|
Die blaue Grenze
3,5 / 5 Sterne
BESTELLEN
Regie: Till Franzen
Länge: 102 (Min)
Produktionsort/- jahr: Deutschland 2005
FSK: 12 EAN: 4009750222485
Erschienen bei: epix
Veröffentlichungsdatum: 16.11.2006
Bildformat: 2.35:1 (anamorph)
Ton/Sprache: Dolby Digital 5.1, Deutsch, Dänisch
Extras: Making of, Interview mit Till Franzen, Audiokommentar, entfallene
Szenen, Titelsong, Kino-Trailer, Biographien Hauptdarsteller: Antoine
Monot Jr., Dominique Horowitz, Beate Bille, Joost Siedhoff, Hanna Schygulla
„Das Leben wiederholt sich, wiederholt sich,
wiederholt sich“, schrieb Luigi Malerba, einer der bedeutendsten
Schriftsteller italienischer Gegenwartsliteratur, in seinem vielleicht
beschaulichsten Roman „Die fliegenden Steine“. In ihm begibt
sich der unbeholfene, aber gutmütige Maler Ovidio Romer auf eine
lange Reise, die eine Suche nach sich selbst und seiner Vergangenheit
darstellt. Hätte sich Ovidio dabei an die Flensburger Förde
verirrt, wäre ihm sicher der schweigsame, untersetzte Momme (Antoine
Monot jr.) aufgefallen, der ähnlich nachdenklich und unsicher nach
Halt im Leben sucht. Till Franzens Protagonist ist nur einer der zahlreichen
skurrilen, aber liebenswerten Figuren, deren Wege sich in seinem Erstlingswerk
DIE BLAUE GRENZE kreuzen. Auf ungewöhnlich kraftvolle Weise gelingt
es dem Regisseur, trockenen nordischen Humor mit der mystischen Welt der
Toten zu einem ungewöhnlichen „Heimatfilm“ zu verbinden.
Und Malerbas Mantra-Zitat ist das erste, was der Zuschauer hört,
wenn er durch Wolkenschwaden hindurch an der rauen nordischen Küste
landet.
„Die Blaue Grenze“ ist die Bezeichnung für
die Förde in Flensburg, für das Meer, das Deutschland von Dänemark
trennt, aber auch eine Umschreibung für den mystisch verschwommenen
Übergang zwischen Leben und Tod, Abschied und Neubeginn. In dieses
Limbo geraten die Protagonisten des Films: Momme, der von einem Spaziergang
am Meer zurückkehrt und seinen Vater tot auf dem Küchenboden
findet. Hauptkommissar Owe Poulsen (Dominique Horwitz), der eine leidenschaftliche
Abschiedsrede über Tennis und Moral hält. Nicht nur das Publikum
ahnt, dass die wenigen anwesenden Kollegen nicht allzu traurig über
Poulsens Übergang in den Ruhestand sind. Und schließlich Mommes
Großvater, der nie wieder richtig zurück ins Leben finden konnte,
seitdem seine Frau gestorben ist. Überall wittert er den Tod: „Dat
stinkt hier!“ Um sie herum spinnen sich Geschichten voller Einsamkeit
und Melancholie, aber auch voller Hoffnung, schrulligem Humor und skurrilen
Begegnungen. Sie alle wandeln im Grenzgebiet, auf der Suche nach einem
neuen Ziel.
Der Film beginnt mit der Reise des untersetzen, reichlich
verklemmten Momme zu seinem Großvater, dem er vom Tod seines Sohnes
berichten muss. Der waschechte Norddeutsche lädt ihn erst einmal
auf einen „heißen Muck“ in seine Laube ein. Beide sprechen
wenig, und wenn, nur in feinstem Platt. Doch Momme bekommt die schlechte
Nachricht nicht über die Lippen.
