbegegnet war, das hatte mir doch einen Schlag versetzt und bewirkt, dass eine Art Krankheit erneut losging.“ Doch Robinson wird ermordet und Bardamu bleibt in der Pariser Banlieue zurück, geleitet von der beachtlichen Erkenntnis, nur die „Liebe zum Leben der anderen“ könne einen Menschen über sich selbst hinaus wachsen lassen.

Célines Reise ist eines jener philosophischen und nahezu moralischen Traktate, die um 1930 in jenem Spannungsfeld zwischen Wirtschaftskrise, Nihilismus und aufkeimender totalitärer Gesinnung entstehen konnten. Das Buch schildert drei Welten, Europa, Afrika und Amerika, und entdeckt überall die gleichen Mechanismen am Werk: die Reichen beuten die Armen aus, die Armen sichern sich die ihnen verbleibenden wenigen Privilegien mit purer Gewalt. Und trotz dieser nihilistischen Erkenntnis, die keinen utopischen Ausweg zu lassen scheint, wendet sich Bardamu einer wohltätigen Berufung zu: Er versorgt die Ärmsten der Banlieue, Stoff für einen umfassenden weiteren Roman Célines: Tod auf Kredit... Dabei bleibt im Herz seiner Literatur die fast blinde Verzweiflung, die sich an Form und Inhalt bricht, und die noch einmal verweist auf die zugleich ungeheure Destruktivität seiner Werke: „Wenn ich dastünde, in die Enge getrieben, sozusagen aufrecht, mit dem Rücken gegen etwas ... ich würde alles vernichten“ (S.10).