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Masse - Religion - Gewalt
Neue Publikationen von Jean Baudrillard und René
Girards bei Matthes & Seitz Berlin
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Der französische Soziologe Jean Baudrillard war
Zeit seines Lebens ein Verführer. In späteren Schriften betonte
er dies selbst, nachdem er seit 1979 die 'séduction' zu einem seiner
Schlüsselbegriffe und seiner schillerndsten Denkfigur gestaltet hatte.
Retrospektiv lässt sich kaum ein Text von Baudrillard unabhängig
von diesem Modell lesen, denn so funktioniert seine Argumentation: Als
mitreißender Rausch der Verknüpfungen, die den Gegenstand strudelartig
umkreisen, um schließlich kaum einen Ausweg zu lassen. So funktioniert
auch ein weitgehend vergessener Text von Baudrillard, "Im Schatten
der schweigenden Mehrheit oder Das Ende des Sozialen", den der Berliner
Matthes & Seitz-Verlag nun in der kleinen Schriftenreihe erneut zugänglich
macht.
Ob "Im Schatten" nun eine der "konzisesten
und wichtigsten Abhandlungen" (Stephan Günzel) des Autors ist,
mag man diskutieren, es ist aber erstaunlich, wie erschreckend aktuell
und radikal diese Ideen noch heute sind: Es geht Baudrillard hier um die
Macht der Masse, die er als den Endpunkt des Politischen und Sozialen
begreift, als ein alles absorbierendes und zur Implosium drängendes
"schwarzes Loch". Damit steht er noch heute (oder wieder) in
einem radikalen Widerspruch zur idealistischen Linken, denn er gesteht
der Masse keinerlei poltisches 'Bewusstsein' oder gar revolutionäres
Potential zu: "Die Masse absorbiert alle soziale Energie, ohne irgendetwas
davon zu reflektieren. Sie absorbiert alle Zeichen und allen Sinn, gibt
aber nichts zurück. Sie absorbiert alle Botschaften und verdaut sie.
Auf alle ihr gestellten Fragen gibt sie eine tautologische und zirkuläre
Antwort. Sie beteiligt sich nie." (S.34-35) Sie sei "die Umkehrung
jedes Sozialismus" (S. 57). Solch radikaler Deutlichkeit bedient
sich heute keiner der gehypten oder selbsterklärten Debattenführer,
obwohl der Schatten der "Spaßkultur" auch über dieser
Idee einer schweigenden Mehrheit liegt.
Ungeachtet anderer Totalitarismusmodelle, die in der vermeintlioch
führbaren Masse einen Hort der (positiven) Veränderungen sehen
wollen, bleibt Baudrillard hier pessimistisch, den "die Masse schweigt,
wie Tiere schweigen" (S. 35). Daher kann man die Masse nur testen,
nie jedoch auf eine klare Antwort hoffen. Diese Idee vom Ende des Sozialen
ziele letztlich auf eine "Pataphysik des Sozialen, die uns die ganze
lästige Metaphysik des Sozialen endlich vom Hals schaffen würde."
(S. 41) Schließlich begreift der Autor die Masse selbst als ein
Medium, allerdings auch hier: ein Medium, das andere Medien absorbiert
und vereinnahmt. Daraus entsteht das Gegenteilt vom modernen Diktum der
Individualität: die "Hyperkonformität" (S. 48ff.).
Ab Seite 56 kommt Baudrillard auch auf "Masse und Terrorismus"
zu sprechen, was seinem Aufsatz endgültig Kontinuität verleiht,
wobei er auch hier keinerlei revolutionären Impuls am Werk sieht,
denn "für den blinden, nicht repräsentativen, sinnentleerten
Charakter des Terrorakts gibt es kein anderes Äquivalent als das
blinde, sinnentleerte, nicht repräsentierbare Verhalten der Massen."
(S. 60) Neuere Filme über den Terrorismus wie CARLOS von Olivier
Assayas scheinen diesen Blick auf den Terrorismus zu teilen, der kein
politisches Statement sein kann, sondern gerade in der Verneinung aller
Werte und Institutionen bestehe - und letztlich ohnehin nur durch die
Schockwellen in den Medien deutlich werde. Übertroffen werde er noch
von der Naturkatastrophe, die zum "mythischen Ausdruck der Katastrophe
des Sozialen" (S. 66) werde. Solche Ideen von 1978 erscheinen geradezu
unheimlich angesichts aktueller Entwicklungen (2010) und wurden von Baurillard
selbst nach dem Anschlag von 11.9.2001 wiederholt.