Genauso wenig gelingen ihm charmante Worte, als er auf die
schöne, geheimnisvolle Lene (Beate Bille) trifft. Sie ist der einzige
Lichtblick auf einer reichlich seltsamen Party in der Gartenlauben-Siedlung,
die Franzen liebevoll nach autobiographischem Einfluss „Stille Liebe“
nennt. Dort tummeln sich zahlreiche schräge Gestalten, die weder
den Lebenden noch den Toten eindeutig zuzuordnen sind. Die Atmosphäre
der Feier steht stellvertretend für die dichte, düster-skurrile
Stimmung des gesamten Films: Unter künstlichem Gewittergrollen tritt
ein verkappter Cowboy vor die betäubte Partygesellschaft und predigt
unter zuckendem Stroboskoplicht von zwei Muscheln, die eine für die
lebenden Toten und die andere für die Liebe. Bei aller Atmosphäre
treibt es Till Franzen zeitweise etwas weit mit der Darstellung seiner
Todessymboliken: Kerzen erlischen wie von Geisterhand, auf dem Tisch liegen
tote Aale mit weit geöffnetem Maul und der predigende Cowboy erinnert
doch sehr an den gerne zitierten Fährmann. Die hübsche Lene
findet wie Momme eine Muschel in ihrer Bowle – bleibt nur die Frage,
wer die Muschel für die lebenden Toten und wer die für die Liebe
bekommen hat.
Währenddessen in einem hell erleuchteten, unpersönlichen
Zimmer auf dem Polizeirevier: Hauptkommissar Owe Poulsen hält eine
Abschiedsrede und kommt gerade richtig in Fahrt. Und damit das Publikum
– im Gegensatz zu den wenigen gelangweilten Kollegen – an
der Euphorie des Kommissars richtig teilhaben kann, führt der Regisseur
es kurzerhand in den Kopf desselben. Plötzlich schnellen zischende
Laute von Tennisbällen durch den Raum, denn Poulsen ist bei seiner
Lieblingsmetapher, dem Leben als Tennisspiel, angekommen. Diese kleine
Extravaganz, die sich von dem eher gedeckten, schlichten Stil des Films
abhebt, ist bezeichnend für den Tonfall des Handlungsstrangs um den
energetischen, aber trottelig-naiven Hauptkommissar. Auch er hat seinen
Platz im Leben noch nicht gefunden, besonders nun, da er nach seiner Pensionierung
nicht mehr den verwegenen Kommissar mimen darf. Doch frisch geht es in
einen neuen Lebensabschnitt: Einmal eingerichtet im neuen Heim trifft
er auf eine geheimnisvolle Nachbarin (Hannah Schegulla), die ihn sanft,
aber gnadenlos zwingt, sich seiner im Grunde genommenen einsamen und traurigen
Existenz zu stellen.
Ein absoluter Glücksfall ist das Casting und die hervorragenden
Leistungen der Darsteller: So wird der frisch pensionierte Hauptkommissar
köstlichst durch den deutschen Schauspieler mit den schönsten
Segelohren verkörpert: Dominique Horwitz. In seiner betont übertriebenen,
beharrlich dämlichen, gleichzeitig nervtötenden Charakterisierung
der Looser-Figur werden selbst fröhlich bediente Klischée
zum Genuss: Da läuft das Verhör auf dem Revier eher wie eine
Sketchshow ab oder der Recht schaffende Pensionär mäht lässig
den Rasen, um die neue Nachbarin ganz zufällig kenne zu lernen. Und
auch bei dieser Figur zaubert Franzen eine einmalige Schauspielerin auf
die Leinwand: Die merklich gealterte Hannah Schygulla. Sie spielt die
Rolle einer mystischen Frau, die mit warmer Stimme unter fröhliche
Oberflächlichkeiten fühlt. Ihre ikonenhafte Präsenz, die
sie durch Arbeiten mit großen Meistern wie Fassbinder, Godard, Wenders
mit sich bringt, setzt Franzen geschickt ein: Ihre imposante Erscheinung
spiegelt sich in der geisterhaft, mythischen Figur der einsamen Frau wieder.
Sie wird schließlich Poulsen zu seinem eigenen Grab führen
und ihm vor Augen führen, dass das Leben kostbar und kurz ist.
Die interessante Besetzung lässt sich leicht erweitern:
Sebastian Schipper, der Regisseur des deutschen Kultfilms ABSOLUTE GIGANTEN,
spielt den Polizisten Biskop. Als guter Freund von Franzen schlüpft
er in seine ursprünglich gelernte Rolle des Schauspielers und gibt
dem klamaukig-senilen Ordnungshüter-Trio eine weitere nordische Note.
