Steffen Hantke Caligari's Heirs The German Cinema of Fear after 1945 Scarcrow Press, Lanham 2007 Die „dämonische Leinwand“ (Lotte Eisner) der Weimarer Republik als Mutter des modernen Horror-Genres, mit ihrer Beeinflussung durch den Expressionismus, mit ihrer thematischen Vorliebe für alle Schattenseiten der menschlichen Existenz? Herausgeber Steffen Hantke schlägt einen „offenen“, postmodern geprägten Genre-Begriff vor, der helfen soll, heterogenes Klassifikationsmaterial neu zu evaluieren, in Hinblick auf Konzepte, die künstlerischen Ausdruck zugleich ermöglichen und erleichtern. Simultan aber macht Hantke einen Rückschritt, wenn er sich der Terminologie „Horrorfilm“ verweigert und stattdessen von „cinema of fear“ spricht – darauf verweisend, dass weder Robert Wienes DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920), Friedrich Wilhelm Murnaus NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (1922), Stellan Ryes DER STUDENT VON PRAG (1913) noch Fritz Langs DR. MABUSE, DER SPIELER (1922) und M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (1931) als Horrorfilme produziert, verliehen oder rezipiert worden seien. Entscheidend erscheint aber doch, wie besagte Filme gleichwohl bis heute als Prototypen des Genres fungieren: DAS CABINET DES DR. CALIGARI für klaustrophobische Albtraumfantasien, NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS für Geschichten um untote Blutsauger, DER STUDENT VON PRAG für kinematographische Aufarbeitungen des Doppelgängermotivs, M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER für den Serienkillerfilm, DR. MABUSE, DER SPIELER für das Paranoiakino. In fünf Abschnitte ist Hantkes Reader zum deutschen Kino der Angst, zum Kino von Caligaris Erben nach 1945 gegliedert. Zunächst werden Strategien der Vergangenheitsbewältigung im frühen bundesdeutschen Kino thematisiert, mit kundigen Texten zu Langs MABUSE-Trilogie (1922-1960), zu Peter Lorres Noir-esker Erinnerungsarbeit DER VERLORENE (1951) und Robert Siodmaks bitterer Politphantasmagorie NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM (1957). Ein zweiter Teil versucht symbiotische Relationen zwischen Horror- und Autorenfilm aufzuzeigen, wobei mit Werner Herzogs NOSFERATU – PHANTOM DER NACHT (1979), Uli Lommels DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE (1973) und Romuald Karmakars DER TOTMACHER (1996) plausible Beispiele gefunden werden - die sich zudem alle in Beziehung zur dämonischen Leinwand setzen lassen, zu Friedrich Wilhelm Murnau und Fritz Lang. Der dritte Abschnitt des Buches überzeugt mit Analysen zu Eckhard Schmidts Bahnhofskinoperle DER FAN (1992) und Roland Emmerichs Budenzauber JOEY (1984/85), bietet aber auch einen Aufsatz über Michael Hanekes FUNNY GAMES (1997). Was in doppelter Hinsicht negativ auffällt: Zum ersten handelt es sich dabei um keine deutsche, sondern eine österreichische Produktion. Dann aber vermisst man zumindest einen Hinweis auf Gerald Kargls ANGST (1983), dem nach wie vor wichtigsten Horrorfilm Österreichs, vielleicht sogar der 1980er Jahre überhaupt. Zum zweiten erschreckt, dass FUNNY GAMES augenscheinlich auch im englischsprachigen Raum bedeutungsschwer interpretiert wird. Ein trauriger Beweis dafür, dass Großfeuilletons und akademischer Betrieb anscheinend allerorts auf reaktionärsten Betroffenheitskitsch anspringen, wenn der sich nur prätentiös genug präsentiert. Man hätte sich stattdessen in einer Studie zum deutschen Horrorfilm eine Auseinandersetzung mit ernstzunehmenden Genre-Beiträgen gewünscht, gerade auch jüngerer Couleur: mit Robert Sigls SCHREI – DENN ICH WERDE DICH TÖTEN (1999), Stefan Ruzowitzkys ANATOMIE (2000) und ANATOMIE 2 (2002), Robert Schwentkes TATTOO (2002) oder Christian Alvarts ANTIKÖRPER (2005). Ernst genommen werden glücklicherweise aber auch die Filme von Christoph Schlingensief und Jörg Buttgereit, mit drei Texten, die vor allem den theoretischen Brückenschlag zwischen der Analyse von Körperauflösungsästhetik im Splatterfilm und kulturphilosophischen Konzepten von Barbara Creed, Judith Halberstam und Teresa de Lauretis, aber auch George Bataille, Michel Foucault oder Gilles Deleuze wagen. Abgerundet wird der Band durch drei Interviews, die Marcus Stiglegger mit Jörg Buttgereit, Robert Sigl und Nico Hoffmann geführt hat. Alle Filmemacher äußern sich zum problematischen Verlauf ihrer Karrieren und gewähren Einblick in die sozialen wie ökonomischen Bedingungen, unter denen in Deutschland Genrekino gemacht wird. „Caligari’s Heirs“ schafft so die allzu oft nicht realisierte Verständigung zwischen Filmtheorie und Filmpraxis, zwischen Filmwissenschaft und Atelierästhetik, und empfiehlt sich trotz seiner Schwächen als erstes Standardwerk zum Themenkomplex. Ein Standardwerk zum deutschen Kino, das – wie könnte es heute anders sein – aus dem Ausland kommt. rit |
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