Ergänzt wird der kleine aber höchst lesenswerte
Band durch ein Nachwort von Stephan Günzel, das auf dem kürzlich
erschienen Sammelband "Baudrillard fassen" (2009) basiert und
einige interessante Bezüge (u.a. zu Karl Marx und Ernst Jünger)
herausarbeitet. Und angesichts des umfassenden Fatalismus' der vorliegenden
Thesen, die der Masse alle jene Qualitäten absprechen, die noch Wilhelm
Reich (in einem negativen Sinne) darin zu erkennen glaubte: ein "Massenbegehren,
geführt zu werden." Wenn schon kein Theorem, so ist das zumindest
die Basis eines nicht zu vergessenden Diskurses...
Eine geradezu frappierende Ergänzung zu diesen Thesen
bildet die von Wolfgang Palaver herausgegebene Beitragssammlung "Gewalt
und Religion. Ursache oder Wirkung?", die Aufsätze und Gespräche
mit dem französisch-amerikanischen Kulturwissenschaftler René
Girard enthält, die um das Bedingungsverhältnis von Religion
und Gewalt kreisen (auch hier lauert der Terrorismus um die Ecke, wird
aber recht spät im Text erst zum Thema). Girard wurde berühmt
durch seine Untersuchung "Das Heilige und die Gewalt", wo er
seine elementaren Thesen vom 'mimetischen Begehren' der Massen, der Gewalt
des Opfers, der Sündenbockmechanismen und des apokalyptischen Denkens
bereits entwickelt hatte. Für Girard ist die Entstehung von Opferriten
kulturstiftend, und der Opfermechanismus selbst durch den mimetischen
Impuls der Menschen zu erklären: durch (symbolische) Nachahmung streben
sie nach der zyklisch wiederholbaren Neukonstitution ihrer Gemeinschaft.
Und während in heidnischen Kulten das Opfer noch selbst als 'schuldig'
begriffen wird, ist das in den großen monotheistischen Relgionen,
namentlich dem judeo-christlichen Bereich, einer Verschiebung gewichen:
hier ist das Opfer unschuldig, die Perspektive verschiebt sich von den
Opfernden auf das Opfer selbst.
In zwei langen Gesprächen nähert sich Palaver
Girards Theorien an, auch andere Schriften kommen hier zur Sprache, speziell
aus der Weltliteratur. Das gibt Girard die Möglichkeit, seine differenzierte
Opfertheorie auch an westlichen Kulturgütern zu beleuchten (u.a.
an Goethes "Wahlverwandtschaften"). Es wird deutlich, wie nah
sich Girard Nietzsche fühlt, auch wenn der letztlich entschieden
habe, auf der Seite des Opfernden und damit der Mythologie zu bleiben
(S. 53ff.). Hier sieht Girard auch einen Schlüssel zur Deutung des
'totalitären Heidentums' etwa im Nationalsozialismus (S. 56ff.).
Die Sündenbockmechanismen dagegen sind Teil des Sozialen
geworden, wenn auch in Transformationen - hier ergänzt sich das Modell
mit Baudrillards Idee von der Masse 'die sich selbst genügt', die
nach Girard 'mimetisch' agiert und daher das Nichtkonforme ausgrenzt und
zum potentiellen Opfer (Sündenbock) erklärt, das im Akt des
kollektiven Opferritus' die Gemeinschaft rekonstituiert. Den Terrorismus
sieht Girard nicht als direkte Folge des Monotheismus, sondern als "Entfesseln
einer lange unterdrückten Grausamkeit, unterdrückt nicht durch
Christlichkeit, sondern durch die schlimmere Grausamkeit nominell christlicher
Mächte. Der Terrorismus ist nur möglich, wenn die potenziellen
Täter Gelegenheit haben, sich zu opfern, um andere zu töten."
(S. 79) Wichtig sei nach Girard immer wieder - auch im Islam - wie mythische
Schüsseldramen von Opferhandlungen interpretiert werden (etwa Abraham
und Issak): "Ob das Opfer unschuldig oder schuldig war, und ob sich
der Standpunkt des Mobs oder der des Opfers durchsetzt." (S. 80)
Der Verlag Matthes & Seitz Berlin knüpft mit
seiner Taschenbuchreihe, in der auch diese beiden Bände erschienen
sind, an eine weitgehend vernachlässige Tradition der intellektuellen
Kultur an: die Debatte, die durch essayistische Akzente in ihrem Diskurs
stimuliert wird. Bleibt zu hoffen, dass diese Akzente möglichst viel
Gehör finden.
Marcus Stiglegger
http://matthes-seitz-berlin.de
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