Neben der leicht sperrigen, aber umso ungewöhnlicheren
und phantasievolleren Geschichte, gelingt Franzen auch auf visueller Ebene
eine eigenwillige, aber ansprechende Note. Er bietet Bilder, die fürs
Kino gemacht sind: Seine Figuren stapfen durch weite Totalen von Häfen,
Landschaften, an einem einsamen Baum auf einer Anhöhe vorbei. Die
Einsamkeit der Figuren wird durch die Weitläufigkeit der Bilder untermalt,
ohne den Holzhammer anzusetzen. Der Look ist passend zur Gesamtstimmung
leicht entsättigt; beinahe weht dem Publikum beim Anblick des grauen
Himmels und des weiten Meers eine frische Brise um die Nase. Dazu wählt
Franzen eine getragene Musik, fast zu orchestrale und beladen für
die klaren, weiten Bilder. Passend dagegen ist sie bei den köstlich
bedeutungsschwangeren Einstellungen, wenn Hannah Schegulla am Kaminfeuer
sitzt und langsam aufsieht.
In einem furiosen Finale führt Franzen alle seine Figuren
im Krankenhaus zusammen: Momme macht sich in einem gestohlenen Kahn auf
den Weg nach Dänemark, um seine geliebte Lene wieder zu sehen. Als
er den Außenmotor seines Schifferboots anwirft, reißt die
Startleine und er fällt ins Meer. Schwerelos schwebt er zwischen
dunkelblauen Wasserschwaden. Zeitgleich prallt ein Rabe – richtig,
wieder eine Todessymbolik – auf die Windschutzscheide des Lasters
zweier Kleinganoven, die zuvor Kommissar Poulsens Wohnung ausgeräumt
haben. Sie landen im Graben und, wie es der Zufall will, kommt Kommissar
Poulen mit seiner Nachbarin am Unfallort vorbei. Schließlich sitzen
alle, inklusive Lene, die ebenfalls große Sehnsucht nach Momme hatte,
im Krankenhaus. Die hübsche Dänin streichelt ihren bewusstlosen
Momme, der in diesem Moment die Augen aufschlägt. Am Ende sind alle
Figuren ein Stückchen weiter gekommen auf ihrer Suche nach einer
Richtung oder dem Leben selbst. Jede auf ihre Weise und in kleinen Schritten,
aber im Norden geht nun einmal alles ein wenig langsamer. Bis zum Ende
lässt Franzen die Frage offen, ob Momme zu den lebenden Toten gehört
oder ob er die Liebe gefunden hat. Vielleicht beides.
Einzigartig und unglaublich liebevoll ist der nordische
Humor, den Franzen gleichermaßen zelebriert und aufs Korn nimmt.
Für echte Nordlichter mit Hang zu skurillen Verschrobenheiten, die
auch künstlichen Gewittern und mopetfahrenden Alt-68ern etwas abgewinnen
können, ist DIE BLAUE GRENZE ein echter Genuss – für Bayern
mit Faible für sozialrealistische Milieustudien ein Albtraum. Aber,
mal ehrlich, wen interessiert, was die Bayern wollen? Die haben jüngst
mit WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT ihren eigenen Humor auf
großer Leinwand ausgebreitet. Und das überaus erfolgreich.
Dann sollen die Nordlichter doch auch mal was zu lachen haben, oder?
Ausstattung:
Die DVD ist neben 102 Minuten Film mit reichlich Extras
bestückt, die einen umfassenden Einblick Hinter die Kulissen von
Film und Macher geben. So gibt es etwa einen durchaus charmanten Audiokommentar
des Regisseurs oder ein beinahe halbstündiges, aufschlussreiches
Interview mit Till Franzen, das deutlich macht, dass DIE BLAUE GRENZE
ein Herzensprojekt war. Hinzu kommen ein Making of, Deleted Scenes, Kinotrailer
und einige Texttafeln mit Schauspielbiographien und die geographische
und gesellschaftliche Bedeutung der „Blauen Grenze“.
Kerstin Krieg
|